Bert Brecht fasste im „Einheitsfrontlied“ einen grundlegenden Gedanken des Marxismus zusammen:

„Und weil der Prolet ein Prolet ist
Drum kann ihn auch kein Anderer befrei’n
Es kann die Befreiung der Arbeiter nur
Das Werk der Arbeiter sein.“

Und auch beim Singen der „Internationale“ wird den Massen die zentrale Rolle bei der Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung zugeschrieben:

„Es rettet uns kein höh’res Wesen
Kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
Können wir nur selber tun!“

Wir streben also die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse an und vertrauen diese Aufgabe niemand anderem an. In normalen Zeiten stellt sich diese Frage nicht. Die Menschen versuchen sich so gut es geht durchs Leben zu schlagen, gehen arbeiten, bemühen sich um den Erhalt ihrer und künftiger Generationen Ware Arbeitskraft und streben nach ein wenig Erholung. Doch an gewissen geschichtlichen Knotenpunkten sind die Massen nicht länger bereit, ihr Schicksal geduldig zu ertragen. Das ist eine wesentliche Bedingung für eine revolutionäre Situation. Im Regelfall wird diese Entwicklung vorangekündigt durch politische Krisen und handfeste Meinungsunterschiede im Staatsapparat und in den Reihen der Eliten. Und auch die Mittelschichten der Gesellschaft sind unzufrieden über den Status quo und sehnen sich nach einem Ausweg aus der Krise.

Die Massen organisieren sich

Unter diesen Bedingungen sehen die Massen nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die reale Chance, die Bühne der Geschichte zu betreten. Ein gemeinsames Element, das nahezu alle Revolutionen ausmacht, ist die Tendenz der Massen, sich selbst zu organisieren. Wie das konkret vor sich gehen kann, lässt sich sehr gut am Beispiel der ersten Revolution in Russland (1905) zeigen, die vom sogenannten Arbeiter-Delegiertenrat (dem Sowjet) geleitet wurde. Leo Trotzki, der selbst einer der wichtigsten Köpfe dieses Rates wurde, beschrieb die Entstehung des Sowjets als objektives Bedürfnis der Bewegung nach einer Organisationsform, die „mit einem Male die zerstreuten, nach Hunderttausenden zählenden Massen umfassen könnte, ohne ihnen viele organisatorische Hemmungen aufzuerlegen, nach einer Organisation, die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinigen, die einer Initiative fähig und automatisch sich selbst kontrollieren könnte“.

Die bestehende, untereinander stark gespaltene Arbeiterbewegung war dazu nicht in der Lage. Sie verfügte über langjährige, erfahrene Kader, die den Massen politisch richtige Losungen geben konnten, aber sie war nicht imstande, die unzähligen ArbeiterInnen, die zum ersten Mal aktiv wurden, „durch ein lebendiges Band einer Organisation zu vereinigen“. Dafür brauchte es eine andere Organisationsform, eine parteilose Organisation, bei der alle mitmachen konnten, die Interesse daran hatten.
Die russischen Sowjets wurden deshalb auf der Grundlage eines größtmöglichen Vertretungsmodus organisiert, wo jeder sich zur Wahl stellen konnte, der das Zeug dafür in sich spürte oder von seinen KollegInnen dafür als geeignet angesehen wurde.

Da diese revolutionäre Bewegung, die mit einer Bittprozession begonnen hatte, nach einigen Monaten die Form eines Generalstreiks annahm, war klar, dass der Delegiertenrat die Form eines Streikkomitees annehmen würde. In den Betrieben waren die ArbeiterInnen zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden konzentriert und im kapitalistischen Produktionsprozess bereits organisiert. Egal welche Weltanschauung sie haben mochten, hier waren sie auf überschaubarem Raum zusammen und konnten sich austauschen. Auf der betrieblichen Ebene konnten sie recht unkompliziert Versammlungen abhalten und ihre Vertretung wählen. Nun mussten sich diese betrieblichen Streikkomitees nur noch im Bezirk, in der Stadt und schlussendlich überregional vernetzen. So entstand aus der Planung und Umsetzung des machtvollsten Mittels, das die Arbeiterklasse zur Verfügung hat, dem Generalstreik, die erste Rätebewegung.
In der Russischen Revolution von 1917 wiederholte sich dieser Prozess auf noch höherer Stufenleiter. Schnell sprang der Rätegedanke auch auf die Soldaten über. Da ähnliche Bedingungen ähnliche Resultate zeitigen, konnte sich die Räteidee in den folgenden Monaten nach russischem Beispiel auf alle kriegführenden Länder Europas ausdehnen. „Alle Macht den Räten“ wurde zur zentralen Losung der revolutionären SozialistInnen in Österreich, in Deutschland, in Ungarn und in Italien.

Doppelherrschaft

In all diesen Fällen entstand aus Massenstreiks in Kombination mit gewaltigen Straßendemonstrationen eine Situation, in der die Arbeiterklasse die Machtfrage stellte und die Macht de facto auch in Händen hielt. Die alten Eliten waren sprichwörtlich ohnmächtig. Der Generalstreik kann die Staatsgewalt handlungsunfähig machen, aber er löst die Frage der Macht nicht, sondern stellt sie erst richtig. So wie die Natur kein Vakuum kennt, so erlaubt auch die Geschichte dauerhaft kein Machtvakuum. Revolutionen zeichnen sich meist dadurch aus, dass plötzlich zwei Machtzentren nebeneinander existieren und wir es mit einer Doppelherrschaft zu tun haben. Während die Regierung versucht, eine staatliche Ordnung im Interesse der herrschenden Klasse zu festigen, haben sich die Räte im Klassenkampf reale Macht angeeignet. Sie regeln den Verkehr, sorgen für Ruhe und Ordnung, übernehmen die Verteilung von Lebensmitteln und Treibstoff, erteilen Genehmigungen.

In den Revolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs entwickelten die linken Reformisten (Karl Kautsky, Max Adler) daraus und unter dem Druck der Ereignisse ein Konzept, das ein dauerhaftes Nebeneinander von Parlament und bürgerlicher Regierung einerseits und Rätebewegung andererseits vorsah. Die Räte sollten eine Art Kontrollfunktion übernehmen und teilweise auch Aufgaben des Staates übernehmen. Diese Rolle sollte den Räten per Verfassung zugeschrieben werden. Friedrich Adler ging sogar so weit, zu behaupten, dass damit der schrittweise Übergang zur „Diktatur des Proletariats“ eingeläutet würde. Wenn es sich dabei nicht um eine bewusste Täuschung der in den Räten organisierten Massen handelte, so war es zumindest eine gefährliche Illusion, getragen von einem völligen Unverständnis für die Entwicklungsgesetze der sozialistischen Revolution.
Die Existenz einer solchen Doppelherrschaft ist Ergebnis eines unversöhnlichen Zusammenpralls der Klassen und ist demzufolge nur in einer revolutionären Epoche möglich. Ein solcher Zustand kann aber seinem ganzen Wesen nach nicht von Dauer sein, denn das Funktionieren der Gesellschaft erfordert auf die eine oder andere Art und Weise eine klare Entscheidung, welche Klasse die Macht ausübt. Entweder gelingt es der Arbeiterklasse, die politische Macht zu erobern, oder die herrschende Klasse wird ihre Kräfte neu organisieren und zurückschlagen.

Alle Macht den Räten

Dieser Slogan wurde erstmals von Lenin 1917 in seinen „Aprilthesen“ formuliert. Welche Bedeutung hat aber diese Losung?
Die Räte sind in einer Revolution das beste Organisationsmodell, um die Energie der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unabhängig von politischen Präferenzen oder Weltanschauungen zur Geltung zu bringen. Das heißt aber nicht, dass Parteien und politische Strömungen in den Räten keine Rolle spielen. In den Massenversammlungen der Räte werden diejenigen ArbeiterInnen eine zentrale Rolle einnehmen, die ein charismatisches Auftreten haben, rhetorisch sich hervortun und die eine Perspektive aufzeigen können, wie die Bewegung ihre Ziele durchsetzen kann. Eine Revolution ist von ihrer ganzen Dynamik her geeignet, dass völlig neue Schichten, die sonst indifferent sind, zu politischem Leben erweckt werden und Verantwortung übernehmen. Aber oft werden langjährige AktivistInnen, die schon seit geraumer Zeit politisch oder gewerkschaftlich organisiert sind, eine wichtige Rolle spielen. Sie bringen die Erfahrung mit, Diskussionen zu beeinflussen, sie haben eine Organisation im Rücken, die die Ideen und Ressourcen hat, schnell auf die Bewegung einzuwirken. So werden die Räte zu einem Forum des politischen Wettstreits zwischen reformistischen und revolutionären Ideen.
In Russland, Deutschland und Österreich hatten die reformistischen Kräfte anfangs ganz klar die Mehrheit in den Räten. Diese lehnten aber die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse ab und schenkten die Macht, die auf der Straße lag, den Bürgerlichen. Als Lenin „Alle Macht den Räten“ schrieb, dann meinte er, dass die ReformistInnen mit den Bürgerlichen brechen sollten und gestützt auf ihre Mehrheit in den Räten die Macht übernehmen sollten. Die Revolutionäre würden dann auf der Grundlage der weitest möglichen Rätedemokratie (jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der MandatarInnen, Rechenschaftspflicht) in den Räten um die Mehrheit kämpfen. Genau das war die Taktik der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki in der Revolution von 1917. Erst als sie durch geduldiges Erklären die Mehrheit in den Sowjets erobert hatten, organisierten sie den Aufstand. Dies gelang ihnen, indem sie die zentralen Bedürfnisse der Massen in griffige Slogans fassten: Brot, Land, Frieden!

Die historische Erfahrung zeigt, dass die sozialistische Revolution umso friedlicher vonstattengeht, je erfolgreicher die politische Vorarbeit gelungen ist und die Kräfte des Gegners neutralisiert werden konnten. Das Ziel ist aber die Zerschlagung des alten Staatsapparates „der Wenigen“ und die Errichtung einer neuen Herrschaft durch „die Vielen“.

Revolutionäre Organisation

Damit die revolutionären Kräfte diesen Wettstreit der Ideen und Konzepte gewinnen können, brauchen sie eine starke Organisation, die es mit der Bürokratie der traditionellen Gewerkschaften und Parteien aufnehmen kann. In Russland existierte eine solche Organisation in Form der Bolschewiki, die zwar zu Beginn der Revolution ebenfalls noch relativ klein waren, die aber über eine langjährige Tradition und doch eine große Zahl an Persönlichkeiten verfügte, die in der Praxis den Unterschied ausmachten.
In Deutschland und Österreich war diese Vorbereitungsarbeit nie in dem Ausmaß erfolgt, wie in der russischen Arbeiterbewegung. Die Folgen waren fatal und führten zum völligen Scheitern der Revolution, was Unzähligen der besten Söhne und Töchter der Arbeiterklasse das Leben kostete.

Heute reifen erneut Bedingungen für eine sozialistische Revolution heran. Die Lehren der Geschichte können bald schon wieder sehr relevant werden. Die Wichtigste ist, dass wir dann politisch gut vorbereitet sein und über eine revolutionäre Strömung mit einer festen Verankerung in Betrieben, Arbeitervierteln und der Jugend verfügen müssen.


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