In der überwältigenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung herrscht politische Apathie. Bestenfalls äußert man sich zynisch über Klebstoff. Dieser geht auch der Gesellschaft im Allgemeinen aus.
Die wieder verschobene Bundespräsidentenwahl legt das Komödiantenschauspiel der hohen Politik selbst für die hinteren Sitzreihen offen zutage. Wie weggeblasen waren Zuspitzung und inhaltliche Differenzen. Der neoliberale Professor Alexander Van der Bellen gab in der ZIB 2 als Erster einen Einblick in seinen scheinbar plötzlichen Sinneswandel: Er steht für die Anerkennung der geopolitischen Rolle des „Pufferstaates Türkei“ und seiner Regierung. Es kommt von ihm kein Nein zur Notstandsgesetzgebung, er warnt vor Wanderungsbewegungen aus antisemitisch und sexistisch geprägten Regionen (also vor den syrischen Kriegsflüchtlingen). Er ist für eine nationale Flüchtlingshöchstgrenze. Die polarisierende Frage nach einer etwaigen Nicht-Angelobung eines FPÖ-Kanzlers wird ihm auffällig penetrant von keinem Medium mehr gestellt. Spiegelgleich dann der rechte Kandidat Norbert Hofer: Das Ausreizen der verfassungsmäßig garantierten Rechte des Bundespräsidenten („Sie werden sich wundern, was alles gehen wird.“) nimmt er bedauernd zurück. Er ist jetzt der nette Kerl, was parteiübergreifend eine ganze Latte an Bürgermeistern bezeugen könnte. Österreichs EU-Mitgliedschaft will er nun auch nicht mehr in Frage stellen.
Beide Kandidaten haben den Ruf des Kapitals nach einer Entpolarisierung rund um diesen politischen Nebenschauplatz verstanden und sich gehorsam untergeordnet. Wegen des Klebstoffs musste die sorgsam komponierte Wahlkampfchoreographie einmal mehr unterbrochen werden. Damit wurde auch die für Oktober angesetzte Regierungskrise in die stille Jahreszeit verlegt.
Im VfGH hat derweil mit Johannes Schnizer ein Richter seine Nerven weggeschmissen und öffentlich kundgetan, dass er eine politische Meinung hat. Dies wird als „Beschädigung einer Bastion von innen“ (Die Presse, 30. 9.) angegriffen. Der Staatsapparat und insbesondere die Gerichtsbarkeit dürfen keinesfalls in den Geruch kommen, dass es sich auch hierbei nur um eine von Menschen geschaffene und ausgeübte Tätigkeit im Sinne der Regimestabilität handelt.
Diese Suche nach Stabilität wird derzeit vor allem politisch vorangetrieben. Neben der Notstandsgesetzgebung wird zeitgleich ein Krisenkabinett eingerichtet, Geheimdienste, Polizei und Bundesheer flottgemacht. Die „Wahrung von Sicherheit und Ordnung im Inneren“ ist das Leitmotiv der demokratischen Ab- und der militärischen Aufrüstung. In Zukunft kann ein Kreis von 28 handverlesenen ParlamentarierInnen und sechs Regierungsmitgliedern die Demokratie der Zweiten Republik aussetzen. „Wir brauchen eine Schärfung der Wahrnehmung für die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft. Die Regierung legt einen Plan vor, wie sie gedenkt, diese Verwundbarkeit zu minimieren“, macht der liberale „Standard“ als linker Flügel der gutbürgerlichen öffentlichen Meinung Stimmung für die innere Aufrüstung.
Das Ziel dieses strammen anti-demokratischen Kurses der Großen Koalition ist es, die Defensive der Arbeiterbewegung voll auszuschöpfen, die Demoralisierung all jener, die an einem Gegenentwurf einer solidarischen Gesellschaft festhalten, voranzutreiben. Die SPÖ-Führung trinkt diesen Kelch bis zur Neige. Historisch die Partei der Arbeiterbewegung, offenbart sie, dass ihr Apparat jede Perspektive abseits der Stabilität von Staat und Standort verloren hat. Dies ist kein spezifisches Phänomen Österreichs, sondern ein europaweites Faktum. Die Erfahrung der internationalen Arbeiterbewegung in der Epoche der Krise zeigt dabei folgende Perspektive für die Sozialdemokratie an: Entweder ein Bürgerkrieg um die Natur der Partei wie in Großbritannien oder sie wird für die ArbeiterInnen nutzlos.
Der Putsch des bürgerlichen Parteiestablishments gegen den populären neuen Vorsitzenden der Labour Party Jeremy Corbyn scheiterte an einer grandiosen Massenmobilisierung, die zu einer politischen Wiederbelebung der Partei führte. In Spanien war es eine rein taktische Haltung, die den Vorsitzenden Pedro Sanchez dazu anhielt, dem gehassten konservativen Mariano Rajoy eine neue Amtsperiode zu verweigern. Unter dem Slogan „Erst kommt der spanische Staat, dann die Partei“ wurde Sanchez vergangenes Wochenende vom rechten Parteiflügel weggepuscht, der Weg zu einer neuen Regierung der Spardiktatur damit frei gemacht.
Die SPÖ wird sich ihrer pro-kapitalistischen Nibelungentreue zum Trotz bald in der Opposition wiederfinden. Nach fast zehn Jahren Unterordnung von Arbeiterinteressen unter Kapitalinteressen in der Großen Koalition ist die Partei programmatisch völlig verbraucht. Die AktivistInnen haben in Scharen die Partei oder zumindest die aktive Beteiligung in ihr hinter sich gelassen. Die SPÖ-Führung kann damit die Arbeiterklasse immer weniger unter die Kapitalinteressen unterordnen, was derzeit nur durch die allgemeine Demoralisierung und Perspektivlosigkeit verdeckt wird. Indem sie die Dynamik des Klassenkampfes besser verstehen als die ReformistInnen, ist aus Sicht der österreichischen Banken- und Industriekapitäne damit auch die Berechtigung einer Regierungspartei SPÖ beendet. Sie lassen sie daher fallen und werden auf eine Bürgerblockregierung setzen, die diese Demoralisierung der Arbeiterbewegung für große Angriffe auf alle Errungenschaften des Sozialstaates nutzen soll.
In Bad Ischl feiern die Sozialpartner sich derweil noch selbst. „Sogar als sehr gut schätzen die Präsidenten den Zustand der Sozialpartnerschaft ein. Den Kritikern richtete ÖGB-Präsident Erich Foglar gleich einmal aus, dass diese einmal sagen sollten, was denn die Alternative zur Sozialpartnerschaft sei. Immerhin sei diese so etwas wie der Vertrauensanker in der österreichischen Bevölkerung, argumentierte Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl. (…) ,Geht es der Sozialpartnerschaft gut, geht es allen gut‘, so Kaske in Anspielung auf einen von Leitl gerne gebrauchten Slogan der Wirtschaftskammer“ (APA, 29. 9.).
Hier spricht das Ancien Régime, Hauptamtlichenapparate, denen die soziale Basis wegschmilzt. Die Unternehmer haben längst keine Lust mehr auf reale Kompromisse. Sie wollen ihre Diktatur über die Arbeitsverhältnisse durchsetzen. ÖGB-Präsident Erich Foglar teilte mit, dass auch ihm nicht neu sei, dass es Unzufriedene in der Arbeiterklasse gebe, aber mehr als ein bedingungsloses Festhalten am Status quo fällt ihm dazu nicht ein. Die Führung der Arbeiterbewegung geht offenen Auges und ohne Rüstung in die kommende Klassenauseinandersetzung.
Wir akzeptieren diesen Kurs der selbst gewählten Kapitulation der ReformistInnen ebenso wenig wie die alternativlose Demoralisierung einiger „Linker“, deren einzige Aktivität im Beklagen des Status quo besteht. Nur wenn wir auf die kommenden Auseinandersetzungen vorbereitet sind, können wir gewinnen. Die Tage der Ruhe sind angezählt. Unterstütze die revolutionären MarxistInnen, schließ dich uns an, hilf mit beim Aufbau einer sozialistischen Alternative!
Wien, 4. Oktober 2016
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Metaller wollen 3 %
- SPÖ: Was wurde aus „Team Haltung“?
- Betrieb & Gewerkschaft
- Zumtobel: Geopfert für Rendite
- Bildung: BIT kündigt BetriebsaktivistInnen
- Italien: Kapitalismus wird immer brutaler
- Gesundheitsbereich: Der ÖGB am Ende?
- Schwerpunkt: Österreich
- Notstand, Sicherheit & Ordnung
- Im Namen von Ruhe und Ordnung
- Wir über uns
- M.I.A.U. - Marxistische Initiative an Unis
- Sommerspende 2016
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- Theorie
- „Das Kapital verstehen“ Teil 5: Der tendenzielle Fall der Profitrate
- International
- Italien: Der nächste Krisenherd
- Ein Streik, der ganz Indien lahmlegte
- Großbritannien: Einheit trotz Uneinigkeit?
- USA: Black Lives Matter
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