Die Krise des Kapitalismus bleibt weiterhin ungelöst. Ein Überblick über ihre weltweiten Auswirkungen anhand der Diskussion innerhalb der Internationalen Marxistischen Tendenz (IMT). Von Sandro Tsipouras.

Zehn Jahre nach dem Crash. Die sogenannte „Erholung“ nach dem Crash von 2008 ist die schwächste der Geschichte und der Berg an Staatsschulden, der durch die Bankenrettung angehäuft wurde und durch brutale Sparmaßnahmen wieder abgebaut werden sollte, lastet weiterhin auf der weltweiten kapitalistischen Ökonomie. International wird die Vorherrschaft des US-Imperialismus an allerlei Fronten zugleich vom chinesischen und russischen Imperialismus, aber auch von Mittelmächten wie der Türkei und dem Iran und sogar von einem vollkommen verarmten und mittellosen Land wie Nordkorea zurückgedrängt. Die Hauptbrandherde dieser Konfrontationen befinden sich im Nahen Osten und im südchinesischen Meer.

Die Konfrontationen zwischen den imperialistischen Mächten sind dabei zu einem nicht unbedeutenden Teil von der Notwendigkeit getrieben, die Klassenkonflikte im Inneren ihrer Länder nach außen zu verlagern, sie zu exportieren, um so die Herrschaft der jeweiligen herrschenden Klasse zu stabilisieren. Das erklärt den immer zügelloseren Einsatz von Strafzöllen und Sanktionen von Seiten der USA und Chinas und die prahlerisch-nationalistische Expansionspolitik Russlands.

Doch auch dieser Rückfall in den Protektionismus, also die Umkehrung der Globalisierung und der Rückzug in die nationale Wirtschaft, wird es den herrschenden Klassen der imperialistischen Staaten nicht erlauben, dem Klassenkampf zu entgehen, der wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt.

69% der US-AmerikanerInnen unter 30 Jahren würden für einen sozialistischen Präsidenten stimmen. Nachdem Trump gewählt wurde, kam es in jeder Stadt unmittelbar zu Massendemonstrationen. 61% der US-AmerikanerInnen lehnen sowohl die republikanische Partei als auch ihren demokratischen Zwilling ab und halten eine neue Großpartei für notwendig. Die allgemeine Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung geht eindeutig dahin, dass es sich bei dieser Partei um eine sozialistische Massenpartei handeln wird.


In China hat sich die Anzahl von „Vorfällen“ wie Streiks und Demonstrationen von 2011 bis 2015 jedes Jahr verdoppelt. Dem Regime ist es zwar gelungen, die Streikwelle durch die Verfolgung des dazu absolut notwendigen Minimums an korrupten Unternehmern zum Stehen zu bringen, doch unter der Oberfläche staut sich eine massive Wut über die Willkürherrschaft der Bürokratie, die Zerstörung der Umwelt und die empörende Ungleichheit zusammen. Diese Dinge wurden von der chinesischen Arbeiterklasse hingenommen, solang sich ihr Lebensstandard weiter verbesserte, doch das ist nicht länger der Fall.
In Russland bereitet sich Putin fieberhaft auf den Moment vor, an dem seiner Regierung die Geldreserven ausgehen und der niedrige Ölpreis – der Export von Öl und Gas ist die Haupteinnahmequelle seiner Regierung – ihn zwingen wird, tiefe Einschnitte in die Staatsausgaben – und damit im Lebensstandard der russischen Bevölkerung – vorzunehmen, um die Staatsschulden weiter zu bedienen. Dazu verschärft er einerseits unablässig die Repression, die Meinungsfreiheit und andere demokratische Rechte, um der Arbeiterklasse eine Zwangsjacke anzulegen, während er sich mit seinem Bossgehabe auf internationaler Ebene seine Unterstützung über den Nationalismus seiner Bevölkerung und deren Nostalgie nach dem Supermachtstatus der Sowjetunion sichern will. Und schließlich herrscht auch in der Europäischen Union eine vollkommen chaotische Situation vor.

Die Lage der EU

Der Euro hat sich von einem Instrument zur Vereinigung der europäischen Wirtschaften in sein Gegenteil verwandelt: in einen Keil, der sie auseinandertreibt. Die Europäische Zentralbank hat seit 2009 Billionen von Euro in „die Wirtschaft“ (also die Spekulationskonten der Kapitalistenklasse – der Bourgoisie) gepumpt, um nach dem Crash 2008 den völligen Zusammenbruch aufzuhalten – da aber die Bourgeoisie dieses Geld lieber verzockt als es produktiv zu investieren, hat das keines der zugrundeliegenden Probleme gelöst. Am deutlichsten zeigt sich die Instabilität der EU am Brexit und der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Dass der inzwischen gestürzte katalanische Präsident Puigdemont im Herbst 2017 glaubte, sich an die EU wenden zu können, nachdem der postfaschistische spanische Staat die Bewegung brutal niedergeschlagen hatte, zeugt von einem völligen Unverständnis der kompletten historischen Situation: Schon die Erfahrung der ersten SYRIZA-Regierung von Januar bis August 2015 hat gezeigt, dass die Führung der EU (in Wahrheit: die deutsche Regierung) auf jeden Versuch einer Destabilisierung mit absoluter Härte und extremer Brutalität reagiert, um jeden „Unruheherd“ sofort zu ersticken, bevor er sich ausbreiten kann. Nachdem sie den Brexit akzeptieren musste, hat sie alles getan, um die britische Regierung so heftig wie möglich zu demütigen und die Konsequenzen für die britische Bevölkerung so brutal und für andere Länder so abschreckend wie möglich zu machen.


Dieselbe Härte sehen wir im Umgang der europäischen Bourgeoisie mit den Millionen von Menschen, die schon immer, aber in besonderem Ausmaß seit 2015 versuchen, der Hölle zu entfliehen, in die sie der Imperialismus gestürzt hat. Der Umgang mit den Geflüchteten ist im allerhöchsten Maße zynisch: Angela Merkel verwendet sie, um die deutsche Industrie mit Arbeitskräften zu versorgen, Sebastian Kurz verwendet sie, um durch rassistische Hetze seine Karriere voranzubringen, Alexis Tsipras verwendet sie, um sich als Verfechter von Solidarität und Menschenrechten zu profilieren, während er ihnen genau Null materielle Hilfe zukommen lässt. Die Regierungen der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechei, Slowakei, Ungarn) verwenden sie, um einen rechtspopulistischen Club zu bilden, der sich gegenseitig (und auch die FPÖ-ÖVP-Regierung in Österreich) darin bestärkt, ihre Staaten autoritär umzubauen, um letztlich die Arbeiterklasse nieder zu halten und ihre Aufmerksamkeit weg von ihren Arbeits- und Lebensbedingungen auf eine herbeifantasierte Bedrohung aus dem Morgenland zu richten.


Währenddessen werden in einem Land nach dem anderen die Parteien zerstört, die davor jahrzehntelang vorgegeben hatten, die Interessen der arbeitenden Menschen zu vertreten, sie aber mit ihrer reformistischen Politik bitter enttäuscht haben: Die griechische PASOK, der Parti socialiste in Frankreich, die niederländische Partei der Arbeit sind auf Kleinparteien reduziert worden. Ein ähnliches Schicksal droht der deutschen SPD, die sich wieder in die Selbstaufgabe einer großen Koalition begeben hat. Die rechte, blairistische Fraktion in der britischen Labour Party wurde durch den Aufstieg von Jeremy Corbyn völlig isoliert.

Reformistische Utopie und revolutionärer Realismus

Der Marxismus erklärt, dass die Massen bei ihrem Versuch, einen Weg aus der Krise zu finden, zunächst eine politische Option nach der anderen abtesten und wieder verwerfen, bis sie durch dieses Trial-and-Error-Verfahren auf den Weg zum Sturz des Kapitalismus und zur Errichtung des Sozialismus gelangen. Das steckt hinter der heftigen politischen Polarisierung, die überall auf der Welt zu beobachten ist und die sich in Österreich durch die Wahl der schwarz-blauen Regierung in Österreich, in Griechenland durch die SYRIZA-Regierung, in Großbritannien durch die Massenbewegung um Jeremy Corbyn und in den USA sowohl durch die Wahl Donald Trumps als auch durch die Bewegung um Bernie Sanders und die massenhafte Radikalisierung der Jugend hin zu sozialistischen Ideen ausdrückt.


Wo immer die Arbeiterklasse einen Schritt nach vorne macht, werden wir sie unterstützen. Wir unterstützen linke ReformistInnen wie Corbyn in ihrem Kampf gegen die Rechten, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass Programme, die nicht auf den Sturz des Kapitalismus abzielen, sondern darauf, ihn zu reformieren und menschenfreundlicher zu machen, zum Scheitern verurteilt und utopisch sind. Die VertreterInnen dieser programmatischen „Kompromisse“ wiederholen gebetsmühlenartig, für eine Revolution seien die Menschen „nicht bereit“. Mehr als die Hälfte der 18- bis 34-jährigen EuropäerInnen haben allerdings in einer Studie angegeben, sie würden an einem Massenaufstand gegen die Regierung aktiv teilnehmen (vgl. „Quartz“, 28. April 2017) und solcherlei Ausreden damit erledigt.


Die meisten Menschen akzeptieren die Notwendigkeit einer großen Veränderung erst dann, wenn große Ereignisse die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern, das Bewusstsein verändern und die Menschen zwingen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Das passiert nicht schrittweise, sondern in der Art einer Explosion. Wir können jetzt sehen, wie das überall stattfindet.
Wir leben in einer Periode ständiger, unerwarteter Erschütterungen und Umschwünge in der Situation. Das betrifft alle Länder ohne Ausnahme. „Die Mitte“ bricht überall zusammen, weil es eine wachsende Polarisierung zwischen den Klassen gibt. Jede Wahl endet in heftigen Ausbrüchen nach links und rechts. Alles, was aus Sicht der Bürgerlichen niemals hätte passieren sollen, passiert jetzt. Wenn die Linke die Hoffnungen der Massen enttäuscht, gibt es einen Schwung nach rechts, der aber nur einen noch heftigeren Schwung nach links vorbereitet.


Viel früher, als wir denken, können wir auch in Österreich mit gewaltigen Ereignissen konfrontiert sein. Schon die erste schwarz-blaue Regierung wäre um ein Haar gestürzt worden, nachdem die EisenbahnerInnen mobilisierten und eine Bewegung gegen die Pensionsreform hunderttausende auf die Straße brachte. Dieses Potential ist in der gegenwärtigen Weltsituation noch gestiegen und auch nötig, um unsere Lebensgrundlagen als Jugendliche und ArbeiterInnen in dieser weltweiten Krise des Kapitalismus zu bewahren.

Schwarz-blau stürzen, Sozialismus erkämpfen!

Dieser Artikel erschien erstmals am 30.5.2018 im Funke Nr. 164


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