Unter Schwarz-Blau soll jeder gesellschaftliche Bereich zugunsten des Kapitals umgekrempelt werden. Neben all den schon angekündigten Grauslichkeiten ist das nächste große Projekt die „Flexibilisierung der Arbeitszeit“. Was das mit dem Kapitalismus zu tun hat und man dagegen tun muss, analysieren Mario Wassilikos und Florian Keller.


Die Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden in der Woche soll auf Betriebsebene durchgesetzt werden. In diesem Zusammenhang zielen alle konkreten Maßnahmen auf das Ende der überbetrieblichen Arbeitszeitregulierung und der Geltendmachung von Überstunden ab. Für Beschäftigte heißt das in Zukunft: „Du hast keine Rechte, außer denen, die dir dein Boss geben will.“ Auch die Ruhezeiten – die Pausen zwischen Arbeitsende und -anfang – sollen verkürzt werden, im Gastronomie- und Hotelbereich von elf auf acht Stunden. Das bedeutet, früher aufzustehen, später nach Hause zu kommen, länger zu arbeiten und dafür weniger Geld zu bekommen.

Kapitalismus – Produktion von Waren mit einem bestimmten Wert

Die Frage nach der Länge der Arbeitszeit ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Und seit ArbeiterInnen vor 200 Jahren für 18 Stunden in den Betrieb getrieben wurden, finden auch harte Auseinandersetzungen zwischen ArbeiterInnen und KapitalistInnen darüber statt, wie lange wir am Tag arbeiten müssen. Doch warum ist das so?
Karl Marx erklärte mit seiner Arbeitswerttheorie, dass der Wert einer jeden Ware, egal ob es ein Stück Brot, ein Smartphone oder ein Haarschnitt ist, von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt wird, die in dieser Ware steckt. Was heißt das? Eine Ware ist ein Produkt, das auf dem Markt verkauft wird. Während in vorkapitalistischen Gesellschaften (z. B. im Feudalismus) der überwiegende Teil der Gesellschaft auf dem Land lebte und hauptsächlich für den Eigenbedarf produzierte, änderte sich das in der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft. In ihr wird kaum für den Eigenbedarf produziert, sondern Produkte werden gegen andere Produkte auf dem Markt (im tatsächlichen oder im übertragenen Sinne) ausgetauscht. Dadurch werden sie zu Waren.

Doch um Waren miteinander austauschen zu können, muss man sich darüber einig werden, in welchem Verhältnis das getan wird. Mit anderen Worten: Man muss sich darüber einigen, wie viel die Waren wert sind. Während die Antwort auf diese Frage in der heutigen entwickelten kapitalistischen Großproduktion mystisch, fast willkürlich erscheint, zeigt sich die Quelle des Wertes einer Ware noch vor wenigen hundert Jahren viel deutlicher: Die menschliche Arbeit. Angefangen bei den ersten, fast zufälligen Tauschgeschäften, muss sich etwa ein Bauer gefragt haben: Wenn ich diesen Topf selbst produzieren würde, wie lange würde ich dafür brauchen, wenn ich darin geübt wäre? Lohnt es sich für mich, dafür 10 Kilogramm Weizen herzugeben, für die ich so und so viel Arbeitszeit aufgewendet habe?
Im Austauschprozess wird daher von fast allen Unterschieden zwischen den Waren abgesehen. Sie werden auf ihre bloße Eigenschaft, Arbeitsprodukte zu sein, reduziert, und als solche bestimmt sich ihr Wert.

Allerdings wird der Wert nicht von der individuellen, tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit, sondern von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt – unserem Bauern ist es herzlich egal, ob sein Tauschpartner doppelt so lange damit gebraucht hat, seinen Topf herzustellen, als ein anderer Handwerker – er wird ihm trotzdem nicht den doppelten Preis bezahlen, sondern den billigeren Topf kaufen. So entsteht ein objektiver Maßstab, der für alle Waren gleich ist – die Grundlage für einen funktionierenden Warentausch. Dieses gesellschaftliche Gesetz – das Wertgesetz – setzt sich unabhängig vom Willen der Menschen durch, es ist durch das System des Warenaustausches selbst bedingt.

Lohnarbeit – Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft

Nun hat sich die Welt in den letzten hundert Jahren stark verändert, aus Gründen, auf die wir hier aus Platzgründen leider nicht näher eingehen können. Die Kleinproduktion, in der die meisten Menschen auf eigene Rechnung produzierten und austauschten, ist durch industrielle Großproduktion immer mehr verdrängt worden, in der tausende, zehntausende, hunderttausende Menschen (Lohnarbeiter) nicht für sich selbst, sondern für einen einzelnen Kapitalisten produzieren. Die meisten Menschen haben nun nur eine einzige Ware, die sie auf dem Markt verkaufen können, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können – ihre Arbeitskraft. Diese verkaufen sie an die KapitalistInnen, an die EigentümerInnen der Fabriken, Banken etc.


Diese profitieren nun davon, dass sie die Arbeitskraft der Lohnabhängigen kaufen und einsetzen, da die Arbeitskraft als Ware eine besondere Eigenschaft besitzt: sie schafft mehr Wert, als sie selbst kostet. Während des ersten Teils ihres Arbeitstages verrichten die ArbeiterInnen notwendige Arbeit – sie schaffen mit ihrer Arbeit so viel Wert, wie es ihrem Lohn entspricht. Doch während des Weiteren Arbeitstags verrichten sie unbezahlte Mehrarbeit. Dabei schaffen sie ein Mehrprodukt, das für den Kapitalisten nach dem Verkauf der Ware zu seinem Profit wird. Daraus ergibt sich die Erklärung dafür, was jeder Arbeiter instinktiv weiß, wenn er auf den Lohnzettel schaut, was aber die Propaganda von Wirtschaftswissenschaften, „Sozialpartnerschaft“ etc. versucht zu verschleiern: Lohnarbeit an sich ist ein Ausbeutungsverhältnis, alle ArbeiterInnen produzieren einen guten Teil des Tages für den Profit der KapitalistInnen. Passiert das nicht, geht ein Unternehmen pleite. Durch den Schleier von Marktbeziehungen, dem scheinbar „freien“ Kauf und Verkauf von Arbeitskraft, wird dieses Ausbeutungsverhältnis verdeckt: Der Kapitalist, der Käufer der Arbeitskraft, bezahlt nicht den Wert der Arbeitsleistung. Würde er das tun, dann würde er keinen Profit machen. Von dieser „Tätigkeit“ – der Aneignung fremder Arbeitskraft bzw. der Produkte, die daraus entstehen – lebt er, und fast immer sogar extrem gut.


Aber mit dieser „normalen“ Ausbeutung ist es eben nicht genug. Die Logik des Systems bedeutet für das Kapital die Jagd nach immer höherem Mehrwert, das heißt einer immer größeren Ausbeutung der ArbeiterInnnen. Einerseits geht das Kapital diesen Weg, um selbst mehr zu verdienen (wie finanziert man sonst den 3. Ferrari?) – das Stichwort ist „Renditesteigerung“. Andererseits aber gibt es unter den KapitalistInnen selbst Konkurrenz: „Die Billigkonkurrenz macht die Preise kaputt, wir müssen billiger werden“, etc.


Beides kann nur zu einer Schlussfolgerung führen: Wenn nicht massiv in neue Technologien, Maschinen und Prozesse investiert wird und die ArbeiterInnen dadurch produktiver werden (was in zeiten der weltweiten Überproduktion und des „Kapazitätsüberschuss“ immer weniger passiert), bleibt nur der Weg, der unverblümten Räuberei: Den ArbeiterInnen direkt mehr abzupressen. Dazu gibt es für den KapitalistInnen zwei Wege:


1) Auf der einen Seite kann ein Kapitalist mehr aus einem Arbeiter herauspressen, indem er ihn länger für den gleichen Lohn arbeiten lässt (etwa durch unbezahlte Überstunden)
2) Auf der anderen Seite kann er ihn mehr auspressen, indem er das Arbeitstempo erhöht, Leerlaufzeiten verringert und so die Produktivität ohne Investitionen in neue Technik erhöht

.
Diese Methoden gehen Hand in Hand. Die Erhöhung der Produktivität, selbst wenn sie über die Investition in neue Maschinen geschieht, und damit die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit, die ein Arbeiter in eine Ware stecken muss, bedeutet im Kapitalismus keineswegs eine automatische Verkürzung des Arbeitstages. So nimmt Österreich bei der Arbeitsproduktivität der Beschäftigten laut EU-Kommission im EU-Schnitt den vierten Platz ein und liegt mit 115,4 Prozent (EU-28 = 100) der Bruttowertschöpfung pro Beschäftigtem vor den Exporteuropameistern Deutschland oder Großbritannien, dem Mutterland des Kapitalismus. Doch auch bei den geleisteten Wochenstunden liegt die österreichische Arbeiterklasse mit durchschnittlich 41,4 Arbeitsstunden pro Vollzeitbeschäftigtem im EU-Spitzenfeld – auf Platz drei (Stand: 2016)!


Wir arbeiten länger als z. B. die SpanierInnen oder die SchwedInnen, obwohl wir produktiver als sie sind. Denn der Zweck der kapitalistischen Produktionsweise ist die Vermehrung des Profits und nicht die Befriedigung der Bedürfnisse der ArbeiterInnen. Die kapitalistische Produktion strebt daher nicht die Verkürzung des Arbeitstags, sondern die Verkürzung der für die Produktion einer Ware notwendigen Arbeitszeit an: „Daß der Arbeiter bei gesteigerter Produktivkraft seiner Arbeit in einer Stunde z. B. 10mal mehr Ware als früher produziert, also für jedes Stück Ware 10mal weniger Arbeitszeit braucht, verhindert durchaus nicht, ihn nach wie vor 12 Stunden arbeiten und in den 12 Stunden 1200 statt früher 120 Stück produzieren zu lassen. Ja, sein Arbeitstag mag gleichzeitig verlängert werden, so daß er jetzt in 14 Stunden 1400 Stück produziert usw.“ (K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 340).

Was will das Kapital vom 12h-Tag?

In diesem Lichte müssen wir auch die derzeitige Offensive der Industriellenvereinigung zur Ausdehnung der Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden täglich und 60 Stunden wöchentlich sehen.
Viele Kapitalversteher merken hier an, dass es sich ja nicht wirklich um eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich handelt, sondern nur um eine „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit zu beiderseitigem Vorteil. Einzelne ArbeiterInnen könnten so mehr Überstunden machen, wenn sie mehr Geld brauchen, UnternehmerInnen flexibler reagieren. Doch es ist eine Illusion, dass hier ein Ausgleich möglich ist. Der produzierte gesellschaftliche Reichtum ist begrenzt, das heißt jede Maßnahme, die eine Änderung hervorruft, senkt entweder den Anteil des Kapitals oder den Anteil der Arbeiterklasse auf Kosten der jeweils anderen. Und beim 12h-Tag ist die Richtung mehr als klar.


Erstens ist es keineswegs ausgemacht, dass nicht tatsächlich der effektive Stundenlohn gekürzt werden würde: Viele müssen heute schon unbezahlte Überstunden durch All-In Verträge und Ähnliches leisten.
Doch auch weniger direkt sind Lohnkürzungen zu befürchten: Unternehmen können mit der Ausweitung der Höchstarbeitszeit in Verbindung mit immer mehr verbreiteten Zeitkonten und einer Verkürzung der vorgeschriebenen Ruhezeiten viel flexibler auf Auftragsschwankungen reagieren. Ohne diese Regelungen müssen in Zeiten hoher Auslastung mehr ArbeiterInnen eingestellt werden, oder alternativ in Zeiten geringerer Auslastung ArbeiterInnen bezahlt werden, die es eigentlich nicht bräuchte. Mit diesen Maßnahmen aber können insgesamt weniger Menschen beschäftigt werden, die man in den „Überstundenausgleich“ schickt, wenn nichts zu tun ist und bis zum Blut auspresst, wenn viele Aufträge hineinkommen. So steigt die individuelle Produktivität eines einzelnen Arbeiters über einen längeren Zeitraum betrachtet enorm an – gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit.


Eine höhere Arbeitslosigkeit wiederum drückt noch zusätzlich auf den Lohn und die Arbeitsbedingungen, da hinter jedem unzufriedenen Arbeiter 10 andere stehen, die keine andere Wahl haben, als jeden noch so schlechten Job anzunehmen – besonders wenn die Regierung gleichzeitig die Notstandshilfe abschafft, die Mindestsicherung für Familien kürzt und Qualifizierungsprogramme streicht! Man sieht deutlich, wie die Politik der Regierung einen gesamthaften Nenner bekommt: Die Arbeiterklasse für den Profit des Kapitals immer mehr auspressen! Das Ergebnis ist also eine gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von der Arbeiterklasse hin zum Kapital. Dabei werden nicht nur im Geldbörserl diese Angriffe spürbar werden.


Es drohen massive gesundheitliche Belastungen – wie das „Zentrum für Public Health“ an der Medizinischen Universität Wien betont. Eine von ihm im März 2017 veröffentlichte Studie zeigt, dass 12-Stundendienste ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellen. Demnach müsste man sich nach zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit je zwölf Stunden Arbeitszeit drei Tage freinehmen, um sich wieder vollständig zu erholen. Ab zehn Stunden Arbeit gebe es praktisch bei jedem Menschen einen deutlichen Leistungsknick – inklusive erhöhter Unfallgefahr im Beruf oder im Straßenverkehr. Deshalb sollte die Tagesarbeitszeit in der Regel acht Stunden nicht überschreiten, so eine Schlussfolgerung aus der Studie – was auch auf der Konferenz der Vorstände aller Teilgewerkschaften am 23. Mai im Wiener Austria Center betont wurde. Viele wollen auch kürzer arbeiten, wenn sie die Wahl hätten – laut einer aktuellen Eurofound-Studie durchschnittlich 31 Stunden pro Woche.


Letztendlich ist die Länge des Arbeitstages und die Höhe des Lohnes, über das reine Existenzminimum hinausgehend, nur eine Frage dessen, wie kampfbereit, klassenbewusst, organisiert und entschlossen die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen das Kapital ist. Jede Verkürzung des Arbeitstages ist erkämpft worden und bedeutet eine Niederlage des Kapitals, jede Verlängerung ist eine Niederlage der Arbeiterklasse.
Daher ist die reine Abwehr der geplanten Angriffe von Schwarz-Blau im Sinne der ArbeiterInnen zu wenig. Selbst wenn diese Maßnahmen abgewehrt werden würde, wofür eine umfassende Mobilisierung nötig wäre, käme die Regierung nur an der nächsten Stelle mit einem anderen Vorschlag um die Ecke. Daher muss jeder Kampf gegen eine Verschlechterung bei den Arbeitszeiten gleichzeitig offensiv geführt werden: Für eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich als Ausgangspunkt für einen offensiven Kampf gegen die Ausbeutung überhaupt!


Denn letztendlich sind die Kämpfe um eine mehr oder weniger starke Ausbeutung so oder so nur temporäre, zeitweilige Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital, in der das Kapital alle Trümpfe auf seiner Seite hat. Erst im Sozialismus – einer Gesellschaft, in der durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht mehr für die Profite einiger weniger, sondern für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gearbeitet wird – verliert Arbeit ihren ausbeuterischen und unterdrückerischen Charakter. In einem solchen System ist eine Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitigem wachsenden allgemeinen Wohlstand dauerhaft möglich und gleichzeitig die Basis für einen gewaltigen Sprung der menschlichen Kultur nach vorne.

Dieser Artikel erschien erstmals am 30.5. im Funke Nr. 164


 

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