Scheitern in der Pandemiebekämpfung, Korruption, Parteien in der Dauerkrise, wöchentliche Massendemos: Österreich ist einer der politisch instabilsten Staaten Europas.
Namhafte JournalistInnen verbreiten auch im Abgang von Sebastian Kurz offensichtliche Unwahrheiten. Die journalistischen Nebelwände verschleiern die realen Verhältnisse. Diese sind leicht ausgesprochen: die türkis-grüne Regierung ist gescheitert. So absolut und (selbst)zerstörerisch wie noch keine Regierung der 2. Republik.
Er sei jetzt weg, da ein väterlicher Impuls ihn zwingt, stundenlang sein Neugeborenes zu betrachten, so Sebastian Kurz. Diese Selbstinszenierung wird von der „Presse“ tatsächlich zum Ausgangspunkt ihrer Analyse genommen:
„Initialzündung für die Entscheidung war nach eigenen Angaben die Geburt seines Sohnes Konstantin. Das ist nachvollziehbar: Wer das Glück hatte, ein Kind zu bekommen, weiß, wie schlagartig das Prioritäten verschieben und vermeintlich Wichtiges irrelevant erscheinen lassen kann.“
Weniger sentimental beschreibt Kurier-Chefredakteurin Salomon, wie „einer der talentiertesten Politiker Europas“ von einer bösartigen Koalition von „Staatsanwälten samt 'befreundeten' Medien und aggressiven Anklägern aus allen Ämtern geschossen wurde“.
Die Wahrheit ist: 75% der Bevölkerung sagen „Ich misstraue der Regierung“ und nur 57% nennen überhaupt noch eineN KandidatIn unter den Vorsitzenden der Parlamentsparteien dem/der sie eine bessere Amtsausübung zutrauen. (Profil, OGM-Umfrage vom 30.11.)
Dieser Vertrauensverlust ist das Resultat der gescheiterten Pandemiebekämpfung. Die zentrale politische Idee war und ist es, die Profite zu stabilisieren. Dies in einem Ausmaß, dass die Arbeiterkammer eine Profitsteigerung von 2019 auf 2020 von 5,5 Mrd. € errechnet hat. Selbst die NEOS kritisieren staatliche Überförderungen, etwa die Subventionen an Baufirmen im vergangenen Sommer. Die undurchsichtige Covid-19-Hilfen-Finanzierungsagentur COFAG hat ein Budget von 19 Mrd. € zur Verfügung, bisher wurden 14,6 Mrd. ausbezahlt. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit dieser Förderungen beträgt nur zwei Tage. Auch das ist ein Gesicht der Pandemie: ein Selbstbedienungsladen der Superreichen.
Demgegenüber hat die Regierung in 22 Monaten keinen Finger gerührt, um ein sinnvolles gesellschaftliches Leben trotz Pandemie zu ermöglichen. Weder wurden Schulen ausgerüstet, noch wurden das Gesundheitssystem krisenfest er gemacht und besonders die dort Arbeitenden entlastet. Als im Frühsommer Jugendliche auf die Plätze strömten, um in lauen Sommernächten das Leben zu feiern, wurde die Polizei auf sie gehetzt. Nur im „kontrollierten, sicheren Ambiente der Nachtklubs“, also unter Konsumzwang und höchster Ansteckungsgefahr, dürfe man das soziale Leben wieder aufnehmen, so die Politik unisono.
Dabei weckten Regierung und Medien falsche Erwartungshaltungen bezüglich der Wirksamkeit und Wirkdauer von Impfstoffen und Lockdowns. Das Fehlen einer differenzierten und realistischen Debatte über die Pandemie, ihre Folgen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten, nährt latentes Misstrauen gegen „das System“ und untergräbt die gesellschaftliche Bereitschaft zur Impfung zusätzlich. Die Politik ignorierte dies aus demagogischen Gründen und purer Rechthaberei. Schließlich wurde hierzulande ab Juni wiederholt die „gesellschaftliche Pandemie für beendet“ erklärt.
Sebastian Kurz ist also nicht über die strafrechtlich relevanten Aspekte seines Projekts (Korruption) gestolpert, sondern seine ganze Regierung ist an der Realität der Krise zerschellt. Das politische Scheitern offenbarte sich in der Verkündung des Lockdowns und der Impfpflicht am 19. November. Wir sind für die Impfung, aber weiter gegen die Impfpflicht. Denn dieses Gesetzesprojekt schiebt die Verantwortung der Krise einmal mehr auf einzelne. Die Pflicht wird die Pandemie daher nicht beenden, ihre politische Umsetzung und ihre gesellschaftliche Durchsetzung aber wird als weiteres Mittel des Klassenkampfes von oben eingesetzt werden.
Inmitten der Krise muss die ÖVP wieder ihr Regierungsteam, ihren Parteiapparat und ihre politische Message umkrempeln. Die Ernennung einer 27-jährigen Jugendfunktionärin zur neuen Generalsekretärin zeigt an, dass in der ÖVP Chaostage herrschen. Die „türkise Clique“ ist gescheitert und die ÖVP zerfranst sich jetzt in Einzelinteressen. Sie hat keinen „starken Mann“ an der Spitze, der die innerparteilichen Interessenskonflikte ausbalanciert. Die Bürgerlichen, auch jene, die Kurz kritisch beurteilen, sind über den Zustand der Partei unglücklich.
Die Krise der Bürgerlichen wäre für die Arbeiterbewegung perfekt, um breit in die Offensive zu gehen. Die Führungen der Arbeiterorganisationen haben es in der Hand, den Druck koordiniert zu steigern, um die Krankenhäuser und Schulen pandemietauglicher zu machen. Sie könnten einen Prozess der Arbeiterkontrolle anstoßen, um die Pandemiebekämpfung am Arbeitsplatz „von KollegInnen, für KollegInnen“ zu gestalten, sie könnten den Teuerungsausgleich durch gewerkschaftliche und politische Maßnahmen anstreben. Die Herbstlohnrunden, die Proteste des Krankenhauspersonals und der KindergärtnerInnen zeigen, dass die Arbeiterklasse bereit ist, aktiv für die Verbesserung ihrer Lage einzutreten.
Das passiert nicht, weil die Führungen der SPÖ und der Gewerkschaften sich einmal mehr mit Haut und Haaren der „Stabilität“ verschreiben. „Niemand braucht jetzt einen Wahlkampf und Neuwahlen“ diktiert Wiens Bürgermeister Ludwig die Linie. Das heißt im Klartext, dass man die Regierung und ihr Scheitern stützt.
Die FPÖ nutzt das Versagen der Bundesregierung und die Kapitulation der Führung der Arbeiterbewegung, um sich dabei als einzige Oppositionskraft zu positionieren. Dabei verbreitet die Partei obskure Ideen wie selbstgefährdende Medikation und Unwahrheiten über Impfnebenwirkungen. Der Schulterschluss aus ÖVP, Grünen, SPÖ und Neos zur Durchsetzung der Impfpflicht eröffnet der FPÖ auch fern von Schamanen, Hippies, Nazis und religiösen FanatikerInnen viel politischen Spielraum. Die wöchentlichen Massendemonstrationen in Wien, aber auch Linz, Graz, Bregenz, Innsbruck und vielen kleineren Städten, werden von reaktionären Gruppen und Individuen angeführt, aber das gilt nicht für die Masse der DemonstrantInnen, deren wichtigstes Anliegen es ist, gegen das Scheitern der Regierung zu protestieren. Kickl wird dieser Massenstimmung Rechnung tragen, indem er die Kritik an der Impfung an sich zurückstellen und sich als einzige Oppositionskraft gegen eine unterdrückerische Chaos-Regierung inszenieren wird.
Die Verschiebung der politischen Auseinandersetzung auf die Zeit nach Corona (wann soll das überhaupt sein?) ist ein schwerer politischer Fehler, der die Krise der Arbeiterorganisationen vertieft und der Regierung Zeit verschafft, um ihre profitorientierte Politik fortzusetzen. Unsere Kritik richtet sich an die großen Parteien der Arbeiterbewegung ebenso wie an die „radikale Linke“. Wir halten fest: Unsere Gegner sind und bleiben die Konzerne und ihre Regierungen. Wer Corona besiegen will, und alle anderen existenziellen Probleme der Menschheit, der darf den Kampf gegen das Kapital und seine Regierungen jetzt nicht einstellen.
Wien, am 10.12.2021
Aus dem Inhalt:
- Österreich
- Graz: Für eine Offensive
- Schrödingers Schule: Weder offen, noch geschlossen
- Betrieb & Gewerkschaft
- Automatisierte Kündigungen bei Amazon
- Pflege: 5 nach 12 und die Uhr tickt weiter
- Statt Gesundheitsschutz nur Willkür
- Politische Entlassungen: Nur Bosse profitieren
- Handels-KV: Wir haben was zu sagen
- Inmitten von Krise & Personalmangel: Kellogg's will Streikende feuern
- Schwerpunkt: Sudan: Der Prozess einer Revolution
- In eigener Sache
- Warum du beim Funke mitmachen solltest
- Enthusiasmus bei Funke-Konferenz: MarxistInnen in die Offensive!
- Umwelt
- Die Regierungen können das Klima nicht retten: Wir brauchen eine Revolution
- Grüne stoppen den Lobautunnel: PR-Aktion nach Monaten des Klimaversagens
- International
- Deutschland: Corona, Chaos, Krise - die Ampelkoalition wird nichts lösen!
- Ewiges Todesspiel der Imperialisten in Afghanistan
- Soziale Kämpfe am Balkan: Einheit der Arbeiterklasse statt Spaltung
- Wohnungsfrage in den Niederlanden
- Kuba: Rote Halstücher verteidigen die Revolution
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