„Größtes Reformprojekt der Geschichte“, so bezeichnet Bundeskanzler Kurz seine Zerschlagung der Sozialversicherung, „Regierung der Industriebosse“ kontert ÖGB Präsident Foglar. Beide haben recht, doch entscheidend ist: wer setzt sich in diesem Konflikt durch?
Download für Online-AbonnentInnen (PDF):
Die historisch von der Gewerkschaftsbewegung getragene und kontrollierte Sozialversicherung soll gekapert und unter die Kontrolle der Kapitalfraktion der Republik gestellt werden. Dies ist ein massiver Raubzug, eine Enteignung von gesellschaftlichem Reichtum, der täglich von den arbeitenden Menschen geschaffen wird. 61,7 Mrd. € betrug der Umsatz der Sozialkassen im Jahr 2017. Der Hauptteil dieser Einnahmen wird direkt durch die Arbeit der Lohnabhängigen bezahlt, durch die Lohnabgaben, die am Lohnzettel ausgewiesen sind, beziehungsweise aus jenen Lohnbestandteilen, die als Dienstgeberabgaben nur in der Firmenbuchhaltung aufscheinen. 83 % des Finanzaufkommens von über 60 Mrd. werden so aufgebracht. 10 % der Einnahmen stammen aus Ersatzleistungen des Bundesbudgets, womit die Kassen für politisch vom Gesetzgeber gewollte Ausgaben entschädigt werden, 7 % werden durch sonstige Quellen gespeist, u.a. aus Anlageerträgen. 97 % dieser Einnahmen werden in Leistungen umgewandelt, als Pensionszahlung an PensionistInnen (41,5 Mrd. im Jahr 2017), an Kranke in Form von medizinischen Leistungen und Krankengeld (Krankenhäuser, Arzthonorare, Medikamente, Diagnostik, Krankengeld, Mutterschaftsleistungen; insgesamt 18,5 Mrd. im Jahr 2017), Unfallbehandlungskosten, Rehabilitation und Prävention ließen wir uns mit 1,7 Mrd. kosten.
Der Verwaltungsaufwand der Sozialversicherungen, das (Lügen-)Argument der Kurzschen Regierung der Reichen beträgt weniger als 3 %, das ist mindestens 5 mal effizienter als die Aufwendungen der profitorientierten privaten Versicherungskonzerne. Finanzminister Löger aus der Raiffeisen-Versicherung UNIQA weiß darüber genauestens Bescheid.
Nach einer erfolgreichen Enteignung der Arbeiternehmergelder wird die Regierung daran gehen Leistungen zu kürzen und profitable Sektoren zu privatisieren. Haben die Bürgerlichen erst mal die volle Kontrolle über unsere Gelder ist dies ein leichtes. Die losgeeisten Sozialgelder sollen für die „Lohnnebenkostensenkungen“ freigemacht werden, also den kommenden Lohnraub vorbereiten.
Werden nun durch die Enteignung der Sozialversicherungen ans Kapital die Voraussetzungen geschaffen von oben Lohnbestanteile konstant zu klauen, wird durch die Verarmungs-Politik der schwächsten Teile der Arbeiterklasse der Arbeitsmarkt von unten erodiert. Die Kürzung der Mindestsicherung, die im Herbst kommende Abschaffung der Notstandshilfe und die Einführung einer „Arbeitslosenversicherung neu“ sind unter diesem Licht zu sehen. Wird der Verdrängungswettbewerb am Arbeitsmarkt angeheizt, dann purzeln die Löhne und Arbeitsbedingungen ganz von selbst. Und um ganz sicher zu gehen, dass die Löhne gedrückt werden, wird die Arbeitszeitbegrenzung angegriffen, der 12 Stunden Tag wird zur Normalität.
Es ist erfreulich, dass der ÖGB die Regierung nun als das benennt was sie tatsächlich ist: das ausführende Organ der Großindustriellen. Doch was wir bisher vermissen ist, dass alle notwendigen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.
Nach unserer Auffassung kann das unmittelbare Ziel nur die völlige Ablehnung und das Zurückschlagen der Regierungsvorlage sein. Eine solche klare Ansage aus den Führungsetagen der Arbeiterorganisationen vermissen wir bisher. Die Hauptklage ist stattdessen, nicht mit am Tisch sitzen zu dürfen. Ist die ÖGB-Führung bereit eine in 150 Jahren erkämpfte und verteidigte weitgehende Kontrolle der Arbeiterbewegung über unsere Gesundheitsfinanzierung zum Spielball von zweitrangigen Interessen zu machen? Wir wollen es nicht glauben. Die kommenden Gewerkschaftstage bieten jedem und jeder Delegierten die Möglichkeit die Frage aufzuwerfen und zur Abstimmung zu stellen: Gibt die Führung der Arbeiterbewegung das Signal zum bedingungslosen Abwehrkampf gegen die egoistischen Interessen der Großindustrie? Es ist notwendig diese Debatte konkret zu führen.
Bisher tagte dazu eine „Bundeskonferenz der Fachgewerkschaften“, doch es gab kein klares Signal. Das Wort „Streik“ wurde in den Reden gemieden wie vom Teufel das Weihwasser. Auch die Presseaussendungen der Gewerkschaftszentralen weichen der Frage des klaren Ziels und wie dies zu erreichen ist bisher aus. Der ÖGB etwa verlautbart nach der genannten Sitzung: „Die Resolution, die von der Konferenz verabschiedet wird, droht der Regierung Widerstand an, wenn der soziale Friede leichtfertig aufs Spiel gesetzt werde. Zunächst wollen die Gewerkschaften Aufklärung zu Falschinformationen betreiben. Wenn notwendig, wird man in ganz Österreich auch Belegschaftsvertretungskonferenzen einberufen.“ Der designierte ÖGB Vorsitzende Wolfgang Katzian fordert in seiner Rede eine „Verhandlung auf Augenhöhe“. Wir nehmen diese Beziehungsprobleme zur Kenntnis, aber in erster Linie interessiert unsere zukünftige medizinische Versorgung.
Ein Grundproblem lautet: die Organisationen der Arbeiterklasse haben kein eigenständiges von den Bürgerlichen unabhängiges Programm. „Man kann gegen die Finanzmärkte nicht regieren“, dieses Motto leitet die Führer der Arbeiterorganisationen Tag und Nacht. Doch gut ist für Finanzmärkte nie gut genug, der tatsächliche Spielraum für „vernünftige“ Politik ist daher immens klein.
Unsere Spitzen isolieren sich von der Lebensrealität der breiten Masse der KollgInnen in Ausschüssen und Kollektivvertragsrunden (und beim klassenübergreifenden Plausch beim Heurigen – der bevorzugten Art der politischen Auseinandersetzung des designierten ÖGB-Präsidenten Katzian mit dem Klassengegner). Sie gewöhnten sich daran, Politik als etwas anderes zu verstehen als das was sie tatsächlich ist: ein Prozess lebendiger gesellschaftlicher Kräfte, ein Ringen unterschiedlicher Interessen in der Gesellschaft, unterschiedlicher Klassen. Dort die Profitinteressen des Kapitals und seiner Regierung - hier die Lebensinteressen der Arbeiterklasse. In ihrer Isolation unterschätzen sie die tägliche Erfahrungswelt der Arbeiter und Arbeiterinnen als Quellen gemeinsamer Erfahrungen, die sich zu solidarischen politischen Einsichten und Programmen verdichteten lassen. Sie vertrauen stattdessen auf Medien und Umfragen, die die Migration zum zentralen Problem erheben.
Der Entfremdungsprozess zwischen den Führungen der Arbeiterklasse und ihrer sozialen Basis ist kein Zufall und kein individuelles Versagen. Wer die Idee hat, dass Politik darin besteht eine über der Gesellschaft, aber tatsächlich existierenden, schwebenden Vernunft einzufangen und in Gesetze zu formulieren, der erhebt sich selbst gezwungener maßen über die Arbeiterbewegung hinaus und unterwirft sich der „Kraft des Faktischen“ in der Gesellschaft, der Kraft, die sie heute kontrolliert: Dem Kapital.
Es gilt diese Wochen zu nützen um unter den ArbeitskollegInnen, der Jugend und den Delegierten der Gewerkschaftskongresse die Frage der Verteidigung der Sozialversicherung konkret zu stellen: Unsere Gesundheit oder ihr Profit? Wir plädieren für einen harten Abwehrkampf gegen die Profitgier, bei dem ohne angezogene Handbremse die volle Kraft der Arbeiterbewegung mobilisiert wird – lasst uns den Arbeitskampf zügig vorbereiten!