Um die gesellschaftliche Isolation zu durchbrechen ringen PolitikerInnen jeder Couleur um griffige Themen, die ihre Perspektivlosigkeit verschleiern sollen. Doch die Chaotisierung der politischen Verhältnisse im globalen Maßstab ist nicht mehr aufzuhalten.
Die Grundlage dafür ist die wirtschaftliche Krise und die daraus entstehende Entglobalisierung. Diese manifestiert sich im stagnierenden Welthandel und Handelskonflikten zwischen den großen Mächten China, den USA und auch der EU. Der Austritt Großbritanniens aus der EU und Trumps Präsidentschaft sind nur die Spitzen des Eisberges. In vielen Ländern der exkolonialen Welt wird der Kampf um imperialistische Vormachtstellung in Form von Stellvertreterkriegen ausgetragen, etwa in Syrien und im Irak, in Pakistan und Afghanistan oder im Südsudan.
Der Unterschied zwischen den Parteien in der Frage, ob man auf einen kruden österreichischen Nationalismus oder eine „Europäische Strategie“ setzt, besteht immer mehr nur in Nuancen. Das wird in der Frage des zirkushaften Rummels rund um die Wahlkampfauftritte türkischer PolitikerInnen deutlich. Kern betont die Notwendigkeit eines gesamteuropäischen Auftretens gegenüber der Türkei, Sobotka setzt auf griffigere nationale Slogans. Das Ziel ist für ihn dabei das gleiche wie zuvor, nämlich die Einschränkung des Demonstrationsrechtes und anderer demokratischer Rechte – mit Erdoğan als Projektionsfläche ist das lediglich leichter zu argumentieren, als mit der erlittenen Verkotung seines eigenen häuslichen Vorplatzes. Auf der anderen Seite plädiert FPÖ-Obmann Strache seit neuestem für die Beteiligung Österreichs an einer EU-Armee mit Atomwaffen – und versucht so weiterhin, sich dem österreichischen Kapital, das ein starkes Interesse an der EU hat, als fit für die Regierung zu präsentieren.
Das Kapital hat ein massives Problem. Nach einem Jahrzehnt der Wirtschaftskrise sind die bisher dominierenden politischen Formationen alle in der Krise. Die politischen Kasten aller Länder sind gesellschaftlich extrem isoliert und verhasst. Neue Formationen und Konstellationen entstehen. In einer Situation, die sonst von äußerst unpopulärer Politik in allen Bereichen bestimmt ist, ist der Nationalismus einer der letzten Rettungsanker für „populäre Maßnahmen“ – und untergräbt damit weiter die politische Stabilität des Systems, das eh schon von zahlreichen Widersprüchen zerrissen ist.
Neu entdeckt ist dabei eine Form von Nationalismus, die sich selbst in ein progressives Licht rückt. Vom der Barbarei des islamistischen Terrorismus ausgehend wird antimuslimischer Rassismus begründet, eine Sicherheitsdebatte mit Liberalität und Frauenrechten vermischt. Erdogans Regime erlaubt die Vermischung einer rassistisch konnotierten antitürkischen Stimmung mit der „Verteidigung der Demokratie“ – die in Europa selbst überall beschnitten wird. MarxistInnen verschließen sich jeder abstrakten Debatte über Progressivität. Die imperialistischen Staaten Europas haben eine grausame Geschichte und Gegenwart der Unterdrückung und keinerlei Recht dazu, sich als Zivilisationsbringer aufzuspielen.
Wir werden den ArbeiterInnen und der Jugend in der Türkei natürlich jede Unterstützung zukommen lassen, um ihren Kampf gegen das tatsächlich undemokratische, brutale Erdogan-Regime zu unterstützen. Dazu gehört selbstverständlich auch eine Solidarisierung auf der Straße hierzulande. Doch wir werden auf keinen Fall in den Chor der chauvinistischen, nationalistischen Hetze einfallen, der durch ganz Europa dröhnt. Die Regierungen der EU haben noch vor wenigen Monaten lächelnd die grausamen Flüchtlingsabkommen mit Erdogan abgeschlossen, sie haben geschwiegen, als Erdogan einen brutalen Bürgerkrieg gegen die KurdInnen entfacht hat und sich höchstens „besorgt“ über die Verhaftung tausender Oppositioneller und dem Verbot dutzender Zeitungen und Fernsehsender geäußert. Dieselben Regierungen beginnen plötzlich den „undemokratischen“ Charakter des Erdogan-Regimes zu entdecken. Was für eine Heuchelei!
Der Grund für den plötzlichen Sinneswandel ist ein ganz anderer. Während noch vor kurzem Erdoğans Regime wichtig für die Durchsetzung „westlicher Interessen“ war, bringen die verzweifelten Versuche des Sultans an der Macht zu bleiben, seine Annäherung an Russland und seine destabilisierende Politik in Syrien ihn jetzt immer mehr in Widerspruch zu den früheren Freunden. Das ist die Grundlage für die plötzliche Erleuchtung der „DemokratInnen“ hierzulande – hier ist günstig politisches Kleingeld zu haben, ohne den Kapitalinteressen auf die Füße zu steigen!
Dabei geht es am allerwenigsten um die „Demokratie in der Türkei“. Ganz im Gegenteil: Die nationalistische Hetzte stützt nur die wackelige Herrschaft Erdoğans, der im eigenen Land mit großer Ablehnung für sein Referendum konfrontiert ist (siehe Seite 11). Gleichzeitig wird der Abbau demokratischer Rechte im Inland vorangetrieben – einem Ziel, in dem sich die Regierungen in Europa und Erdoğan durchaus einig sind. So werden etwa in Deutschland die Fahnen der kurdischen YPG verboten, die in Syrien gegen den IS kämpft! Bei Angriffen auf die Arbeiterklasse und ihre Rechte passt trotz des nationalistischen Theaters kein Blatt zwischen die Herrschenden und ihre politischen Lakaien der verschiedenen Länder.
Unter dieser Deckung wird in zweiter medialer Reihe die Inszenierung der Gewerkschaften als „Arbeitsplatzvernichter“ ganz nebenbei in Österreich zu einem Thema gemacht. Angefangen wird dabei mit einem anwachsenden medialen Trommelfeuer der Bürgerlichen und ihrer politischen Kaste, bei dem „arme Selbständige“ als Stoßtrupp mobilisiert werden (Siehe Seite 3). Aber die Interessen der Bürgerlichen wirken bis weit in die Sozialdemokratie hinein – wachsende Propaganda von den Gewerkschaften als „Bremsen“ auf der Entwicklung findet auch hier statt, um den Bürgerlichen ihre „Regierungstauglichkeit“ zu präsentieren.
Während also in Österreich und ganz Europa das Gift des Nationalismus zum politischen Grundnahrungsmittel für die Massen umetikettiert wird, wird gleichzeitig ein zukünftiger Großangriff vorbereitet, um Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse und der Jugend auf ein dem Kapital genehmes Maß noch weiter herunterzudrücken. Wir rufen deswegen den VertreterInnen des Kapitals zu: „Wir haben euch durchschaut!“ und antworten dem nationalistischen Getöse mit dem Ausspruch des deutschen Revolutionärs Karl Liebknecht, der im blutigen Gemetzel des 1. Weltkrieges mutig proklamierte: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“
Wien, 17. März 2017
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Kern und die (beiden) starken Männer
- Murkraftwerk: Profitmacherei auf Kosten von Mensch und Natur
- Betrieb & Gewerkschaft
- Der Druck auf den ÖGB steigt
- Arbeitsrecht: Der Angriff rollt wie gewaxt
- Metall: Produktivitätssteigerung um jeden Preis
- Postler aller Basen, versammelt euch!
- Theorie
- Neuerscheinung: Lenin und Trotzki - wofür sie wirklich kämpften
- Schwerpunkt
- Gewalt gegen Frauen stoppen - Eine internationale Bewegung auf der Suche nach Revolution
- Unsere Revolutionäre Tradition: Konkordija Nikolajewna Samoilowa
- Wir über uns
- IMT: Enthusiasmus bei der Marxistischen Winterschule
- Das war das Brot & Rosen Seminar
- Russland 1917: Der Zar ist gestürzt! Was nun?
- International
- Podemos: Klarer Sieg für die Linke
- Streik in Florianópolis - Siegreich voran!
- Brot-Unruhen in Ägypten: Wuttendenz steigend
- Türkei: Hayır – Nein zu Diktatur und Kapitalismus!
- Die Krise in Frankreich und die Präsidenschaftswahlen
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