Der vorliegende Text von Ted Grant und Alan Woods wurde auf Deutsch in unserer Broschüre gemeinsam mit Lenins Klassiker "Staat und Revolution" publiziert, dessen Lektüre wir jeder/m angehenden MarxistIn nur empfehlen können.

Seit dem Verfassen des Standardswerks des Marxismus "Staat und Revolution" sind mehrere Jahrzehnte vergangen. Die Arbeiterklasse hat seither eine Vielzahl an Erfahrungen gesammelt und immer wieder den Versuch unternommen, auf revolutionärem Weg den Kapitalismus zu überwinden. Wer an Revolution denkt, hat meist den gewaltsamen Barrikadenkampf oder den heldenmutigen Sturm auf das Winterpalais im Hinterkopf. Die Frage, wie viel Gewalt eine Revolution hervorbringt bzw. ob es eine friedliche Revolution geben kann, und wie eine solche aussehen kann, wird versucht von Ted Grant und Alan Woods anhand der Methode von Marx, Engels, Lenin udn Trotzki sowie den Erfahrungen der revolutionären Bewegungen in Frankreich 1968 und Portugal 1974/75 zu beantworten.


Die Frage des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft ist von zentraler Bedeutung. Der Staat ist aus marxistischer Sicht kein über der Gesellschaft stehender unparteiischer Schiedsrichter, sondern in letzter Instanz „bewaffnete Einheiten von Menschen“, Polizei, Justiz usw., die die Interessen der herrschenden Klasse verteidigen. Wir haben es hier mit sehr komplizierten Fragen der Methode, der Taktik und der Strategie zu tun. Daher erachten wir es für notwendig, die dialektische Methode, wie sie von den marxistischen Klassikern zu diesem Thema angewandt wurde, genau zu studieren.

Der Marxismus geht von der Idee aus, dass „Gewalt die Geburtshelferin einer jeden alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht“, dass der Staat in letzter Instanz aus bewaffneten Einheiten von Menschen besteht und ein Instrument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung anderer Klassen ist – dies sind elementare Sätze, die vor über 100 Jahren ausgearbeitet wurden. Nicht eine dieser Ideen wurde von unserer Strömung jemals in Frage gestellt. Im Gegenteil. Sie stellen eine der Grundlagen unserer Konzeption dar. Es ist unumstritten, dass die Arbeiterklasse beim Versuch, die Gesellschaft zu verändern, unvermeidlich auf den Widerstand der herrschenden Klassen stoßen wird und dass dieser Widerstand unter gewissen Bedingungen in einem Bürgerkrieg resultieren kann. Solch eine Feststellung ist für MarxistInnen derart selbstverständlich, dass es fast schon peinlich ist, sie hier zu wiederholen. Das Problem erschöpft sich jedoch nicht in diesen Grundlagen.

Unsere Strömung hat unzählige Male erklärt, dass es ohne die Unterstützung durch die Reformisten, Stalinisten und Gewerkschaftsführer unmöglich wäre, das kapitalistische System länger aufrechtzuerhalten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir immer und immer wieder betonen müssen. Die Führungsspitzen der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien haben in allen Ländern unvorstellbare Macht in ihren Händen – eine viel größere als jemals zuvor in der Geschichte. Aber wie bereits Trotzki erklärt hat, ist die Bürokratie in der Arbeiterbewegung die konservativste Kraft in der Gesellschaft. Sie nutzt ihre Autorität zur Unterstützung des kapitalistischen Systems. Deshalb sagte Trotzki auch, dass sich in der letzten Analyse die Krise der Menschheit auf die Krise der Führung des Proletariats reduzieren lässt.

Wir haben oft genug gesagt, dass eine friedliche Veränderung der Gesellschaft absolut möglich wäre, wenn die Führer der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften bereit wären, die kolossale Macht in ihren Händen zu nutzen, um die Gesellschaft zu verändern. Das ist alles, was wir in dieser Frage gesagt haben. Und dabei haben wir immer hinzugefügt, dass – wenn die Arbeiterführer dies nicht tun – Blut vergossen werden könnte, wobei die Verantwortung gänzlich bei den reformistischen Führern läge.

Es ist eine Tatsache, dass die Arbeiter in den letzten sieben Jahrzehnten in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland die Macht übernehmen hätten können, falls es eine revolutionäre Partei gegeben hätte, die fähig gewesen wäre, diese Aufgaben zu erfüllen. Viele revolutionäre Gelegenheiten gingen durch den Verrat des Reformismus und des Stalinismus verloren. Die Arbeiterklasse musste dafür meist mit ihrem Blut für die Verbrechen ihrer Führungen bezahlen. Es hängt alles vom nationalen und internationalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und vor allem von der Fähigkeit, die entscheidenden Sektoren der Arbeiterklasse für das Programm des Marxismus zu gewinnen, ab.

Wir haben zu keiner Zeit die Möglichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg unter bestimmten Bedingungen geleugnet. Aber im Gegensatz zu den Bürgerlichen und den Reformisten, die immer versuchen, die Arbeiter mit dem Gespenst der Gewalt und des Bürgerkriegs zu verängstigen, bzw. im Gegensatz zu Teilen der radikalen Linken, die keine Gelegenheit auslassen, ihren Enthusiasmus für eine „blutige Revolution“ kundzutun und so den Bürgerlichen und den Reformisten einen großen Dienst erweisen, betonen wir, dass wir für eine friedliche Veränderung der Gesellschaft stehen. Somit legen wir die Schuld für jegliche Gewalt auf die Schultern der herrschenden Klasse und der reformistischen Führer.

Wir machen absolut klar, dass wir für eine friedliche Veränderung der Gesellschaft stehen und bereit sind, für eine solche Veränderung zu kämpfen; gleichzeitig warnen wir aber, dass die herrschende Klasse dafür kämpfen wird, ihre Macht und ihre Privilegien zu verteidigen. Das ist absolut nichts Neues oder sonderlich Originelles. Das ist die traditionelle Position des Marxismus, die bereits unzählige Male in den Schriften von Marx, Engels, Lenin und Trotzki sowie in den Schriften und Reden unserer eigenen Strömung in mehr als 40 Jahren erklärt wurde. Wir werden zeigen, dass die Herangehensweise unserer Strömung an die Frage der Gewalt und des Staates völlig mit den großen marxistischen Denkern übereinstimmt und dass dies der einzig seriöse Weg ist, diese Frage anzugehen.

Dialektik oder Formalismus?

Die Grundposition wurde in „Staat und Revolution“ dargelegt, wo Lenin schreibt: „Der Marxsche Gedanke besteht darin, daß die Arbeiterklasse ‚die fertige Staatsmaschine‘ zerschlagen, zerbrechen muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.“

Marx erklärte, dass die Arbeiterklasse sich nicht auf die Grundlage der bestehenden Staatsmacht stellen darf, sondern diese umstürzen und zerstören muss. Das gehört für jeden Marxisten zum ABC. Aber nach ABC kommen im Alphabet eben auch noch andere Buchstaben. In „Staat und Revolution“ geißelt Lenin die Reformisten, weil sie die sozialistische Revolution als einen langsamen, graduellen und friedlichen Wandel darstellen. Derselbe Lenin war imstande, 1920 zu erklären, dass es in Großbritannien aufgrund der enormen Stärke des Proletariats und seiner Organisationen durchaus möglich wäre, die sozialistische Transformation friedlich, ja sogar über das Parlament, durchzuführen – unter der Voraussetzung, dass die Gewerkschaften und die Labour Party von MarxistInnen geführt würden.

Lenins Position bezüglich der Revolution war konkret und dialektisch, nicht formalistisch und abstrakt. Er näherte sich der Frage der Revolution immer im Lichte der konkreten historischen Bedingungen, die im jeweiligen Land vorherrschten. Natürlich bleiben in allen Ländern die wichtigsten Aufgaben für das Proletariat dieselben. Es ist für die Arbeiterklasse notwendig, sich selbst als Klasse an und für sich zu konstituieren, eine revolutionäre Partei mit einer korrekten marxistischen Führung aufzubauen; es ist notwendig, den Widerstand der Ausbeuter zu brechen; den Staat zu zerschlagen usw.
So wichtig und richtig diese allgemeinen Überlegungen auch sind, so sind sie doch nicht ausreichend, um die Frage der konkreten Formen und Stufen, in denen sich die Revolution entwickelt, geschweige denn die Frage der spezifischen Taktiken, welche die Revolutionäre verfolgen müssen, ausreichend zu beantworten. Das kann man auch nicht nach einem Rezept aus einem revolutionären Kochbuch auswendig lernen. Solch eine Handlungsanleitung existiert nicht, und falls es eine gäbe, dann würde sie mehr schaden als helfen.

Die Bedingungen, unter denen sich eine Revolution entwickelt, werden von Land zu Land, von Periode zu Periode verschieden sein. Das ist offensichtlich. Und es ist ganz klar, dass sich die spezifische Taktik der revolutionären Partei entsprechend diesen Bedingungen ebenfalls unterscheiden wird. Fragen wie der spezifische Anteil des Proletariats in der Gesamtbevölkerung, seine Beziehung zu den anderen Klassen, die Stärke seiner Organisationen, seine Erfahrungen, sein kulturelles Niveau, seine nationalen Traditionen bestimmen diese Gleichung.

Vor allem aber ist der entscheidende Faktor die Stärke und Reife des subjektiven Faktors – der revolutionären Partei und ihrer Führung (obwohl selbst dieser Satz nicht von absoluter Gültigkeit ist; es gab auch Fälle, in denen Revolutionen ohne eine revolutionäre Partei durchgeführt – wenn auch nicht konsolidiert – wurden, wie die Pariser Kommune oder Ungarn 1956). Das ist eine Schlüsselfrage. Aber wie diese Partei genau aufgebaut wird und vor allem wie sie in einer Massenbewegung eine führende Rolle einnehmen kann, das ist die entscheidende Frage. Wir werden später sehen, wie die Bolschewiki 1917 – mit welchen Taktiken und Losungen – zum entscheidenden Faktor werden konnten.

Die grundlegenden Ideen des Marxismus sind dieselben wie vor 100 Jahren. Unsere Aufgabe ist es aber nicht, halb verdaute Ideen wie ein Papagei immer nur nachzuplappern, sondern diese Ideen kreativ weiterzuentwickeln. Und vor allem müssen wir imstande sein, diese in der lebendigen Bewegung des Proletariats und seiner Organisationen anzuwenden. Letztere existieren nicht außerhalb von Zeit und Ort. Wenn wir nicht zu einer sterilen Sekte verkommen, sondern wirklich in den Massenorganisationen Wurzeln schlagen wollen, dann müssen wir von der realen Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse ausgehen, wie wir sie historisch bedingt zu einer gegebenen Zeit vorfinden. Das war immer die Methode der großen marxistischen Denker der Vergangenheit, wie wir noch zeigen werden.

Wie Marx und Engels die Frage stellten

Sich auf die Erfahrung der Pariser Kommune stützend zeigten Marx und Engels Folgendes auf: „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die ‚Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“ (Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests, 1872)

Das ist ein elementarer Lehrsatz für jeden Marxisten. Der Marxismus ist aber nicht nur die Wiederholung einiger grundlegender Ideen, so korrekt sie auch sein mögen. Es ist notwendig, die Theorie im Lichte der Erfahrungen zu vertiefen und auszuweiten. Diese Methode ist in den Schriften von Marx und Engels sehr gut erkennbar, ihre Sichtweise des Staates hat sich über die Jahrzehnte hinweg entwickelt.

Von Anfang an waren die Begründer des Wissenschaftlichen Sozialismus sehr vorsichtig in ihrer Herangehensweise an die Frage der Gewalt. Sie erkannten nicht nur die Gefahr im Versuch, das Proletariat in Abenteuer und unausgereifte Aufstände zu schicken, sondern auch, dass eine plumpe Präsentation dieser Frage ein Geschenk für die Propaganda der Feinde des Kommunismus darstellen würde. So drückte sich Engels im ersten programmatischen Statement des Marxismus („Grundsätze des Kommunismus“) äußerst vorsichtig aus:

„Frage 16: Wird die Aufhebung des Privateigentums auf friedlichem Wege möglich sein?
Antwort: Es wäre zu wünschen, daß dies geschehen könnte, und die Kommunisten wären gewiß die letzten, die sich dagegen auflehnen würden. Die Kommunisten wissen zu gut, daß alle Verschwörungen nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sind. Sie wissen zu gut, daß Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden, sondern daß sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig sind. Sie sehen aber auch, daß die Entwicklung des Proletariats in fast allen zivilisierten Ländern gewaltsam unterdrückt und daß hierdurch von den Gegnern der Kommunisten auf eine Revolution mit aller Macht hingearbeitet wird. Wird hierdurch das unterdrückte Proletariat zuletzt in eine Revolution hineingejagt, so werden wir Kommunisten dann ebensogut mit der Tat wie jetzt mit dem Wort die Sache der Proletarier verteidigen.“ (Engels, Grundsätze des Kommunismus)

Am Ende seines Lebens überdachte Engels in seinem berühmten Vorwort zu Marx’ „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ die Frage der revolutionären Taktik. Engels‘ Feststellungen wurden späten von den Führern der deutschen Sozialdemokratie verwendet, um ihre reformistische Politik zu rechtfertigen. Selbst ein oberflächliches Lesen dieser Zeilen zeigt aber, dass Engels die Bedeutung des Aufstandes keinesfalls zurückwies, sondern nur vor Abenteurertum, Aufständen zum falschen Zeitpunkt und Konspirationen von Minderheiten („Blanquismus“) warnte:

„Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit aber die Massen verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt.“ (Engels, Einleitung zu ‚Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850‘ von Karl Marx, 1895)

Der wichtigste Punkt dieser Sätze von Engels ist ganz einfach die Notwendigkeit für die revolutionäre Partei, die Massen für sich zu gewinnen. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Durchführung einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Es erfordert eine mehr oder weniger lange Periode der Vorbereitung, die durch geduldige Propaganda, Agitation und Organisierung geprägt ist, wobei man auf alle möglichen Arbeitsfelder, von der Gewerkschafts- bis zur Parlamentsarbeit, zurückgreifen kann, um so die breitesten Schichten der Arbeiterklasse zu gewinnen. Zu diesem Thema werden wir später zurückkehren.

Unter der Voraussetzung bestimmter Bedingungen schlossen Marx und Engels die Möglichkeit einer friedlichen Machtübernahme durch das Proletariat nicht aus, obwohl es zu ihrer Zeit nur ein Land gab, wo die Bedingungen für eine solche Perspektive existierten – nämlich Großbritannien.
Im Vorwort zur englischen Ausgabe des Kapitals aus dem Jahre 1886 schrieb Engels:

„In einem solchen Moment sollte sicherlich die Stimme eines Mannes gehört werden, dessen ganze Theorie das Ergebnis eines lebenslangen Studiums der ökonomischen Geschichte und Lage Englands ist, und den dieses Studium zu dem Schluß geführt hat, daß zumindest in Europa, England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich durch friedliche und gesetzliche Mittel durchgeführt werden könnte. Gewiß hat er nie vergessen hinzuzufügen, daß er kaum erwarte, die englische herrschende Klasse werde sich ohne – pro-slavery rebellion’ [Rebellion für die Sklaverei] dieser friedlichen und gesetzlichen Revolution unterwerfen.“ (Kapital Band 1)

1918 schrieb Lenin einen interessanten Artikel, der eine profunde Bewertung der Positionen von Marx und Engels in Bezug auf die Taktik des Proletariats in der sozialistischen Revolution beinhaltet. Erinnern wir uns noch einmal, dass dies derselbe Lenin war, der ein Jahr zuvor „Staat und Revolution“ geschrieben hatte. Lenin machte auf die Tatsache aufmerksam, dass Marx und Engels zu einem bestimmten Zeitpunkt der Meinung waren, dass in Großbritannien die Voraussetzungen für einen friedlichen Übergangs zum Sozialismus existierten und sogar, dass die Arbeiter die Bourgeoisie „entschädigen“. Während er darauf hinwies, daß sich die Rahmenbedingungen in Großbritannien verändert haben (worauf wir gleich eingehen werden), weist Lenin hier auf einen wichtigen Punkt hin, indem er auf Bucharin und die anderen „Linken Kommunisten“ eingeht, die dahingehend argumentierten, dass es aus Prinzip undenkbar sei vorzuschlagen, dass ein Arbeiterstaat die Bourgeoisie „entschädige“:

„Und Marx sagte: ‚Unter gewissen Umständen werden es die Arbeiter keineswegs ablehnen, die Bourgeoisie auszukaufen.‘ Marx band sich – und den künftigen Führern der sozialistischen Revolution – nicht die Hände in bezug auf die Formen, die Methoden, die Art und Weise der Umwälzung, denn er verstand sehr wohl, was für eine Unmenge neuer Probleme dann erstehen wird, wie sich im Laufe der Umwälzung die gesamte Situation ändern, wie oft und wie stark sie sich im Laufe der Umwälzung ändern wird.“ (Lenin, Über „linke“ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, 5.5.1918, in: Gesammelte Werke, Bd. 27, S. 336)

Marx über Großbritannien

Warum sah Marx in Großbritannien das einzige Land, in dem eine friedliche Revolution möglich wäre? Der am häufigsten zitierte, von Lenin angegebene Grund ist die Tatsache, dass Großbritannien damals „noch immer das Modell eines rein kapitalistischen Landes war, aber ohne eine Militärclique und, zu einem beträchtlichen Grade, ohne eine Bürokratie. Daher sah Marx in Großbritannien eine Ausnahme, wo die Revolution, sogar eine Volksrevolution, möglich schien, und in der Tat sogar ohne die Vorbedingung, daß die ‚fertige‘ Staatsmaschinerie möglich war.“ (Lenin, On Britain, S. 352)

Als Resultat bestimmter historischer Besonderheiten (als Inselmacht, die kein sonderlich großes stehendes Heer benötigte, aber ihre Dominanz in Europa durch eine Kombination aus ihrer starken Marine und der Politik des ‚Teilen und Herrschen‘ aufrechterhielt) war der Staat in Großbritannien schwächer als in den anderen europäischen Ländern, wo das Fehlen solch natürlicher Verteidigungsanlagen die Notwendigkeit schuf, riesige stehende Heere aufzubauen, was all die damit verbundenen negativen Begleiterscheinungen an Bürokratie und Militarismus hervorbrachte. Marx schrieb dies zu einer Zeit, als sich der britische Kapitalismus noch immer in seiner progressiven Entwicklungsphase befand, also vor dem Aufstieg des Imperialismus und des Monopolkapitalismus. Lenin erklärte, dass 1917 die Unterscheidung von Marx bezüglich Großbritannien ihre Gültigkeit verloren hatte, da in der Epoche des imperialistischen Niedergangs der Staat selbst in den USA sowie in Großbritannien im Grunde derselbe war wie in den restlichen entwickelten kapitalistischen Ländern.

Nichtsdestotrotz waren der unterentwickelte Charakter des Staates und die relative Schwäche der militärisch-bürokratischen Kaste nur ein Element, die Marx zu der Meinung veranlassten, dass im Großbritannien des 19. Jahrhunderts eine friedliche Veränderung möglich gewesen sei. Es war aber sicher nicht der einzige Grund für diese These. Die Stärke der britischen Arbeiterklasse und ihrer Organisationen war eine der Hauptgründe, die Marx zu diesem Schluss kommen ließen, obwohl er sehr vorsichtig war und hinzufügte, dass die herrschende Klasse eine „Rebellion der Sklavenhalter“ organisieren könnte, um die neue Arbeiterregierung zu stürzen.

Im oben genannten Artikel spezifiziert Lenin weiter, was für Marx und Engels die Idee einer friedlichen Revolution in Großbritannien möglich erscheinen ließ:

„Die Unterordnung der Kapitalisten unter die Arbeiter hätte damals in England durch folgende Umstände gesichert werden können:
1. durch das völlige Überwiegen der Arbeiter, der Proletarier, in der Bevölkerung, da eine Bauernschaft nicht vorhanden war (in England waren in den siebziger Jahren Anzeichen vorhanden, die auf außerordentlich rasche Erfolge des Sozialismus unter den Landarbeitern hoffen ließen);
2. durch die ausgezeichnete Organisiertheit des Proletariats in den Gewerkschaften (England war damals in dieser Hinsicht das erste Land der Welt);
3. durch das verhältnismäßig hohe Kulturniveau des Proletariats, das durch die Schule einer jahrhundertelangen Entwicklung der politischen Freiheit gegangen war;
4. durch die lange Gewohnheit der großartig organisierten Kapitalisten Englands – damals waren sie die bestorganisierten Kapitalisten aller Länder der Welt (jetzt hat Deutschland diese Priorität übernommen) –, politische und ökonomische Fragen durch Kompromisse zu lösen. Infolge dieser Umstände also konnte damals der Gedanke aufkommen, daß eine friedliche Unterordnung der Kapitalisten Englands unter seine Arbeiter möglich sei.“
(Lenin, Über „linke“ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, 5.5.1918, in: Gesammelte Werke, Bd. 27, S. 336)

Diese Zeilen zeigen sehr klar, dass aus Lenins Sicht die zu diskutierende Problematik absolut nicht auf die Frage der historischen Besonderheiten des Staates im Großbritannien des 19. Jahrhunderts beschränkt werden kann. Er erklärt, dass die grundlegenden Bedingungen, die eine friedliche Veränderung der Gesellschaft möglich machen, aus dem außergewöhnlich vorteilhaften Kräfteverhältnis zwischen den Klassen resultiert, das sich in Wirklichkeit daraus ergab, dass Großbritannien zu jener Zeit das weltweit einzige Land war, in dem sich die kapitalistische Industrie voll entwickelt hatte.

Es ist wahr, dass der britische Staat heute den Staaten anderer kapitalistischer Länder ähnlicher geworden ist; es ist aber nicht weniger wahr, dass die Entwicklung der Produktivkräfte über die letzten 100 Jahre hinweg, und insbesondere seit 1945, zu einer enormen Stärkung der Arbeiterklasse geführt hat. Das bedeutet, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wesentlich verändert hat, und zwar zum Vorteil des Proletariats. Zu Marx’ Lebzeiten stellte die Arbeiterklasse nur in Großbritannien die Mehrheit in der Gesellschaft. Gegenwärtig macht die Arbeiterklasse in jedem entwickelten kapitalistischen Land die entscheidende Mehrheit in der Gesellschaft aus, wobei die riesigen gesellschaftlichen Reserven der Reaktion, vor allem die Bauernschaft, weitgehend im Proletariat selbst aufgegangen sind. Das hat vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern große Konsequenzen für die zukünftigen Perspektiven der sozialistischen Revolution.

Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen

Die Frage des veränderten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen muss in unseren Überlegungen eine wichtige Rolle spielen. Das Verschwinden der Bauernschaft in Frankreich und anderen Ländern ist eine Tatsache von größter Bedeutung, weil die Reaktion dadurch ein wichtiges gesellschaftliches Reservoir verloren hat. Erinnern wir uns nur daran, dass die Bauernschaft in der Vergangenheit immer wieder das Rückgrat der bonapartistischen und zu einem gewissen Ausmaß auch der faschistischen Reaktion bildete. Heißt das nun, dass die Reaktion nie mehr eine Gefahr darstellt? Eine solche Annahme wäre natürlich fatal.

Selbst in Großbritannien, wo die Arbeiterklasse seit mehr als 100 Jahren die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellt und wo die Bauernschaft nicht wirklich existiert, gibt es die Möglichkeit einer bonapartistischen Reaktion, wahrscheinlich in Gestalt einer Art royalistisch-bonpartistischen Putsches (obwohl die Monarchie heutzutage nicht mehr die Kraft von einst hat, verfügt sie nichtsdestotrotz über beträchtliche Unterstützung in den rückständigeren Schichten der Bevölkerung), falls die Arbeiterklasse darin versagt, die Gesellschaft zu verändern. Und das gilt umso mehr für Länder wie Italien, Spanien und Griechenland, wo sich die extreme Schwäche des Kapitalismus in einer sich vertiefenden politischen Krise und einer kontinuierlichen Instabilität ausdrückt.
Stimmt es, dass unsere Strömung die sozialistische Veränderung der Gesellschaft als einen friedlichen, schmerzlosen Prozess ohne Gefahr einer Reaktion und ohne Widerstand vonseiten der Ausbeuter und ihres Staates darstellt? Zitieren wir aus einer zufällig ausgewählten Broschüre zur Staatsfrage, die von der Militant Tendency herausgegeben wurde. In dieser Broschüre mit dem Titel „Der Staat – eine Warnung an die Arbeiterbewegung“ können wir Folgendes lesen:

„Eine neue Periode tut sich vor uns auf, in welcher nur die Veränderung der Gesellschaft die Probleme der Arbeiterklasse lösen kann. Eine Labour-Regierung muß eine Politik umsetzen, wie sie von dieser Zeitung propagiert wird. Die Macht des Big Business muß zerbrochen werden, indem die größten Unternehmen verstaatlicht und die Produktion auf der Grundlage eines Plans organisiert werden. Solange das nicht getan wird, ist es unvermeidlich, daß die herrschende Klasse aus Verzweiflung versuchen wird, die Probleme ihres erschütterten Systems auf Kosten des Lebensstandards und der Rechte der Arbeiterklasse zu lösen.

"Der Preis der Freiheit ist ewige Schlaflosigkeit, so sagte man! Alle Rechte, die die Arbeiterklasse besitzt – das Recht zu streiken, sich zu organisieren, frei seine Meinung zu äußern, das Recht auf eine freie Presse –, wurden ihr nicht freiwillig von der herrschenden Klasse zugestanden, sondern sind das Ergebnis harter Kämpfe der Arbeiterklasse selbst. Selbst das Recht frei zu wählen können uns die Tories und die herrschende Klasse wieder nehmen, wenn es ihr System bedroht. Wir sehen bereits, wie sie aus einem verzweifelten Versuch heraus, eine sich nach links bewegende Labour-Regierung zu stoppen, das alte Wahlsystem aufzugeben bereit sind und zum Verhältniswahlrecht zurückkehren.

"Die Arbeiterklasse kann sich bei der Verteidigung ihrer Rechte und Interessen nur auf die Gewerkschaften und die Labour Party stützen. Sie kann sich nur auf ihre eigene Macht und Stärke, ihre eigenen Organisationen, ihr eigenes Bewußtsein und ihre Solidarität verlassen. Es war einzig und allein ihre Macht, die zur Niederlage der Regierung Heath durch den Bergarbeiterstreik im Februar 1974 führte. Thatcher zog aus Angst vor einer Konfrontation mit den Bergarbeitern in der Frage der Schließung von Gruben zurück, weil die Arbeiterklasse heute tausendmal stärker ist als zu Zeiten des Generalstreiks von 1926.

"Es ist notwendig, daß die aktiven Schichten der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung die Notwendigkeit einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft als drückendes Problem erkennen. Das kann dann an die Masse der Arbeiterklasse herangetragen werden, um den Alptraum von Verschwörungen, von Komplotten und anderen Entwicklungen zu verhindern. Sie dürsten nach Revanche, um der Arbeiterklasse eine Lektion zu erteilen. Falls sie bis jetzt dabei versagten, ist das nur, weil sie vor der Stärke der Organisationen der Arbeiterklasse Angst haben.
Wenn diese Stärke aber nicht für die Veränderung der Gesellschaft organisiert wird, dann ist es unvermeidlich, und zwar nicht nur in Großbritannien sondern auch in anderen Ländern des Westens, daß es zu ähnlichen Komplotten kommen wird. Aus dem Versagen bei der Veränderung der Gesellschaft kann eine Situation entstehen, in der in Großbritannien ein Bürgerkrieg möglich wird. Die Arbeiterklasse wird es niemals schweigsam akzeptieren, daß man ihr ihre Rechte wegnimmt. Sie werden reagieren wie die spanischen Arbeiter 1936 im Bürgerkrieg reagierten. Sie werden all ihre Rechte verteidigen, einschließlich des Rechts zu wählen.“

Klassenprogramm

Wie legen wir den fortschrittlichsten Teilen der Arbeiterklasse und der Jugend die Gefahr einer Reaktion dar? Es ist notwendig, die ArbeiterInnen und die Jugend vor der Bedrohung durch die Reaktion zu warnen. Vor allem ist es notwendig, die Kader mit einem klaren Verständnis bezüglich des Faschismus und des Bonapartismus auszustatten. Ein bonapartistisches Regime wäre sehr instabil und würde sich wahrscheinlich nicht mehr als einige wenige Jahre lang halten können. Nichtsdestotrotz zeigt die Erfahrung von Chile, Griechenland und Argentinien, dass solch ein Regime für die Arbeiterklasse einen Alptraum darstellen würde. Die ‚demokratischen‘ Bürgerlichen würden nicht zögern, die faschistischen Banden gegen die Arbeiterorganisationen zu hetzen, Mord, Folter und alle möglichen Arten der Einschüchterung einzusetzen, um ihre Klassenherrschaft zu verteidigen.

Es ist aber auch wichtig, in dieser Frage nicht das Augenmaß zu verlieren. Die schrille Hysterie vieler in der extremen Linken, die den Faschismus jederzeit „hinter jedem Baum“ wittern, desorientiert lediglich die kleine Minderheit an ArbeiterInnen und Jugendlichen, die das Pech haben, in ihren Einflussbereich zu gelangen. Sie haben kein Verständnis bezüglich des Faschismus. Sie lassen ganz einfach den Charakter der gegenwärtigen Periode, das reale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen oder die Interessen der Bourgeoisie außer Acht.

Der Kapitalismus befindet sich in einer Sackgasse. Dadurch ergibt sich eine Tendenz, dass Teile des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats unruhig werden. Unter bestimmten Bedingungen können sie die Arbeiterklasse unterstützen, wenn diese in der Praxis beweisen kann, dass sie bereit ist, die Gesellschaft aus der Sackgasse zu führen. Falls die Arbeiterklasse von ihren Führern aber paralysiert wird, können diese Schichten wieder leicht ins Lager der Reaktion schwenken.

Der stetige Anstieg an rassistischen Übergriffen, den wir in allen Ländern beobachten können, ist ein Ausdruck für die Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet. Während der Periode des Wirtschaftsaufschwungs benötigte der Kapitalismus eine große Anzahl an Immigranten als billige Arbeitskräfte. Nun müssen sie als Sündenböcke für die Krise des Kapitalismus herhalten.

Es ist selbstverständlich, dass die MarxistInnen im Kampf gegen den Rassismus an der vordersten Front stehen müssen. Der Kampf gegen den Rassismus ist aber ein KLASSENKAMPF. Die Interessen der schwarzen, asiatischen, türkischen und arabischen ArbeiterInnen sind dieselben wie die ihrer weißen Brüder und Schwestern. Das muss die ganze Zeit im Mittelpunkt unserer Argumentation stehen. Nichts ist schädlicher für die Sache des Kampfes gegen den Rassismus als der Versuch, die ImmigrantInnen und die europäischen ArbeiterInnen zu spalten.

Gleichzeitig müssen wir ähnlich wie Trotzki erklären, dass der Kampf gegen den Faschismus ein physischer Kampf ist. Es kann nicht angehen, dass wir passiv faschistische Übergriffe auf ImmigrantInnen akzeptieren. Verteidigungskomitees müssen organisiert werden, jedoch auf einer KLASSENgrundlage. Versuche, Verteidigungskomitees nur mit ImmigrantInnen isoliert vom Rest der Arbeiterklasse zu organisieren, spielen nur in die Hände der Rechten, genauso wie die Idee, dass nur ImmigrantInnen die antirassistische Bewegung anführen sollten. Wir müssen für den Aufbau gemeinsamer Verteidigungskomitees von weißen und schwarzen ArbeiterInnen durch die organisierte Arbeiterbewegung, vor allem durch die Betriebsräte und Gewerkschaften, eintreten.

Es ist notwendig, den Kampf gegen Rassismus und Faschismus mit der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu verbinden. Ohne das wird auch die Wahl einer linken Regierung das Problem nicht lösen. Im Gegenteil, die Politik der Arbeiterführer mit dem Ziel, die Bourgeoisie zu besänftigen, wird die Krise nur noch mehr vertiefen und so den Weg für die Reaktion ebnen. Eine Politik der Konterreformen wird das Kleinbürgertum noch mehr entfremden und Teile davon sogar ins Lager der Faschisten treiben.

Wenn die herrschende Klasse die Arbeiterklasse mit ‚normalen‘ Mitteln nicht mehr im Zaum halten kann, wird sie nicht zögern, das Militär auf den Plan zu rufen. Oder genauer gesagt: Sie werden versuchen, in die Richtung einer Militärdiktatur zu gehen. Ein erster Schritt dahin wäre die Errichtung eines parlamentarischen Bonapartismus, wie die Regimes Von Papen und Schleicher in Deutschland vor der Machtübernahme durch Hitler. Vor kurzem erst versuchte die Regierung Amato per Dekret zu regieren. Das ist eine Warnung davor, was die italienische Bourgeoisie in der Zukunft machen wird.
Falls die marxistische Tendenz stark genug wäre, wäre es notwendig, eine energische Kampagne für eine Einheitsfront der Arbeiterparteien und -organisationen gegen solche Entwicklungen zu starten.

Die gesamte Situation ist aber nicht zu vergleichen mit der Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Damals hatten die Faschisten eine riesige soziale Reserve in Form der Bauernschaft und des Kleinbürgertums, einschließlich der Studenten. Nun ist das alles anders. Die Arbeiterklasse ist tausendmal stärker als damals, die Bauernschaft ist fast gänzlich verschwunden, und große Teile der Angestellten – LehrerInnen, Beamte, Bankangestellte usw. – haben sich dem Proletariat angenähert.

Unter diesen Umständen wird es sich die Bourgeoisie zweimal überlegen, bevor sie auf eine offene Diktatur setzt. Falls die Arbeiterbewegung mit einem wirklich sozialistischen Programm bewaffnet wäre, könnte ein solcher Versuch sogar in einem totalen Umsturz der bürgerlichen Herrschaft enden.
Lenin erklärte, dass eines der Merkmale einer vorrevolutionären Situation eine gewisse Gärung in den Mittelschichten der Gesellschaft ist. Durch die kapitalistische Krise in die Verzweiflung getrieben, sucht das Kleinbürgertum überall nach einem Ausweg.

Falls die Arbeiterklasse und ihre Organisationen eine klare Führung anbieten, werden sich die kleinbürgerlichen Massen hinter ihr scharen. Fehlt eine solche Führung, können die Mittelschichten aber in die verschiedensten Richtungen schwenken. Gegenwärtig in Europa spiegelt sich diese Gärung im Kleinbürgertum in allen möglichen reaktionären Phänomenen wider: Lega Nord, Le Pen, die FPÖ usw.

Sobald sich aber die Arbeiterklasse bewegt, kann sich das sehr schnell ändern. Vor allem wenn die Rechten an die Macht kommen und ihr Programm in der Realität auf die Probe gestellt wird, wird ihre kleinbürgerliche Basis sehr schnell dahin schmelzen.

Die Existenz dieser reaktionären Bewegungen ist der Preis, den wir für das Versagen der sozialistischen und ‚kommunistischen‘ Führer in der Vergangenheit bezahlen müssen. Der einzige Weg, um die Reaktion in der Zukunft zu stoppen, liegt in einem unermüdlichen Kampf, die fortschrittlichsten Arbeiter und Jugendlichen, und durch sie die Massen, für ein wirklich sozialistisches Programm zu gewinnen.

Lenin und revolutionäre Taktik

Der Unterschied zwischen abstrakter Politik und dialektischer Methode zeigt sich sehr gut anhand der Herausbildung der Leninschen Position über die revolutionäre Taktik in der Periode von 1914 bis 1917. Im August 1914 schuf die Spaltung der II. Internationale eine völlig neue Situation. Im Lichte des beispiellosen Verrats durch die Sozialdemokratie war es notwendig, die kleinen und isolierten Kräfte des Marxismus international neu zu gruppieren und zu schulen. Lenin legte in dieser Phase ein besonderes Augenmerk auf die grundlegenden Prinzipien des revolutionären Internationalismus, vor allem betonte er die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur alten Internationale und eine unversöhnliche Opposition zu allen Formen des Patriotismus (revolutionärer Defätismus). Um die Zweifel und die Schwankungen der bolschewistischen Führer zu bekämpfen, versuchte Lenin, diese Ideen in möglichst scharfen Ausdrücken zu verpacken – wie „den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln“ und „die Niederlage der eigenen Bourgeoisie ist das kleinere Übel“. Man könnte argumentieren, dass er dabei zuweilen übertrieben hat. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Lenin den Bogen überspannte. In den grundlegenden Fragen gibt es aber keinen Zweifel, dass Lenins Linie richtig war. Wenn wir aber seine Methode nicht verstehen, nicht nur was er geschrieben hat, sondern auch warum er es geschrieben hat, werden wir nicht weiterkommen.

Linksradikale und sektiererische Gruppen wiederholen immer wieder Lenins Worte, ohne auch nur eine einzelne Zeile wirklich verstanden zu haben. Sie nehmen seine Schriften über den Krieg als etwas Absolutes, unabhängig von Ort und Zeit. Sie verstehen nicht, dass Lenin damals nicht für die Massen, sondern für eine kleine Handvoll von Kadern in einem bestimmten historischen Kontext geschrieben hat. Wenn wir das nicht verstehen, können wir einen fundamentalen Fehler begehen. Um den Chauvinismus zu bekämpfen und die Unmöglichkeit einer Versöhnung mit der Sozialdemokratie, und insbesondere seinem linken Flügel (Kautsky und das „Zentrum“), zu betonen, verwendete Lenin einige Formulierungen, die zweifelsohne übertrieben waren. Diese Übertreibungen führten z. B. dazu, dass er Trotzkis Position als „zentristisch“ bezeichnete, was völlig unkorrekt war. Unendliche Verwirrung war die Folge einer einseitigen Interpretation der Leninschen Position in dieser Periode.

Als Lenin im März 1917 nach Russland zurückkehrte, änderte er seine Position fundamental. Nicht dass seine Ablehnung des imperialistischen Krieges oder seine Opposition gegen den Sozialchauvinismus nun kleiner gewesen wären. Er blieb weiterhin extrem wachsam in Bezug auf ein Abweichen der bolschewistischen Führer in der Frage des Krieges. Lenins Position unterschied sich nach dem März 1917 aber ganz wesentlich von den Losungen, die er kurz zuvor noch vertreten hatte. Er sah, dass unter den konkreten Rahmenbedingungen die Masse der Arbeiter und Bauern Illusionen in die „Verteidigung der Revolution“ hatten. Es war für die Bolschewiki absolut unerlässlich, auf diese Stimmung zu reagieren. Hätte Lenin seine alte Position beibehalten, wäre das völlig dogmatisch gewesen. Es hätte die Bolschewiki von der realen Bewegung der ArbeiterInnen und Bauern abgeschnitten. Nur hoffnungslose Dogmatiker hätten diesen Unterschied nicht erkannt.

In einer Rede an die Delegierten der bolschewistischen Fraktion in den Sowjets erklärte Lenin:

„Die Massen gehen an die Frage nicht theoretisch, sondern praktisch heran. Unser Fehler ist das theoretische Herangehen. Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigt, kann der klassenbewußte Proletarier zustimmen. Bei den Vertretern der Soldatenmassen muß man praktisch an die Frage herangehen, anders geht es nicht. Wir sind durchaus keine Pazifisten. Die Grundlage ist aber: Welche Klasse führt den Krieg? Die Klasse der Kapitalisten, die mit den Banken eng verknüpft ist, kann keinen anderen Krieg führen als einen imperialistischen. Die Arbeiterklasse kann es.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 36, S. 423)

Es ist eine Tatsache, dass die Losungen des „revolutionären Defätismus“ bei der Vorbereitung der Massen auf die Oktoberrevolution keine Rolle spielten. Nicht „die Niederlage Russlands ist das kleinere Übel“ sondern „Frieden, Brot und Land“ und „Alle Macht den Sowjets“ waren nun die Hauptforderungen der Bolschewiki, die zum Sieg des Oktoberaufstandes führten. Wir werden den genauen Inhalt dieser Slogans später untersuchen.

Einige könnten denken, dass Lenins Position eine „ernsthafte Abkehr von der Sichtweise Lenins“ darstellte. Und von einem formalistischen, dogmatischen Standpunkt aus gesehen stimmt das auch. Der Punkt ist aber, dass es unmöglich ist, die Massen zu gewinnen, wenn man keine flexible Taktik hat, die das reale Niveau des Bewusstseins der Arbeiterbewegung in Betracht zieht. Bevor man aber von der Eroberung der Macht sprechen kann, muss man erst die Massen erobern. Ohne diese Grundvoraussetzung ist das ganze Gerede von Aufstand, Sturz des Staates, „unvermeidlichem Bürgerkrieg“, revolutionärer Gewalt, militärischen Vorbereitungen und so weiter reines Geschwätz.

„Jedes Gemüse hat seine Saison“ – und jede Losung hat ihre Zeit und ihren Platz. Die Vorstellung, dass Losungen abseits von Zeit und Ort stehen, ist charakteristisch für die sektiererische Psychologie. Da Politik für sie eine Sache kleiner Zirkel ohne Kontakt zur realen Welt ist, interessiert sie die Einstellung der Massen auch nicht. Eine wirklich marxistische Tendenz, die danach strebt, die Massen, beginnend mit den fortschrittlichsten Schichten, zu gewinnen, muss sich die Frage aber ganz anders stellen.

Als Lenin nach Russland zurückkehrte, wollte ein Teil der Bolschewiki unter dem Einfluss der Ungeduld mancher Arbeiter zu sehr vorauseilen. Sie ahmten die Linksradikalen und Anarchisten nach und erhoben die revolutionäre Forderung „Nieder mit der Provisorischen Regierung“. Das war die Losung des Aufstands. Wie verhielt sich Lenin gegenüber dieser Strömung? Er war absolut dagegen. Warum? Weil diese Forderung keinesfalls dem wirklichen Niveau der Bewegung entsprach. Lenin war bis in die kleinste Fingerspitze ein Revolutionär, trotzdem war er ganz klar gegen diese Forderung. Stattdessen orientierte er die Partei auf die Eroberung der Massen. „Geduldig erklären“ war die Devise.

Wäre es nicht Lenins Pflicht gewesen, für den Bürgerkrieg einzutreten? Lenin jedoch prangerte zu einem bestimmten Zeitpunkt sogar jene an, die behaupteten, er stehe für einen Bürgerkrieg. Er stellte klar, dass die Bolschewiki nicht für Gewalt waren, und legte die volle Verantwortung für Gewaltausbrüche auf die Schultern der herrschenden Klasse. Das passte den Ultralinken natürlich gar nicht, da diese nicht verstehen wollten, dass neun Zehntel der sozialistischen Revolution darin bestehen, durch Propaganda, Agitation, Erklärung und Organisation die Massen zu gewinnen. Ohne das ist das ganze Gerede von Bürgerkrieg und Aufstand nur leeres Geschwätz irgendwelcher Schreibtischrevolutionäre oder unverantwortliches Abenteuertum (bzw. in der wissenschaftlichen Terminologie des Marxismus auch ‚Blanquismus‘ genannt).

Lenin meinte dazu:
„Wenn wir vom Bürgerkrieg reden, noch ehe die Menschen seine Notwendigkeit begriffen haben, verfallen wir unzweifelhaft in Blanquismus.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 225)

Nicht die Bolschewiki sondern die Bourgeoisie und ihre reformistischen Verbündeten sprachen ständig vom Gespenst der Gewalt und des Bürgerkriegs. Wie reagierte Lenin darauf? Machte er „furchtlose“ revolutionäre Reden, nahm er den Fehdehandschuh auf und warf er diesen dem Feind ins Gesicht? Sprach er von der Unvermeidbarkeit des Bürgerkriegs? Im Gegenteil, immer wieder leugnete er, dass die Bolschewiki Gewalt propagierten. Am 25. April protestierte er in der „Prawda“ gegen die „dunklen Anspielungen“ von „Minister Nekrasov“ über „das Predigen von Gewalt“ durch die Bolschewiki:

„Sie lügen, Herr Minister und Mitglied der Partei der ‚Volksfreiheit‘. Gewaltpropaganda betreibt Herr Gutschkow, wenn er Soldaten, die ihre Vorgesetzten absetzen, Strafen androht, Gewaltpropaganda betreibt die Ihnen befreundete ‚Russkaja Wolja‘, die Pogromzeitung der Pogrom–‚Republikaner‘.
Die ‚Prawda‘ und ihre Gesinnungsgenossen betreiben nicht nur keine Gewaltpropaganda, im Gegenteil, völlig klar, eindeutig und bestimmt erklären sie, daß der Schwerpunkt unserer Arbeit jetzt ganz und gar in der Aufklärung der proletarischen Massen über ihre proletarischen Aufgaben liegt, die sie von dem vom chauvinistischen Taumel ergriffenen Kleinbürgertum unterscheiden.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 96-97)

Am 4. Mai beschloss das Zentralkomitee der Bolschewiki eine von Lenin geschriebene Resolution mit dem Ziel, die Petrograder Parteiführung, die den Ereignissen vorauseilte, zu bremsen. Die volle Verantwortung für jegliche Gewalt wurde auf die Provisorische Regierung und ihre Unterstützer geschoben, um so die „kapitalistische Minderheit“ und ihre „Ablehnung, sich dem Willen der Mehrheit unterzuordnen“, zu beschuldigen. Hier zwei Absätze dieser Resolution:

„1. Die Agitatoren und Redner der Partei müssen die niederträchtige Lüge der kapitalistischen und kapitalistenfreundlichen Zeitungen entlarven, wonach wir angeblich mit Bürgerkrieg drohen. Das ist eine niederträchtige Lüge, denn gerade im gegenwärtigen Augenblick, solange die Kapitalisten und ihre Regierung nicht imstande sind und es nicht wagen, Gewalt gegen die Massen anzuwenden, solange die Soldaten- und Arbeitermasse ihren Willen frei kundtut und alle Behörden frei wählt und absetzt – in einem solchen Augenblick ist jeder Gedanke an einen Bürgerkrieg naiv, sinnlos, absurd, in einem solchen Augenblick ist die Unterordnung unter den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und die freie Kritik an diesem Willen seitens der unzufriedenen Minderheit notwendig; wenn es zu Gewalttätigkeiten kommt, so fällt die Verantwortung auf die Provisorische Regierung und ihre Anhänger.
2. Die Regierung der Kapitalisten und ihre Zeitungen verhüllen durch ihr Geschrei gegen den Bürgerkrieg nur die Tatsache, daß sich die Kapitalisten, die bekanntlich eine verschwindende Minderheit des Volkes ausmachen, nicht dem Willen der Mehrheit unterordnen wollen.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 189)

Lenin verstand, dass die Arbeiterklasse aus Erfahrungen lernt, besonders aus den Erfahrungen großer Ereignisse. Der einzige Weg, wie eine kleine revolutionäre Strömung die Massen erreichen kann, ist, den Lauf der Ereignisse Schulter an Schulter mit den Massen zu verfolgen, an den tagtäglichen Kämpfen teilzunehmen, Forderungen aufzustellen, die dem tatsächlichen Niveau der Bewegung entsprechen und geduldig die Notwendigkeit einer völligen Veränderung der Gesellschaft als einzigen Ausweg zu erklären.

Mit schrillen Rufen nach Aufstand und Bürgerkrieg wird man die Massen, ja selbst die fortschrittlichsten Schichten, nicht gewinnen können – im Gegenteil. Wie wir gesehen haben, gilt dies sogar inmitten einer Revolution. Und in der gegenwärtigen Phase, in welcher der revolutionäre Umsturz des Kapitalismus nicht einmal in den Köpfen der fortschrittlichsten Arbeiter eine echte Rolle spielt, ist dies hundertmal mehr der Fall. Im Gegenteil, wir müssen die Schuld für Gewalt und Bürgerkrieg den reformistischen Führern geben, die es in der Hand hätten, die Macht friedlich zu übernehmen, und ein Blutvergießen unvermeidlich machen, weil sie eben gerade diesen Schritt ablehnen. Dies war die Position, die unsere Strömung immer eingenommen hat. Wer meint, darin eine „sehr ernste Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis“ finden zu können, wird nach ernsthafter Studie der Taktik der Bolschewiki im Jahre 1917 aber erkennen, dass gerade das Gegenteil der Fall ist.

„Alle Macht den Sowjets“

Jeder weiß, dass dies 1917 die zentrale Losung von Lenin und Trotzki war. Aber nur wenige haben den wirklichen Inhalt dieser Forderung verstanden. Was bedeutete nun die Losung „Alle Macht den Sowjets“? Bürgerkrieg? Aufstand? Die Machtergreifung durch die Bolschewiki? Weit gefehlt. Die Bolschewiki waren in den Sowjets eine Minderheit. Die reformistischen Parteien, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, dominierten die Sowjets. Die zentrale Aufgabe war nicht die Machtübernahme, sondern die Mehrheit, die Illusionen in die Reformisten hegte, für die Bolschewiki zu gewinnen.

Die Bolschewiki stützten ihre „geduldigen Erklärungen“ auf die Idee, die sich wie ein roter Faden durch Lenins Artikel und Reden von März bis zum Vorabend des Oktoberaufstandes zieht, wonach die reformistischen Führer selber die Macht übernehmen sollten, da dies eine friedliche Umwälzung der Gesellschaft ermögliche, was die Bolschewiki aus vollem Herzen unterstützen würden. Falls die reformistischen Führer die Macht übernähmen, würden sich die Bolschewiki auf den friedlichen Kampf für eine Mehrheit in den Sowjets beschränken.

Hier ein paar Beispiele, wie Lenin 1917 argumentierte:

„Allem Anschein nach haben nicht alle Anhänger der Losung ‚Übergang der gesamten Macht an die Sowjets!‘ zur Genüge erfaßt, daß das die Losung der friedlichen Vorwärtsentwicklung der Revolution war. Friedlich nicht nur in dem Sinne, daß sich niemand, keine Klasse, keine ernsthafte Kraft damals (vom 27. Februar bis zum 4. Juli) dem Übergang der Macht an die Sowjets hätte widersetzen und ihn verhindern können. Das ist noch nicht alles. Die friedliche Entwicklung wäre damals möglich gewesen, sogar in der Beziehung, daß der Kampf der Klassen und Parteien innerhalb der Sowjets, wenn die ganze Fülle der Staatsmacht rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre, sich möglichst friedlich und schmerzlos hätte abspielen können.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Bd. 25, S. 182)

„Weitere Bedingungen würden die Bolschewiki, denke ich, nicht stellen, da sie sich darauf verlassen, daß sie tatsächlich volle Agitationsfreiheit und die unverzügliche Verwirklichung eines neuen Demokratismus bei der Zusammensetzung (Neuwahlen) und der Tätigkeit der Sowjets die friedliche Vorwärtsentwicklung der Revolution und das friedliche Austragen des Parteienkampfes innerhalb der Sowjets ganz von selbst sichern würden.
Vielleicht ist das schon nicht mehr möglich? Vielleicht. Aber wenn auch nur eine Cance unter hundert besteht, so wäre der Versuch, eine solche Möglichkeit zu verwirklichen, immerhin wert, gemacht zu warden.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Band 25, S. 315)

„Unsere Sache ist es zu helfen, damit alles getan werde, um die “letzte” Chance einer friedlichen Entwicklung der Revolution zu sichern, zu helfen, indem wir unser Programm darlegen, indem wir seinen Charakter als Programm des ganzen Volkes, seine absolute Übereinstimmung mit den Interessen und Forderungen der gewaltigen Mehrheit der Bevölkerung erläutern.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Band 26, S. 43)

„Durch die Übernahme der ganzen Macht könnten die Sowjets jetzt noch – und wahrscheinlich ist das die letzte Chance – die friedliche Entwicklung der Revolution sichern, die friedliche Wahl der Deputierten durch das Volk, den friedlichen Kampf der Parteien innerhalb der Sowjets, die Erprobung der Programme der verschiedenen Parteien, den friedlichen Übergang der Macht aus den Händen einer Partei in die einer anderen.“ (Lenin, Gesammelte Werke, Band 26, S. 51)

Und Trotzki fasste in der „Geschichte der Russischen Revolution“ diese Position folgendermaßen zusammen:

„Der Übergang der Macht an die Sowjets bedeutete unmittelbar den Übergang der Macht an die Versöhnler. Das konnte sich friedlich abspielen, durch einfache Entlassung der bürgerlichen Regierung, die sich durch den guten Willen der Versöhnler und die Reste des Vertrauens der Massen zu diesen hielt. Die Diktatur der Arbeiter und Soldaten war Tatsache seit dem 27. Februar. Aber Arbeiter und Soldaten legten sich über diese Tatsache nicht die nötige Rechenschaft ab. Sie vertrauten die Macht den Versöhnlern an, die ihrerseits diese der Bourgeoisie übergaben. Das Kalkül der Bolschewiki auf eine friedliche Entwicklung der Revolution beruhte nicht darauf, daß die Bourgeoisie freiwillig die Macht den Arbeitern und Soldaten abtreten würde, sondern darauf, daß die Arbeiter und Soldaten rechtzeitig die Versöhnler hindern würden, der Bourgeoisie die Macht auszuliefern.
Die Konzentrierung der Macht in den Sowjets unter dem Regime der Sowjetdemokratie hätte den Bolschewiki die volle Möglichkeit gegeben, die Mehrheit in den Sowjets zu werden und folglich auch eine Regierung auf der Basis ihres Programms zu schaffen. Ein bewaffneter Aufstand war für dieses Ziel nicht erforderlich. Die Ablösung der Parteien an der Macht hätte sich auf friedlichem Wege vollziehen können. Alle Bemühungen der Partei waren von April bis Juli darauf gerichtet, der Revolution durch die Sowjets eine friedliche Entwicklung zu sichern. ‚Geduldig aufklären‘– das war der Schlüssel der bolschewistischen Politik.“ (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (1), S. 661-662)

Aber vielleicht blufften Lenin und Trotzki nur? Vielleicht propagierten sie die Idee eines friedlichen Übergangs nur, um bei den Arbeitern an Popularität zu gewinnen, indem sie sich an deren reformistische und pazifistische Illusionen anpassten? Wer so etwas glaubt, hat nichts von der Methode Lenins und Trotzkis verstanden. Die beiden waren ehrliche, furchtlose Revolutionäre. Vor der Dewey-Kommission stellt Trotzki als Zeuge ganz klar fest:
„Ich glaube, daß die marxistische, die revolutionäre, Politik allgemein eine sehr einfache Politik ist: ‚Sag, was ist! Lüge nicht! Sag die Wahrheit!‘ Es ist eine sehr einfache Politik.“ (The Case of Leon Trotsky, S. 384)

Die Bolschewiki hatten nicht zwei verschiedene Programme, eins für die wenigen Gebildeten und ein anderes für die „ungebildeten“ Arbeiter. Lenin und Trotzki sagten der Arbeiterklasse immer die Wahrheit, selbst wenn diese bitter und unangenehm war. 1917, inmitten der Revolution, bestanden sie auf der Idee, dass eine friedliche Transformation möglich sei (dass es nicht nur eine „theoretische“ sondern auch eine reale Möglichkeit darstellte) – unter der einzigen Bedingung, dass die reformistischen Führer entschieden dafür aktiv würden. Hätte die Führung der Sowjets entschieden gehandelt, wäre die Revolution friedlich vonstatten gegangen, ohne Bürgerkrieg, weil sie die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft gehabt hatte. Indem sie die Arbeiter und Bauern auf diese einfache Tatsache hinwiesen, erzählten Lenin und Trotzki keine Lügen, sie sagten der Masse der Arbeiter und Bauern nur, was offensichtlich richtig war.

Lenin behielt diese Position bis Juli bei. Warum wurde sie dann geändert? Aufgrund der Feigheit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die eine Machtübernahme ablehnten, übernahm die Reaktion unvermeidlich die Initiative. Hinter den Rockzipfeln der russischen Volksfront (der Provisorischen Regierung) bereitete die herrschende Klasse ihre Rache vor. Das Ergebnis dessen war die Reaktion der „Julitage“.
Auf Basis der Juliereignisse kam Lenin zu dem Schluss, dass ein friedlicher Ausgang nun unmöglich war, dass der Bürgerkrieg unvermeidlich war und die Partei die Frage des Aufstandes sofort auf die Tagesordnung setzen musste. Wie Trotzki in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ aufzeigt, wurde Lenin dabei falsch verstanden. Lenin, der sich in Finnland verstecken musste, gab später zu, dass er nicht auf dem laufenden Stand gewesen war. Der eigentliche Grund für seinen Standpunkt war, dass er Angst hatte, Kamenev, Sinowjew und Stalin würden bei der Vorbereitung der Machtübernahme zu leicht schwanken. Dabei lag er gar nicht so falsch. Es ist ein Gesetz einer jeden Revolution, dass mit dem Herannahen des Datums für den Aufstand die Führung der revolutionären Partei unter enormen Druck von Seiten anderer Klassen gerät, und ein Teil beginnt dann zu schwanken.

„Geduldig erklären“

Trotzkis Position war aber zweifelsohne korrekt. Er verstand die Notwendigkeit, in den Sowjets bis zum Moment des Aufstands die Mehrheit zu gewinnen, und er schlug sogar (gegen die Opposition Lenins) vor, den Tag des Aufstandes auf das Datum des Sowjetkongresses zu verschieben, an dem die Bolschewiki die Mehrheit gehabt hätten. Das heißt, selbst im Zuge des Aufstands ist die Frage der Legalität alles andere als nebensächlich, sondern nimmt eine entscheidende Rolle bei der Überzeugung ganzer Schichten der Arbeiterklasse ein.

Indem sie die Widersprüche zwischen den Worten und Taten der reformistischen Führer aufzeigten, bereiteten die Bolschewiki den Weg dafür, dass sie in den Sowjets und auch in der Armee (die ebenfalls in den Sowjets vertreten war) binnen weniger Monate die Mehrheit gewinnen konnten. Auf diese Art und Weise bereiteten die Bolschewiki in Wirklichkeit den Aufstand im Oktober 1917 vor – nicht indem sie darüber redeten, sondern indem sie die Massen und ihre Organisationen mit flexiblen Taktiken und Losungen beeinflussten, die wirklich mit den Anforderungen der jeweiligen Situation korrespondierten und mit dem Bewusstsein der Massen verbunden waren, und nicht mit irgendwelchen leblosen Abstraktionen, die sie aus einem revolutionären Kochbuch auswendig gelernt haben.

Der einzige Grund, warum es in Russland 1917 keine friedliche Revolution gab, lag an der Feigheit und am Verrat der reformistischen Führer in den Sowjets. Das erklärten Lenin und Trotzki immer und immer wieder.

Solange die revolutionäre Partei nicht die Massen gewonnen hat, ist es sinnlos und kontraproduktiv, einen Schwerpunkt auf die angebliche Unvermeidlichkeit von Gewalt und Bürgerkrieg zu legen. Solch ein Ansatz „schult“ die Kader nicht und bereitet sie auch nicht auf eine seriöse revolutionäre Arbeit vor (die zum jetzigen Zeitpunkt ohnedies fast zur Gänze in einer geduldigen Vorbereitungsarbeit liegt, um unter ArbeiterInnen und der Jugend sowie in der Arbeiterbewegung eine Verankerung aufzubauen), sondern verwirrt und desorientiert die GenossInnen mit größter Wahrscheinlichkeit eher und entfremdet uns von den ArbeiterInnen, die wir eigentlich gewinnen wollen.

Wie bereitet sich eine marxistische Strömung konkret auf die Macht vor? Indem sie versucht, die Massen zu gewinnen. Wie kann das erreicht werden? Indem sie ein Programm von Übergangsforderungen ausarbeitet, das an der realen Situation in der Gesellschaft und den objektiven Bedürfnissen der Arbeiterklasse und der Jugend ansetzt, das die unmittelbaren Forderungen mit der zentralen Idee der Enteignung der Kapitalisten und der Transformation der Gesellschaft verbindet. Wie Lenin und Trotzki oftmals erklärten, liegen neun Zehntel der Aufgaben bei einer Revolution genau darin. Wenn man diese Tatsache nicht verstanden hat, dann reduziert sich das ganze Gerede vom bewaffneten Kampf, „militärischen Vorbereitungen“ und Bürgerkrieg auf eine unverantwortliche Demagogie.

Wie wir gezeigt haben, haben die Bolschewiki noch als kleine Minderheit in den Sowjets, die damals noch von den mit der Bourgeoisie verbundenen Menschewiki und Sozialrevolutionären dominiert wurden, nicht mit dem Aufstand gespielt, sondern sich darauf konzentriert, in den Sowjets die Mehrheit zu gewinnen („geduldiges Erklären“). Die ArbeiterInnen und die Bauernschaft vertrauten den reformistischen Führern damals wie heute. Das war der Ausgangspunkt für die Bolschewiki, und er ist es auch für uns.

Solange sie in der Minderheit waren, taten Lenin und Trotzki alles, um die ArbeiterInnen und Soldaten zu bremsen, um eine zu frühe Konfrontation mit dem Staate zu vermeiden. Friedliche Agitation und Propaganda standen im Mittelpunkt ihrer Arbeit. So stellte sich Lenin z. B. gegen eine bewaffnete Demonstration im Juni. Lenin und Trotzki zogen sich damit sogar den Ärger von Teilen der Arbeiterschaft zu, die der Klasse etwas zu weit vorausgeeilt waren. Sie wurden des Opportunismus beschuldigt, weil sie die Frage des bewaffneten Aufstandes zu wenig behandelten.

Sie hatten aber verstanden, dass es zuerst einmal galt, die Mehrheit der ArbeiterInnen und der Bauernschaft, die noch immer unter dem Einfluss der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre standen, zu gewinnen. Durch eine flexible Taktik gewannen die Bolschewiki in den Monaten vor dem Oktober eine Mehrheit in den Sowjets. Dadurch, und nur dadurch, erklärt sich der relativ friedliche Charakter des Oktoberaufstands. Der Grund dafür war nicht vorrangig militärisch, sondern die Tatsache, dass neun Zehntel der Arbeit schon zuvor erledigt wurden.

War die Oktoberrevolution friedlich?

1917 gab es nicht eine sondern zwei Revolutionen, die noch dazu von einer Periode der Reaktion (Juli bis September) einschließlich einer militärischen Offensive voneinander getrennt waren. Auf die Oktoberrevolution folgte ein vierjähriger Bürgerkrieg, im Zuge dessen Russland von 21 ausländischen Armeen überfallen wurde und dem Millionen zum Opfer fielen. Wir haben hier also eine Periode von Revolution und Konterrevolution und nicht einfach einen „Triumphzug“. Lenin und Trotzki betonten aber, dass sowohl die Februar- wie auch die Oktoberrevolution weitgehend eine friedliche Angelegenheit darstellten (soweit das bei einer Revolution überhaupt gesagt werden kann). Zitieren wir einige Beispiele – zuerst in Bezug auf die Februarrevolution:

„Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, daß Petrograd die Februarrevolution vollbrachte. Das übrige Land schloß sich ihm an. Nirgends außer in Petrograd gab es Kampf. Im ganzen Land fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen oder Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen. Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede der Reaktionäre war, wonach das Schicksal der Monarchie sich anders gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd gewesen wäre oder wenn Iwanow eine zuverlässige Brigade von der Front gebracht hätte. Weder im Hinterlande noch an der Front war eine Brigade oder ein Regiment bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen.“ (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, erster Teil: Februarrevolution, S. 127)

Und die Oktoberrevolution? In seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ beschreibt Trotzki im Detail die Leichtigkeit, mit der Petrograd eingenommen werden konnte. Der friedliche Charakter der Revolution wurde dadurch gewährleistet, dass die Bolschewiki unter der Leitung von Trotzki bereits zuvor die Petrograder Garnison für sich gewonnen hatten. Im Kapitel „Die Eroberung der Macht“ erklärt er, wie die Arbeiter die Kontrolle über die äußerst wichtige Peter-Paul-Festung gewannen:

„Alle Truppenteile der Festungsgarnison nehmen die Verhaftung des Kommandanten mit voller Befriedigung auf. Doch die Radler verhalten sich ausweichend. Was steckt hinter ihrem düsteren Schweigen: lauernde Feindseligkeit oder letztes Schwanken? ‚Wir beschließen, ein Sondermeeting für die Radler zu veranstalten‘, schreibt Blagonrawow, ‚und dazu unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, in erster Linie Trotzki, der riesige Autorität und Einfluß bei den Soldatenmassen genießt‘. Gegen 4 Uhr nachmittags versammelte sich das ganze Bataillon im Gebäude des benachbarten Zirkus Modern. Als Sprecher der Regierung trat Generalquartiermeister Poradelow auf, der als Sozialrevolutionär galt. Seine Einwände waren derart vorsichtig, daß sie zweideutig klangen. Umso vernichtender griffen die Vertreter des Komitees an. Die letzte oratorische Schlacht um die Peter-Paul-Festung endete, wie zu erwarten war: mit allen Stimmen gegen dreißig hieß das Bataillon Trotzkis Resolution gut. Wieder war einer der möglichen bewaffneten Konflikte vor dem Kampfe und ohne Blut entschieden worden. Das eben ist der Oktoberaufstand. Dieses sein Stil.“ (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (2), S. 870, unsere Hervorhebung)

Es dauerte etwas länger, bis die Sowjetmacht auch in Moskau etabliert werden konnte, was vor allem auf die Fehler der lokalen Führung der Bolschewiki zurückzuführen ist. Trotzki bestand jedoch darauf, dass die bolschewistische Revolution weitgehend friedlich war, bis die ausländischen Truppen intervenierten, um die Revolution im Blut zu ertränken.

Ultralinke Politik

In der Verhandlung von Minneapolis im Jahre 1941 nannte James P. Cannon den Aufstand in Petrograd „nur eine kleine Rauferei, das ist alles“ (Socialism on Trial, S. 64). Das wurde später vom ultralinken Grandizo Munis aufgenommen, um zu fordern, dass die SWP offen für Gewalt und Bürgerkrieg eintreten und die Verteidigungspolitik bei der Verhandlung als „Opportunismus“ verurteilen sollte. In Wirklichkeit deckte sich die Position der SWP-Führung zumindest in dieser Frage völlig mit dem Ratschlag, den Trotzki in der vorangegangenen Periode gegeben hatte.

„Unsere Formel in diesem Fall“, antwortete Cannon, „ist auch die Formel der marxistischen Lehrer. Sie bestanden nicht nur darauf, daß eine friedliche Veränderung der Gesellschaft wünschenswert wäre, sondern sie betrachteten eine solch friedliche Revolution unter gewissen außergewöhnlichen Bedingungen auch als möglich. Wir haben eine solche Perspektive für die USA abgelehnt, gleichzeitig haben wir erklärt, daß wir dafür wären und beschuldigten die herrschende Bourgeoisie als die Anstifter der Gewalt. Darin sind wir völlig loyal zur marxistischen Lehre und Tradition.“ (Munis und Cannon, What policy for revolutionists – Marxism or Ultra-leftism, S. 36)

Nebenbei gesagt, die ultralinke Politik, die Munis befürwortete, hätte unter den gegebenen Umständen die TrotzkistInnen nicht nur von der amerikanischen Arbeiterklasse abgeschnitten, es hätte zur totalen Zerstörung der Partei geführt (sie wurde später durch die falsche Politik der SWP-Führung zerstört, aber das ist eine andere Debatte). Alle Argumente, die Lenin und Trotzki in Bezug auf die Russische Revolution verwendeten, gelten heute hundertmal mehr. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist heute unendlich günstiger für das Proletariat, vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Ohne den Verrat durch die Sozialdemokratie und den Stalinismus hätte die Arbeiterklasse in den letzten sieben Jahrzehnten in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien oder Deutschland schon längst die Macht übernommen.

Trotzkis Position zur Gewalt

Die Behauptung, dass eine Massenbewegung von ausreichender Stärke unter bestimmten Bedingungen zu einem Machtwechsel ohne Bürgerkrieg führen kann, ist keine Erfindung unserer Strömung. Als Zeuge vor der Dewey-Kommission wurde Trotzki gefragt, ob die politische Revolution in der UdSSR unvermeidlich einen blutigen Sturz der herrschenden stalinistischen Kaste bedeuten würde. Wir drucken hier seinen Kommentar in voller Länge ab:

„Finerty: Mit anderen Worten, selbst in der politischen Revolution und dem Sturz der Bürokratie würden Sie es nicht ins Auge fassen, daß es notwendig wäre, selbst aus defensiven Gründen heraus, die Bürokratie persönlich zu zerstören oder sie persönlich auszulöschen?

Trotzki: Ich bin mir sicher, daß wenn die Stunde der Revolution kommt, die politische Revolution, in Rußland, daß das dann eine so mächtige Erhebung der Massen sein wird, daß die Bürokratie genauso wie das zaristische Regime in der Februarrevolution sofort ohne Orientierung und unorganisiert sein wird.
Finerty: Also, Herr Trotzki, es gehört also nicht zu ihrer politischen Philosophie, gegen die Bürokratie individuelle Terrorakte oder auch Massenterror einzusetzen?

Trotzki: Massenterror hängt von den Umständen der Bürokratie selbst ab. Ich wiederhole, ich hoffe, selbst in einem kritischen Moment, wird diese mächtige und schreckliche Bürokratie absolut mitleidserweckend sein, und dann könnte die Revolution sogar unblutiger sein als die Februarrevolution in unserem Land und auch als die Oktoberrevolution. Aber dafür kann ich keine Verantwortung übernehmen. Falls die Bürokratie sich den Massen entgegenstellt, werden diese natürlich scharfe Maßnahmen ergreifen. Aber individuelle Vernichtung, nein. Das ist keine revolutionäre Perspektive.
Finerty: Und keine politische Notwendigkeit?

Trotzki: Keine politische Notwendigkeit.“ (The Case of Leon Trotsky, S. 376-377)

Wir sollten nicht vergessen, dass wir hier über eine monströse totalitäre Diktatur sprechen, in der alle Rechte unterdrückt wurden, ein Regime, in dem Mord, Folter und Konzentrationslager zum Alltag gehörten. Trotzdem sah Trotzki die Perspektive, dass eine revolutionäre Bewegung derart stark sein könnte, dass sie die Bürokratie paralysiert und hilflos dastehen lässt.

War das nun lediglich ein Hirngespenst Trotzkis? Im Gegenteil. Schauen wir uns nur an, was in Osteuropa 1989 passierte. Die Massenbewegungen gegen die stalinistischen Regime in der DDR, in Polen und der Tschechoslowakei schockten die demoralisierte Bürokratie derart, dass diese wie ein Kartenhaus zusammenbrach, obwohl sie in ihren Händen die schrecklichsten Unterdrückungsinstrumente hatte. Natürlich, in Abwesenheit eines subjektiven Faktors führte der Zusammenbruch der Bürokratie zu einer Bewegung in Richtung Kapitalismus. Das ändert aber nichts an der Substanz unseres Arguments. Trotzki erklärte schon vor Langem, dass die Gesetze von Revolution und Konterrevolution sehr ähnlich sind. Die Tatsache bleibt, dass der Übergang von einem gesellschaftlichen Regime zu einem anderen friedlich, ohne Bürgerkrieg, durchgeführt wurde. Die herrschende Bürokratie gab auf, ohne auch nur einen Schuss abgefeuert zu haben.

Was heißt das nun ganz konkret? Der totalitäre Staat in Russland und in Osteuropa war wahrscheinlich der mächtigste Repressionsapparat in der Geschichte. Er schien allgemein als unzerstörbar. Selbst die Bourgeoisie sprach von einem „Monolithen“, der sich ihrer Meinung nach über Jahrhunderte halten könnte (bis zum Zeitpunkt der Wahrheit teilte die stalinistische Bürokratie diese Illusion). Es ist charakteristisch für eine dem Untergang geweihte herrschende Elite, dass sie eine nahezu abergläubische Hoffnung in die Macht der Polizei, des Geheimdienstes und der Armee setzt. MarxistInnen gehen aber von realen gesellschaftlichen Beziehungen aus und nicht von der Anzahl an Polizisten, Spionen und Soldaten, die vom Staat bezahlt werden, oder der Existenz moderner Kampfbomber oder anderem technischen Zerstörungspotenzial (das ist ein sehr altes Argument und würde, falls es stimmte, eine Revolution überhaupt unmöglich machen).

All diese technischen Zerstörungspotenziale standen der Bürokratie zur Verfügung. Jawohl, und genügend Polizisten und Soldaten, um sie einzusetzen – zumindest auf dem Papier. Im entscheidenden Moment wurden sie aber nicht eingesetzt. In der Bibel fielen die Mauern von Jericho durch einen Trompetenstoß von Josuah. Die stalinistischen Regime brachen selbst ohne eine solche musikalische Begleitung zusammen. Warum setzte die herrschende Elite nicht einfach die Kampfbomber ein? Oder die Panzer oder irgendwelche anderen ihr zur Verfügung stehenden Repressionsmittel? Ein einfacher Befehl hätte genügt. Warum wurde dieser Befehl nicht gegeben? Weil die Bürokratie durch die Massenbewegung völlig demoralisiert und gelähmt war. Wie De Gaulle 1968 erkannten sie, dass das Spiel vorbei ist und Widerstand zwecklos war.

Wie lässt sich die Paralyse der Bürokratie erklären? Ihre Demoralisierung war das Ergebnis der Ausweglosigkeit des Regimes, das nicht mehr fähig war, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln. Schon 1973 sagten wir den Zusammenbruch des Stalinismus voraus, weil die Bürokratie aufgehört hatte, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln. Die Bürokratie wurde somit von einer relativ fortschrittlichen Kraft zu einer absoluten Bremse in der Gesellschaft. Dies gilt nun in zunehmendem Maße für die Bourgeoisie im Westen. Was einer revolutionären Transformation im Wege steht, ist nicht die Stärke der Bourgeoisie oder ihres Staates, sondern die temporäre Trägheit der Arbeiterklasse, die sich erst langsam der Tiefe der sozialen Krise bewusst wird.

In der kommenden Periode, die eine sehr stürmische sein wird, wird es in einem Land nach dem anderen revolutionäre Gelegenheiten geben. Die Ereignisse des Jahres 1968 werden sich auf einer um vieles höheren Ebene wiederholen. Der Staat in den Händen der westlichen Bourgeoisie ist bei Weitem nicht so mächtig wie jener der totalitären Regime in Osteuropa im Jahre 1989. Glaubt jemand, dass die Bourgeoisie in einer besseren Position sein wird als die stalinistische Bürokratie, um eine Massenbewegung zu zerschlagen? Lenin erklärte, dass jede Revolution mit einer Vertrauenskrise in der herrschenden Klasse beginnt, da sich diese nicht mehr imstande sieht, wie früher weiter zu herrschen. Die zweite Bedingung ist ein Gärungsprozess in den Mittelschichten, die zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat hin- und herschwanken. Die dritte Bedingung ist, dass die Arbeiterklasse bereit ist, für die Transformation der Gesellschaft zu kämpfen. Die Schlussbedingung ist die Existenz einer starken revolutionären Partei mit einer erfahrenen und weitsichtigen Führung.

Ungarn 1919

Unter außergewöhnlich günstigen Bedingungen kann die Krise der herrschenden Klasse, die mit einer ausreichend großen Massenbewegung konfrontiert ist, zu einem kampflosen Zusammenbruch des alten Regimes führen. In Ungarn war das der Fall, als die ungarische Bourgeoisie der Kommunistischen Partei, ohne einen Schuss abzufeuern, die Macht übergab. Leider führten die Fehler der unerfahrenen KP zur Niederlage. Trotzki dazu:

„Die Demütigung von Graf Karolyi vor der Entente endete in einer friedlichen Übergabe der Macht an die Arbeiterparteien ohne jegliche Revolution. Die Kommunisten von der Partei Bela Kuns beeilten sich, sich mit den Sozialdemokraten zu vereinen. Bela Kun bewies einen völligen Bankrott, vor allem in der Bauernfrage, was rasch zum Zusammenbruch der Sowjets führte.“ (Trotzki, On France, S. 118)

Ähnlich schmerzlos ging die Revolution 1918 in Deutschland über die Bühne. Ein Generalstreik, eine Meuterei in der Armee und der Marine, wo die Soldaten die reaktionärsten Offiziere unter Arrest stellten, Arbeiter- und Soldatenkomitees wurden gebildet und die Macht lag in den Händen der Arbeiterklasse. Alles in allem kamen nur 19 Menschen ums Leben. Mehr Menschen sterben normalerweise an einem Wochenende bei Verkehrsunfällen. Wo lag das Problem? Die Masse der Arbeiter und Soldaten, die erst neu zu politischem Leben erwacht sind, wandten sich unvermeidlich an die bestehenden Massenorganisationen. In Deutschland war das die Sozialdemokratie, an deren Spitze dieselben reformistischen Führer standen, die 1914 die Arbeiterklasse verraten hatten.

Noske und Scheidemann verrieten die Revolution und händigten die Macht der Bourgeoisie aus. Die deutsche Arbeiterklasse und die gesamte Welt zahlte 15 Jahre später für diesen Verrat mit der Machtübernahme durch Hitler, den Gaskammern und dem Zweiten Weltkrieg einen schrecklichen Preis. Dies ist ein mehr als deutliches Beispiel, wie die Weigerung der reformistischen Führer, die Macht zu übernehmen, selbst wenn dies mit friedlichen Mitteln möglich wäre, den Weg für ein Blutbad in der Zukunft ebnet. Das ist die wesentliche Lehre, die wir bei jeder Gelegenheit klar aussprechen müssen.

Portugal 1974

Das eindrucksvollste Beispiel für die Prozesse, die wir hier analysieren, war die Portugiesische Revolution im Jahre 1974. Hier kann man all die Prozesse ganz deutlich sehen. Nach beinahe 50 Jahren Diktatur, zuerst unter Salazar, dann unter Caetano, fiel das Regime wie ein fauler Apfel. Die inneren Widersprüche, welche das Regime unterminierten, spiegelten sich auch im Staatsapparat in Form der Herausbildung einer Oppositionsströmung im Offizierskorps wider.

Die nicht enden wollenden und blutigen Kolonialkriege in Angola, Mozambique und Guinea-Bissau spielten dabei eine wichtige Rolle. Die portugiesische Offizierskaste war nicht sehr typisch für die Armee eines imperialistischen Landes. Normalerweise sind die Offiziere Söhne aus wohlhabenden Familien, die hinter ihren Schreibtischen ein ruhiges und sicheres Leben fristen. Hier lag die Sache aber anders. Die Kriege in Afrika bedeuteten, dass der Militärdienst kein bequemer Ruheposten sondern ein gefährliches Geschäft war, das für die Jeunesse dorée wenig Anreize bot. Viele Offiziere kamen daher aus der Mittelklasse. Sie waren „Studenten in Uniform“. Einige dieser Offiziere begannen die Ideen des „Marxismus“ zu studieren und wurden dadurch beeinflusst. Aus Ablehnung des Krieges und der korrupten Diktatur wurden sie im Geheimen zu Sozialisten, Kommunisten oder Maoisten.

Der Putsch vom 25. April 1974 stellte ein besonders eigenartiges Phänomen dar. Die jungen Offiziere stürzten Caetano und riefen die Revolution aus, ohne wirklich zu verstehen, in welche Richtung sie sich bewegten, und öffneten somit die Tore für die Massen. Nach Jahrzehnten der faschistischen und bonapartistischen Herrschaft sahen wir ohne Führung von oben eine wunderbare Bewegung des portugiesischen Proletariats. Am 1. Mai 1974 gingen 3 Millionen ArbeiterInnen auf die Straße, bei einer Gesamtbevölkerung von 8 Millionen. Mit den ArbeiterInnen gemeinsam demonstrierten Soldaten und Matrosen mit der Waffe in der Hand.

Unter solchen Bedingungen konnte es absolut kein Gerede von „Bürgerkrieg“ geben. Ein Bürgerkrieg setzt voraus, dass es Kräfte gibt, die bereit sind, in Verteidigung der bestehenden Ordnung zu kämpfen. Nach dem 25. April existierten diese Kräfte in Portugal nicht mehr. Die Formel „bewaffnete Einheiten von Menschen“ greift hier nicht. Welche Kräfte wären bereit gewesen, die Arbeiterklasse zu bekämpfen? Die Antwort ist ziemlich klar, wenn man betrachtet, dass die bewaffneten Einheiten von Menschen auf der Seite der Massen standen. Bringen wir nur ein Beispiel dafür: Als die Arbeiter der großen Lisnave Schiffswerften in Lissabon in den Streik traten und vor dem Arbeitsministerium demonstrierten, wurden Truppen zusammengezogen. Angesichts einer kämpferischen Demonstration von 5000 Werftarbeitern mit Helmen reagierten die Soldaten folgendermaßen:

„Vor dem Mittagessen zirkulierte das Gerücht, daß wir raus müßten, und bald schon haben wir gewußt, daß es nach Lisnave gehen soll ... Wir formierten uns gegen Mittag und der Kommandant sagte uns, daß er einen Anruf erhalten habe, daß linke Agitatoren eine Demonstration von Lisnave her anführen würden. Unsere Aufgabe sei es, dies zu verhindern. Wir wurden besser bewaffnet als je zuvor, mit G3s und vier Magazinen.
... Die Demonstration begann und ein menschlicher Strom rückte an uns heran und skandierte ‚Die Soldaten sind die Söhne der Arbeiter‘, ‚Morgen werden die Soldaten Arbeiter sein‘ und ‚Die Waffen der Soldaten dürfen nicht gegen die Arbeiter gerichtet werden‘. Der Kommandant erkannte schon bald, daß wir nicht bereit waren, seinen Befehlen zu gehorchen, so blieb er ruhig. Unsere Waffen ließen wir an unserer Seite baumeln und einige Genossen weinten. Als wir wieder in der Kaserne waren, war der Kommandant zwar nicht sehr verärgert, aber er meinte, in der Zukunft müßten wir den Befehlen gehorchen ... am nächsten Tag war es in der Kaserne viel lebendiger als sonst. Schon vor dem Morgenappell waren viel Genossen auf und schrien die Losungen der Demo: ‚Die Soldaten sind die Söhne der Arbeiter‘, ‚Nieder mit der kapitalistischen Ausbeutung‘“. (Revolutionary Rehearsals, S. 95)

Die Kraft, die den Kapitalismus in Portugal nach dem 25. April rettete, war nicht die Armee, sondern in erster Linie die KP-Führung, die sofort erklärte, dass sie es für notwendig erachtet, den sogenannten „progressiven“ General Spinola zu unterstützen. Hinter der schützenden Fassade der Provisorischen Regierung bereitete Spinola einen Gegenschlag vor. Ein Jahr später versuchte er einen Putsch. Welche Kräfte befehligte er? Eine kleine Gruppe von Soldaten, die aus dem rückständigsten Teil der Armee zusammengesammelt wurden: den Fallschirmspringern. Am 11. März umzingelten die Fallschirmspringer die Kaserne eines der radikalsten Regimenter in Lissabon, des RAL-1, sie konnten aber nicht zum Schießen überredet werden. Die spontane Bewegung der ArbeiterInnen und von anderen Teilen der Armee, die sich mit den Fallschirmspringern verbrüderten und an diese appellierten, beendete diese Meuterei sehr schnell. Binnen weniger Stunden erklärten die Fallschirmspringer: „Wir sind keine Faschisten. Wir sind eure Genossen.“ Die Rebellion der „Sklavenhalter“ kollabierte sofort.

Marx erklärte einst, dass die Revolution die Peitsche der Konterrevolution benötigt. Spinolas Versuch eines Putsches führte nur zu einer Welle neuerlicher Arbeiterproteste. Die Bankangestellten besetzten die Banken und verlangten, dass die Regierung die Banken verstaatlicht. Ihrem Beispiel folgten die Angestellten der Versicherungen. Die linken Offiziere nationalisierten daraufhin auch die Banken und Versicherungen, die reale Machtbasis der Reaktion in Portugal, die mehr als 60% der Wirtschaft ihr Eigentum nannten.

Das war ein harter Schlag nicht nur gegen die Reaktion sondern gegen das gesamte kapitalistische System in Portugal. Diese Tatsache erkannte auch „The Times“, die ein Editorial mit dem Titel „Der Kapitalismus in Portugal ist tot“ abdruckte. Mit der Niederschlagung des Putschversuchs von Spinola lag die Macht in den Händen der Arbeiterklasse und der Soldaten. Wieder einmal retteten nur die Feigheit und der Verrat der SP- und KP-Führer das System. Die SP, die ein Jahr vor der Revolution nur 200 Mitglieder hatte und somit sehr schwach war, begann nun rapide zu wachsen. Unter dem Druck der Massen nahmen die SP-Führer sogar ein sehr radikales Programm an – zumindest in Worten. Mario Soares forderte in Reden die „Diktatur des Proletariats“. Die sozialistische Zeitung „Republica“ druckte Artikel von Trotzki ab. In den ersten demokratischen Wahlen nach 50 Jahren gingen 91,1% der Wahlberechtigten zu den Urnen. Die SP erhielt 37,8%, die KP 12,5%, ihr Verbündeter MDP weitere 4,1% – somit entfielen 54,4% der Stimmen auf die Arbeiterparteien.
Unter diesen Umständen konnte es keinen Zweifel geben, dass die Revolution in Portugal nicht nur friedlich sondern sogar über das Parlament hätte durchgeführt werden können. Die Bourgeoisie war durch den raschen Zusammenbruch des Putsches vom März völlig demoralisiert. Spinola floh nach Brasilien. Die Arbeiterklasse hatte sich erhoben. Ohne Führung von oben wurden in den Fabriken Arbeiterkomitees gewählt. Das kulturelle Leben florierte. Arbeitslose ArbeiterInnen halfen in der Landwirtschaft, Kinder lehrten Erwachsene das Lesen. Hunderte Fabriken und Farmen waren von den Eigentümern verlassen und von den ArbeiterInnen übernommen worden. Die Arbeiterklasse kam ganz klar zu revolutionären Schlüssen. Ein Aktivist von der Setenave Schiffswerft beschrieb die Lage folgendermaßen:

„Selbst in Setenave haben wir keine Arbeiterkontrolle. Wie sollten wir auch, wenn wir nicht die Banken kontrollieren? Unsere Einstellung ist, daß wir alles wissen wollen ... Wir wollen die Entscheidungen kontrollieren, aber wir haben keine Verantwortung. Wir glauben nicht, daß Arbeiterkontrolle alleine ausreicht.“ (Revolutionary Rehearsals, S. 104)

Revolutionäre Komitees

Was wäre vonnöten gewesen? Die Formierung einer sozialistisch-kommunistischen Regierung mit dem Ziel, die Revolution zu Ende zu führen. Einige Dekrete wären ausreichend gewesen, um die Macht der Großgrundbesitzer, Banken und Konzerne zu beseitigen und eine demokratische Planwirtschaft aufzubauen. Sofortige Maßnahmen zur Anhebung der Löhne und Pensionen, eine Verkürzung des Arbeitstages und eine Verbesserung des Lebensstandards der kleinen Bauern und Kleingewerbetreibenden. Ein Appell an die ArbeiterInnen, die Bauernschaft und die Soldaten, das Land und die Fabriken zu übernehmen, demokratisch gewählte Komitees zu errichten und alle konterrevolutionären Elemente zu verhaften. Solche Maßnahmen – gestützt auf die revolutionäre Bewegung der Massen außerhalb des Parlaments – wären ausreichend gewesen für den friedlichen Übergang.

Hätte solch eine Politik unvermeidlich in den Bürgerkrieg geführt? Wie immer hatte die revolutionäre Bewegung innerhalb der Armee einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Idee gewählter Komitees sprang von den Fabriken in die Kasernen über. Der Versuch, ein landesweites Netzwerk „revolutionärer Komitees der Soldaten, Matrosen und ArbeiterInnen“ zu errichten, erhielt sogar die Unterstützung von Teilen der Offiziere rund um Otelo de Carvalho. Die revolutionären Ideen verbreiteten sich auch in der Armee, was selbst von den konservativen Offizieren rund um die „Gruppe der Neun“ anerkannt wurde, die in ihrem Manifest schrieben:

„Wir sehen einen fortschreitenden Verfall staatlicher Strukturen. Überall haben ungesetzliche und anarchistische Formen der Machtausübung Schritt für Schritt die Überhand gewonnen und selbst die Streitkräfte erreicht.“

Eine autonome Soldatenbewegung, die SUV (Soldados Unidos Venceroã – „Die Vereinten Soldaten werden gewinnen“), wurde im September gegründet. SUV rief in Porto für den 10. September zu einer Demonstration auf:

„Da die Soldaten in der Öffentlichkeit nicht singen dürfen, begannen wir zu pfeifen. Aber am Ende sangen alle ... die ‚Internationale‘. Und immer mehr Menschen schlossen sich der Demo an.“

An diesem Tag marschierten rund 30.000 ArbeiterInnen hinter einem Kontingent von 1500 Soldaten. Die SUV begann auch, die Umtriebe reaktionärer Offiziere in der Armee aufzudecken.

„Am nächsten Tag, dem Jahrestag des Putsches in Chile, organisierte die SUV abermals eine Demo, und wir wollten eine Schweigeminute. Die Offiziere sagten nein. Wir steckten Patronen in unsere Gewehre ... und hielten unsere Schweigeminute ab.“

Die Soldaten erhoben Forderungen, welche die Ungleichheit zwischen ihnen und den Offizieren aufheben sollten. Sie begannen für Gehaltserhöhungen und Gratistransport zu agitieren. Eine Fahrt heim zur Familie kostete oft einen ganzen Monatslohn eines Soldaten.
Hier ist nicht der Platz, um im Detail zu zeigen, wie die Portugiesische Revolution gestoppt wurde. Aber das Vorgehen von Cunhal und Soares war zweifelsohne der entscheidende Faktor. Sie hatten unter den besten Bedingungen jede nur denkbare Möglichkeit, eine friedliche Revolution zum Sieg zu führen, aber sie brachten den Zug der Revolution zum Entgleisen. Das bedeutet, dass neue und schreckliche Hürden der Arbeiterklasse den Weg versperren werden, was dazu führen könnte, dass das nächste Mal der revolutionäre Prozess nicht so friedlich sein wird. Das wird von vielen Faktoren abhängen, aber vor allem von unserer Fähigkeit, eine starke marxistische Strömung mit einer Massenbasis aufzubauen.

„Wenn Amerika kommunistisch würde“

Sowohl Lenin als auch Trotzki betonten, dass sich die sozialistische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern in vielerlei Hinsicht von der Russischen Revolution unterscheiden wird. Einerseits wird sie schwieriger durchzuführen sein. Lenin erklärte, dass der Kapitalismus im zaristischen Russland an seinem schwächsten Glied brach. Der Kapitalismus hat in Nordamerika, Europa und Japan vor allem in den letzten 50 Jahren enorme Fettreserven angehäuft. Lenin hat bereits darauf hingewiesen, dass die herrschende Klasse in Ländern wie Großbritannien eine hohe Kunst im Korrumpieren der Führung der Arbeiterbewegung entwickelt hat. Dies gilt nun in einem noch nie dagewesenen Ausmaß für alle entwickelten kapitalistischen Länder.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Degeneration der Sozialdemokratie und des Stalinismus ein unbeschreibliches Ausmaß angenommen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade dann alle „den Markt“ preisen, wenn dieser gerade in die Krise gerät. Trotzki hat einst ausgeführt, dass die Krise der Menschheit letztlich auf eine Krise der Führung der Arbeiterorganisationen reduziert werden könne. Das gilt heute mehr denn je. Die Krise des Kapitalismus offenbart auch die Krise des Reformismus. Die nächste Periode wird eine ganze Reihe von inneren Erschütterungen und Spaltungen in den reformistischen Parteien und Gewerkschaften mit sich bringen. Ab einem gewissen Zeitpunkt werden sich linke Massenflügel herausbilden, was für die marxistische Strömung große Möglichkeiten bringen wird.

Es ist aber keine ausgemachte Sache, dass wir dann die entscheidenden Teile der fortschrittlichsten ArbeiterInnen und Jugendlichen gewinnen werden. Revolutionäre Politik ist sowohl eine Wissenschaft als auch eine Kunst. Wir brauchen eine wissenschaftliche Perspektive, die uns dazu befähigt, die allgemeinen Prozesse zu verstehen, um nicht permanent durch rasche Änderungen in der objektiven Situation und Stimmungsumschwünge bei den Massen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Das ist aber nicht genug. Es ist notwendig, die Kader in einer flexiblen Taktik und der Kunst, das fertige wissenschaftliche Programm des Marxismus mit den sich im Fluss befindlichen, oft konfusen Bestrebungen der Arbeiterklasse zu verbinden, zu schulen. Schaffen wir das nicht, werden wir zu einer sterilen und ohnmächtigen Sekte verkommen. Marx zitierte dazu oft den deutschen Poeten Goethe: „Theorie ist grau, mein Freund, aber der Baum des Lebens ist immergrün.“

MarxistInnen arbeiten nicht im Vakuum. Die lange Periode des kapitalistischen Aufschwungs nach 1945 hinterließ einen tiefen Eindruck im Bewusstsein der Arbeiterklasse, einschließlich der fortschrittlichsten Schichten der Klasse. Es gibt keinen automatischen Mechanismus, wodurch die Erfahrung einer Generation von ArbeiterInnen auf die nächste einfach übertragen werden kann. Jede Generation muss die Lehren der Vergangenheit durch eigene Erfahrungen neu erlernen. Die jetzige Generation wird einige besonders schmerzhafte Erfahrungen machen müssen, aber sie wird daraus lernen. Wenn wir mit genügend Kadern präsent sind, wird dieser Lernprozess kürzer und einfacher sein.

Es ist notwendig, mit den ArbeiterInnen eine gemeinsame Sprache zu finden, ohne dabei bei den Prinzipien Abstriche zu machen. Vor dem Krieg wuchs eine ganze Generation unter dem Eindruck der Russischen Revolution auf. Revolution, Krieg und Konterrevolution prägten das Bewusstsein der ArbeiterInnen damals. Dies ist heute ganz anders. In den entwickelten kapitalistischen Ländern ging das Klassenbewusstsein bis zu einem gewissen Grad zurück, was in gewisser Hinsicht die abgefederten Widersprüche in der Gesellschaft selbst reflektierte. Das wird sich aber wieder ändern. Die neue Periode, vor der wir stehen, wird von sozialen und politischen Erschütterungen gekennzeichnet sein. Die alten Illusionen in den Reformismus werden verloren gehen.
Es ist aber notwendig, die Klasse so zu nehmen, wie wir sie vorfinden. Der russische Revolutionär Herzen pflegte seinem Freund Bakunin zu sagen, dass er den zweiten Monat der Schwangerschaft gerne mit dem neunten verwechsle. Das ist die organische Krankheit der Linksradikalen in jeder Periode. Solche Fehler können nur zu einer Fehlgeburt führen. Gegenwärtig sind wir in einer Phase, wo wir nur Einzelne für unsere Tendenz gewinnen können. Unsere Erfolge dabei werden für die Zukunft entscheidend sein.

Trotzki über die USA

Die Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern wird einerseits schwieriger, andererseits aber auch einfacher als in Russland sein. Die Russische Revolution, die kaum auf ernsthaften Widerstand gestoßen war, wurde von 21 imperialistischen Interventionsarmeen überfallen und musste auf den Terror zurückgreifen, um überleben zu können. Trotzki erklärte aber, dass zum Beispiel ein sozialistisches Amerika diese Probleme nicht haben würde. Welchen Ratschlag gab Trotzki seinen AnhängerInnen, wie sie an die amerikanischen ArbeiterInnen vor dem Krieg herantreten sollten? Wir finden ein gutes Beispiel für die Methode Trotzkis in den Akten der Dewey-Kommission dokumentiert:

„La Follette: Da gibt es noch eine Frage, die ich gerne stellen möchte: Ich möchte fragen, was Sie von der Idee halten, daß der revolutionäre Terror nahezu automatisch zum Terror des Thermidors führen muß.
Trotzki: Auch in einer so allgemeinen Form kann ich das nicht akzeptieren, aber ich kann es auch nicht bestreiten. Terror in einer Revolution ist ein Symptom der Schwäche, nicht der Stärke.
La Follette: Der Schwäche?
Trotzki: Der Schwäche – solch schreckliche Mittel. Die Revolution braucht auf einem niedrigen Niveau mehr Terror als eine Revolution auf einem höheren Niveau, weil die Gefahr einer Konterrevolution größer ist.“ (The Case of Leon Trotsky, S. 372)
In etlichen Situationen kehrte Trotzki zu dieser Frage zurück. Das schrieb Trotzki über dieses Thema in einer kleinen Broschüre mit dem Titel „Wenn Amerika kommunistisch würde“:

„In Wirklichkeit werden sich amerikanische Sowjets von den russischen Sowjets genauso unterscheiden, wie sich die Vereinigten Staaten Präsident Roosevelts vom Russischen Reich des Zaren Nikolaus II. unterscheiden. Doch kann der Kommunismus in Amerika nur durch eine Revolution zustande kommen, genauso wie die Unabhängigkeit und die Demokratie in Amerika. Das amerikanische Temperament ist energisch und heftig, und so muß, ehe der Kommunismus fest verwurzelt ist, eine Menge Geschirr zerbrochen und müssen viele Pläne über den Haufen geworfen werden. Die Amerikaner sind zuerst Enthusiasten und Sportsleute, dann erst Spezialisten und Staatsmänner, und es widerspräche der amerikanischen Tradition, eine wichtige Veränderung vorzunehmen, ohne sich vorher für die eine Hälfte des Spielfeldes zu entscheiden und sich die Köpfe zu zerschlagen.
Doch wird die amerikanische kommunistische Revolution im Vergleich zur bolschewistischen Revolution in Rußland, gemessen am gesellschaftlichen Reichtum und an der Bevölkerung, unbedeutend sein, gleichgültig wie groß ihre relativen Kosten sein werden. Der Grund dafür ist, daß ein revolutionärer Bürgerkrieg nicht von der Handvoll Leute an der Spitze – den fünf oder zehn Prozent, denen neun Zehntel des amerikanischen Reichtums gehören – ausgefochten wird; sie könnte ihre konterrevolutionären Armeen nur aus den unteren Zwischenklassen rekrutieren. Aber auch die Revolution könnte diese mit Leichtigkeit unter ihr Banner scharen, indem sie ihnen zeigt, daß nur die Unterstützung der Sowjets ihnen Aussicht auf Rettung bietet. Jeder unterhalb dieser Gruppe ist wirtschaftlich für den Kommunismus schon vorbereitet. Die Wirtschaftskrise hat unter der Arbeiterklasse gewütet und den Farmern, die bereits durch die lange landwirtschaftliche Flaute des Nachkriegsjahrzehnts geschädigt waren, einen vernichtenden Schlag versetzt. Es gibt keinen Grund, warum diese Gruppen der Revolution entschlossenen Widerstand entgegensetzen sollten; sie haben nichts zu verlieren, vorausgesetzt natürlich, daß die revolutionären Führer ihnen gegenüber eine weitsichtige und gemäßigte Politik einschlagen.
Wer wird sonst noch gegen den Kommunismus kämpfen? Die Wachmannschaften ihrer Milliardäre und Multimillionäre? Ihre Mellons, Morgans, Fords und Rockefellers? Sie werden in dem Augenblick zu kämpfen aufhören, in dem sie niemanden mehr finden, der für sie kämpft.
Die amerikanische Sowjetregierung wird die Kommandohöhen ihres Wirtschaftssystems, die Banken, die Schlüsselindustrien und das Transport- und Kommunikationssystem fest in die Hand nehmen. Sie wird dann den Farmern, den kleinen Gewerbetreibenden und Geschäftsleuten eine ausreichend lange Bedenkzeit geben, während derer sie sehen können, wie gut der verstaatlichte Sektor der Wirtschaft funktioniert.“ (Trotzki, Wenn Amerika kommunistisch würde, in: Trotzki, Denkzettel – Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, hsg. von Deutscher, Novack, Dahmer, S. 245-246)


Worin liegt die Bedeutung dieser Zeilen? Während Trotzki keinen Augenblick die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes bestreitet (wie könnte ein Marxist dies auch tun?), sagt er den amerikanischen ArbeiterInnen die offensichtliche Wahrheit: dass die großen Kapitalisten angesichts des überwältigend günstigen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen – eine seriöse marxistische Führung mit einer korrekten Einstellung gegenüber den kleinen Farmern und dem Kleinbürgertum vorausgesetzt – einfach isoliert, paralysiert werden. Genau das passierte in Frankreich im Jahre 1968, selbst ohne eine marxistische Führung, wobei die Revolution dann später, wie wir noch sehen werden, von der stalinistischen KP-Führung verraten wurde.

Trotzkismus versus Sektierertum

Kriege und Revolutionen sind die Situationen, in denen jede revolutionäre Strömung und ihre Führung auf die Probe gestellt werden. Wir stützen uns fest auf die Politik und die Methode Lenins und Trotzkis. Trotzkis Schriften, insbesondere seine letzten, sind das beste Beispiel, wie die marxistische Methode in destillierter Form auf die konkreten Bedingungen der modernen Epoche angewandt werden kann. Vergleichen wir nur die reiche, kreative, dialektische Herangehensweise Trotzkis beispielsweise in der Frage der proletarischen Militärpolitik im Zweiten Weltkrieg mit den trockenen Schemata jener, die sich als große Revolutionäre fühlen, nur weil sie ein paar Leninzitate von sich geben können.

Unsere Strömung machte in der Vergangenheit diesbezüglich genügend Erfahrungen. Während des Zweiten Weltkriegs verteidigte die Workers International League (WIL) in Großbritannien Trotzkis proletarische Militärpolitik gegen die Revolutionary Socialist League (RSL), die angeblich für Lenins Politik des „revolutionären Defätismus“ stand. Die RSL beschuldigte uns einer „ernsthaften Abkehr von der Sichtweise Lenins und Trotzkis“, weil wir nicht Wort für Wort Lenins Argumente aus den Jahren 1914/1915 wiederholten, ohne zu verstehen, dass sich die Situation völlig verändert hatte.

In der Praxis stand die WIL für eine revolutionär-defätistische Position, übersetzte sie aber in eine für die ArbeiterInnen verständliche und unter diesen Bedingungen nachvollziehbare Sprache. Hätten wir zu der Zeit, als Hitler Amok lief und europaweit die Arbeiterbewegung auszulöschen versuchte, wie ein Papagei Losungen wie „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ und „Machen wir aus dem imperialistischen Krieg einen Bürgerkrieg“ vertreten, wäre das völlig verrückt gewesen. Es ist nicht überraschend, dass die RSL die „rrrrrrrrrevolutionären“ Ideen nie in den Arbeiterorganisationen sondern immer nur im eigenen Schlafzimmer vertreten hat!

Nur in einem Fall verteidigte ein Vertreter dieser Gruppe ihre Positionen in der Labour Party. Er brachte in seiner Sektion der Labour Party eine Resolution ein, in der stand, dass „der Sieg Deutschlands das kleinere Übel“ wäre, und war dann auch noch überrascht, dass er ausgeschlossen wurde! Wie immer ist diese Art von Wortradikalismus nur für den internen Konsum geeignet. Kleine linksradikale Gruppen, die von der Klasse isoliert sind, haben niemanden außer sich selbst, zu dem sie reden können. Da ihnen niemand zuhört, können sie sagen, was sie wollen, auch wenn es noch so bizarr ist. So verbrachte die RSL den ganzen Krieg mit Diskussionen in ihrem internen Bulletin. Das war ihre Hauptbeschäftigung. Auf der anderen Seite erhielt die Politik und Methodik unserer Strömung ein beachtliches Echo nicht nur in den Fabriken und Gewerkschaften sondern auch in der Armee.

Die WIL machte in der Armee, der Marine und der Luftwaffe äußerst erfolgreiche Arbeit. Entgegen den Erwartungen Trotzkis war die herrschende Klasse gezwungen, demokratische Rechte zuzugestehen, um so die Unterstützung der Arbeiterklasse für den angeblichen „Kampf gegen den Faschismus“ zu erhalten. Selbst in den Streitkräften gab es ein überraschendes Ausmaß an Spielraum für revolutionäre Arbeit (im Rahmen der militärischen Disziplin, die unsere Genossen, dem Ratschlag Trotzkis folgend, immer genau befolgten). Einer unserer Genossen wurde auf der Grundlage des Programms der IV. Internationale zum Vorsitzenden des „Armeeparlaments“ in Ägypten gewählt. Ein weiterer Genosse erhielt vom Offizier, der für die politische Bildung verantwortlich war, das Angebot, die Truppen politisch zu schulen. Diese Position nutzten wir natürlich, um trotzkistische Ideen zu verbreiten. Ein anderer, der zum Offizier in der Luftwaffe befördert wurde, war derart erfolgreich bei seiner politischen Arbeit unter den Fliegern, dass er mit allen Ehren aus der Royal Air Force verabschiedet wurde. Den Rest des Krieges versuchte er aber, zur Truppe zurückzukommen.

Diese Arbeit in den Streitkräften war nur möglich auf der Grundlage einer korrekten politischen Linie und Methode. Jede andere Politik wäre zum Scheitern verurteilt gewesen. Der schrille Linksradikalismus der RSL, basierend auf ein paar aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Lenins, lähmte ihre Arbeit völlig. Mit diesem „rrrrrrrrrevolutionären“ Nonsens war es ihr unmöglich in der Arbeiterklasse ein offenes Ohr zu finden. Sie wären entweder als Wahnsinnige oder als Verräter angesehen worden. Pierre Frank hatte z. B. die glorreiche Idee, nach dem Fall Frankreichs im Jahre 1940 ein Flugblatt unter den britischen ArbeiterInnen zu verteilen, in dem sie aufgefordert wurden, die „Fabriken zu besetzen“. Zu jener Zeit arbeiteten die britischen ArbeiterInnen aber freiwillig 18 Stunden am Tag, um den – wie sie es sahen – „Krieg gegen Hitler“ zu unterstützen. Hier sehen wir einmal mehr denselben unproduktiven Formalismus, den unfruchtbaren Versuch, ein fertiges Schema ungeachtet von Zeit und Ort der Realität überzustülpen. Es ist eine grundlegend falsche Methode, die Methode abstrakter Politik, die nichts zu tun hat mit der Herangehensweise, wie sie von Trotzki und später unserer Strömung erarbeitet wurde.

Was war nun die Position der WIL? Wir sagten den britischen ArbeiterInnen: „Wir stimmen mit euch überein, daß Hitler unser Feind ist. Wir sind keine Pazifisten. Wir sind dafür, daß man die Nazis besiegt. Wir können uns dabei aber nicht auf Churchill und die herrschende Klasse verlassen, da diese Hitler selber unterstützt und die Zerstörung der deutschen Arbeiterbewegung lautstark begrüßt haben. Die einzige Kraft, die den Nationalsozialismus besiegen kann, ist die Arbeiterklasse. Wir fordern daher, daß die Labour Party die Koalition aufkündigt, die Macht selber ergreift und die Gesellschaft umwälzt. Dann können wir einen revolutionären Krieg gegen Hitler führen.“

Diesem Programm folgend formulierten wir Übergangsforderungen entsprechend Trotzkis proletarischem Militärprogramm, wie die Schaffung von Militärschulen zur Ausbildung von Arbeiteroffizieren sowie Kontrolle der militärischen Ausbildung durch die Gewerkschaften. Somit gaben wir der Losung „Bewaffnet die Arbeiter“ einen klaren Inhalt. Während sich die Sektierer von der RSL im Schlafzimmer gegenseitig revolutionäre Reden hielten, machte die WIL praktische revolutionäre Arbeit in den Fabriken, den Betriebsratskomitees und den Gewerkschaftssektionen. Die WIL kombinierte dabei Prinzipientreue mit der notwendigen taktischen Flexibilität. Dadurch erhielten wir in der Arbeiterbewegung – einschließlich der KP – auch viel Zuspruch. Auf dieser Grundlage bauten wir eine der erfolgreichsten Organisationen in der Geschichte des internationalen Trotzkismus auf, die RCP, während die RSL dahinvegetierte und letztlich gänzlich verschwand.

Wie korrekt unsere Herangehensweise an den Krieg und die Militärpolitik war, bewies die Reaktion der herrschenden Klasse. Bei Kriegsausbruch wurde jede WIL-Ortsgruppe von der Polizei gestürmt. Sie erkannten die Gefahr, die sich durch unsere Politik und unsere Taktik ergab. Im Gegenzug wurde die RSL als völlig irrelevant angesehen, was sie auch zweifelsohne war. Worin lag nun der Fehler der RSL? Sie vertrat eine abstrakte Position in Bezug auf die leninistische Position zu Krieg und Revolution und wandte gewisse Losungen und Ideen ungeachtet der realen Lage in der Gesellschaft, der Arbeiterbewegung und des Bewusstseins der Arbeiterklasse an.

Solch elementare Fehler würden einer Strömung, die wirklich in der Klasse verankert ist, unmöglich passieren. Das ist die Essenz des Problems.

Wie man die Frage nicht stellen darf

Wie gehen wir an diese Frage heran? Nicht indem man revolutionäre Phrasen von der Unvermeidlichkeit eines Bürgerkrieges wiederholt, sondern indem man die Grundlagen des Marxismus erklärt und vor allem daran geht die Massen zu gewinnen.

Die zunehmende Macht des Proletariats, das nun die entscheidende Mehrheit in den wichtigsten industrialisierten Ländern stellt, schafft zweifelsohne günstige objektive Bedingungen für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft. Wie wir schon sehr oft erklärt haben, haben die Entwicklung der Produktivkräfte und das Verschwinden der Bauernschaft in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeiterklasse enorm gestärkt. Das Problem ist, dass sich die Klasse dessen nicht bewusst ist. Und die reformistischen Führer bemühen sich, die ArbeiterInnen davon zu überzeugen, dass sie schwach sind und der bürgerliche Staat enorm stark ist. Ein Teil ihrer Taktik besteht darin, die ArbeiterInnen damit einzuschüchtern, dass Revolution unvermeidlich zu Gewalt, Blutvergießen und Bürgerkrieg führen müsse.

Interessanterweise spielen die Linksradikalen mit ihrer Herangehensweise an diese Fragen den Bürgerlichen und dem Reformismus in die Hände. Wir versuchen einen anderen Weg zu gehen. Während der Hexenjagd gegen die Militant-Strömung in Großbritannien wurde einmal Ted Grant vom britischen Fernsehen interviewt. Wenig überraschend wurde ihm auch die Frage gestellt, wie wir zu Gewalt stehen. Er antwortete folgendermaßen: „Sind Sie für die Pest? Natürlich bin ich nicht für Gewalt. Wir stehen für eine Labour-Regierung, die ein Ermächtigungsgesetz zur Verstaatlichung der Banken und großen Monopole verabschieden muß.“ Natürlich wäre der Interviewer sehr erfreut gewesen, wenn er als Antwort erhalten hätte, dass wir den Staat zerstören wollen, dass ein Bürgerkrieg unvermeidlich ist usw.

Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Frage der Macht so stellen, dass wir die Massen gewinnen und für eine Offensive gegen das Kapital mobilisieren können. Das wird nur gelingen, wenn wir die Tageskämpfe der Arbeiter („ökonomische Forderungen“) mit der Idee der Enteignung der Banken und großen Monopole verbinden können. Das schafft man nicht durch abstrakte Diskussionen über die Bedeutung eines gewaltsamen Umsturzes des Staates durch „militärische Mittel“ sondern nur in Form eines Übergangsprogramms. Wie hat Trotzki diese Frage gestellt?

Im „Übergangsprogramm“, das eine Art Zusammenfassung der marxistischen Position zur sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft liefert, erklärt Trotzki die genaue Beziehung zwischen „ökonomischen Forderungen“ und dem Sturz der Bourgeoisie. Seine Einstellung dazu zeigt sich klar in den Diskussionen zum Übergangsprogramm, die übrigens intern waren, mit dem Ziel, die führenden Kader der trotzkistischen Bewegung zu schulen und weiterzuentwickeln:
„Die Losung ‚Enteignung‘ im Programm schließt eine Entschädigung nicht aus. In diesem Sinne stellen wir oft die Enteignung der Konfiszierung gegenüber. Die Konfiszierung schließt eine Entschädigung aus, aber die Enteignung kann sie einschließen. Wie hoch die Entschädigung ausfällt, ist eine andere Frage. Wir können zum Beispiel bei unserer Agitation gefragt werden: Was werdet Ihr tun, werdet Ihr die Eigentümer und Machthaber in Landstreicher verwandeln? Nein, wir werden ihnen eine angemessene Entschädigung geben, wie sie sie zum Leben brauchen, sofern sie arbeitsunfähig sind – das gilt für die ältere Generation. Man muß die Russen nicht nachahmen. Sie erlitten eine Intervention von sehr vielen kapitalistischen Nationen; das beraubte sie der Möglichkeit Entschädigungen zu leisten. Wir in den Vereinigten Staaten sind ein reiches Volk, und wenn wir an die Macht kommen, werden wir der älteren Generation eine Entschädigung gewähren. In diesem Sinne wäre es nicht günstig, die Konfiszierung ohne jede Entschädigung zu proklamieren. Es ist besser, den Begriff Enteignung statt Konfiszierung zu verwenden, denn die Enteignung kann einer Konfiszierung gleichkommen, kann aber auch eine gewisse Entschädigung beinhalten.

Wir sollten zeigen, daß wir kein rachsüchtiges Volk sind. In den Vereinigten Staaten ist es sehr wichtig aufzuzeigen, daß es eine Frage der materiellen Möglichkeiten ist, daß wir aber die Kapitalistenklasse nicht persönlich zerstören werden.“ (Trotzki, Übergangsprogramm, S. 200-201)
Im sektiererischen Denken scheint es aus „Prinzip“ unzulässig, dass eine revolutionäre Strömung die Entschädigung der Bourgeoisie vorschlägt, genauso wie es ihm unzulässig erscheint, dass die Arbeiterklasse die Macht ohne einen „unvermeidlichen Bürgerkrieg“ übernehmen kann. Das ist aber der Unterschied zwischen dem wirklichen Marxismus und reinem Formalismus. Trotzki verwendet die gleiche Methode, die Marx und Engels anwandten, als sie sagten, dass unter bestimmten Bedingungen das Proletariat die Kapitalisten „rauskaufen“ könnte – und zwar unter der Bedingung, dass sie die Fabriken friedlich und ohne Widerstand übergeben.

Weder Trotzki noch Marx und Engels hatten irgendwelche Illusionen, dass die Bourgeoisie nicht mit jedem ihr zur Verfügung stehenden Mittel um ihre Macht und ihren Reichtum kämpfen würde. Die entscheidende Frage ist aber, welche Mittel ihr im entscheidenden Moment wirklich zur Verfügung stehen. Und das hängt wiederum sehr stark von der Fähigkeit der revolutionären Partei ab, absolute Prinzipientreue mit einer absoluten Flexibilität und Intelligenz im Bereich der Taktik miteinander zu verbinden.

Mai 1968

In Frankreich im Mai 1968 erlebten wir den größten Generalstreik der Geschichte. Obwohl nur rund 3 Millionen ArbeiterInnen in den Gewerkschaften organisiert waren, bestreikten und besetzten 10 Millionen die Fabriken. StudentInnen, LehrerInnen, Bauern, WissenschaftlerInnen, Fußballer, ja selbst die Mädchen der Follies Bergères nahmen an den Kämpfen teil. Die rote Fahne wurde über Fabriken, Schulen, Unis, Arbeitsämtern und sogar Sternwarten gehisst. Die Macht lag in den Händen der Arbeiterklasse. Die Regierung war völlig ohnmächtig. Der „starke Staat“ von De Gaulle war wie gelähmt. Diese mächtige Bewegung fand am Höhepunkt des langen Nachkriegsaufschwungs statt.

Die Ereignisse in Frankreich 1968 wurden einzig und allein von unserer Strömung vorausgesagt! Alle anderen politischen Kräfte, beginnend mit den Bürgerlichen, wurden völlig überrascht, weil sie im Gegensatz zu uns allesamt die europäische Arbeiterklasse abgeschrieben hatten.

Im Mai 1968 publizierte der „Economist“ eine Spezialbeilage zu Frankreich, die von Norman Macrae geschrieben wurde, um den 10. Jahrestag der Herrschaft von Charles de Gaulle zu zelebrieren. Macrae pries die Erfolge des französischen Kapitalismus und wies darauf hin, dass in Frankreich der Lebensstandard höher sei als in Großbritannien; dass der Fleischkonsum höher sei; dass es mehr Autos gäbe usw. Und er betonte den großen Vorteil, den Frankreich gegenüber seinem Nachbarn auf der anderen Seite des Kanals habe: die Gewerkschaften waren extrem schwach. Die Tinte von Macrae’s Artikel war kaum getrocknet, als die französische Arbeiterklasse die Welt mit einem in der modernen Epoche noch nicht dagewesenen sozialen Aufstand erstaunte.
Es ist eine Tatsache, dass die Maiereignisse von den Strategen des Kapitals weder in Frankreich noch sonstwo vorhergesehen wurden. Noch weniger wurden sie von den stalinistischen und reformistischen Führern erwartet, die alles getan haben, um die Bewegung von Anfang an wieder abzudrehen, und die nichts unternahmen, um die Bewegung zu organisieren.

Die Dinge standen noch schlimmer, wenn man sich die vielen linksradikalen Gruppen und Organisationen anschaut. Diese meist von Intellektuellen geprägten Gruppen (die so nebenbei Jahrzehnte damit verbracht hatten, vom „bewaffneten Kampf“, von Aufstand usw. zu reden) haben die Bewegung der französischen ArbeiterInnen nicht nur nicht vorhergesehen. Nehmen wir André Gorz, einen ihrer führenden „Theoretiker“. Er schrieb in einem Artikel, der am Höhepunkt der Bewegung das Licht der Welt erblickte, dass es „in der vorhersehbaren Zukunft keine Krise des europäischen Kapitalismus geben wird, die so dramatisch sein wird, daß die Masse der Arbeiter zu revolutionären Generalstreiks und bewaffneten Aufständen zur Unterstützung ihrer vitalen Interessen greifen wird“. (A. Gorz, Reform and Revolution, in: The Socialist Register, 1968)

Gorz stand mit dieser Analyse nicht allein. Ernest Mandel sprach einen Monat vor diesen großen Ereignissen bei einem Treffen in London. Im Zuge seines Referats sprach er über Gott und die Welt, erwähnte aber kein einziges Mal die Lage der französischen Arbeiterklasse. Als einer unserer Genossen aus dem Publikum auf diesen Widerspruch aufmerksam machte, antwortete Mandel, dass es in den nächsten 20 Jahren keine Bewegung der französischen Arbeiterklasse geben würde.

Die Autoren des vorliegenden Textes waren im Mai 1968 beide in Paris. Alan Woods ging zur Sorbonne und versuchte mit der mandelistischen Jugendorganisation JCR Kontakte zu knüpfen. Die Uni war natürlich von den StudentInnen besetzt worden. Im zentralen Hof standen die Infotische mit den Zeitungen aller linken Gruppen. Damals wurden nur Monatszeitungen produziert und es war nicht möglich, nach Beginn des Streiks eine neue Ausgabe herzustellen. Ohne Ausnahme behandelten alle Titelseiten Themen wie Vietnam, Bolivien, Kuba, Che Guevara, Mao Zedong – in der Tat schrieben sie über alles, nur nicht über die französische Arbeiterklasse!

All das zeigt, dass der Mai 1968 für jede andere Strömung aus heiterem Himmel kam. Die anderen Strömungen haben diese Ereignisse nicht erwartet, weil sie in Wirklichkeit die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern als „korrupt“, „amerikanisiert“ und „verbürgerlicht“ abgeschrieben hatten.
Es ist kein Wunder, dass sich viele von ihnen in den Cafés von Paris endlosen Diskussionen über den „bewaffneten Kampf“ hingaben, was sie der Notwendigkeit entbunden hat, mit der realen Welt und den Problemen der französischen ArbeiterInnen Kontakt aufzunehmen. Hätten sie das gemacht, wäre ihnen sicher nicht entgangen, dass sich eine soziale Explosion schon längst ankündigte.

1968 war eine Revolution

Nebenbei ist es aber nicht nur eine Frage des Verschwindens der Bauernschaft. Die Entwicklung der Industrie bedeutet, dass das Proletariat selbst viel stärker als in den Dreißigern ist, ganz abgesehen von den Zeiten der Pariser Kommune, als nahezu alle ArbeiterInnen in kleinen Betrieben arbeiteten. Selbst 1931 beschäftigten nur 0,5% der Industriebetriebe mehr als 100 ArbeiterInnen. Dass sich dies 1968 grundsätzlich geändert hat, zeigt, dass die Schlüsselrolle von den riesigen Fabriken wie die Renault-Werke in Flins eingenommen wurde. Bei Renault Flins nahmen bei einer Gesamtbelegschaft von 10500 Arbeitern zirka 1000 an den Streikposten teil, und mindestens 5000 besuchten die täglichen Streikversammlungen alleine in diesem Werk.

1936 war das Kräfteverhältnis bei Weitem ungünstiger, die Situation war viel weniger weit entwickelt. Trotzdem meinte Trotzki damals, dass die KP die Macht übernehmen hätte können, „ohne auf effektiven Widerstand zu stoßen“.

„Falls die Partei von Leon Blum wirklich sozialistisch gewesen wäre, hätte sie, sich auf den Generalstreik stützend, die Bourgeoisie im Juni nahezu ohne Bürgerkrieg, mit nur einem Minimum an Aufruhr und Opfern stürzen können. Die Partei von Blum ist aber eine bürgerliche Partei, der jüngere Bruder des verfaulten Radikalismus.“ (Leo Trotzki, On France, S. 178)

Das Kräfteverhältnis war 1968 deutlich günstiger. Eine friedliche Umwälzung war möglich, hätten die KP-Führer so gehandelt, wie MarxistInnen handeln sollten. Es ist wichtig, das zu betonen.

Die Ereignisse im Mai 1968 waren weit mehr als ein Generalstreik. Das war eine Revolution, die von den Stalinisten verraten wurde. Die kolossale Reichweite der Bewegung, ihr Schwung und ihr Elan, zeigen, dass diese Bewegung in den besten revolutionären Traditionen der französischen Arbeiterklasse stand. Und dies war ohne Führung von den Spitzen der KP und der SP möglich.

Was ist eine Revolution? Viele in der Linken machen den Fehler, Revolution mit dem Aufstand zu vermischen. In Wirklichkeit ist der Aufstand nur ein kleiner Teil der Revolution. Trotzki erklärte, dass eine Revolution eine Situation darstellt, in der die Masse der normalerweise in politischer Apathie lebenden Männer und Frauen beginnt, aktiv am Leben der Gesellschaft teilzuhaben, in der sie ein Bewusstsein ihrer eigenen Stärke erlangt und beginnt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Genau das macht eine Revolution aus. Und genau das passierte in einem unvorstellbaren Ausmaß in Frankreich im Mai 1968.
Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen drückte sich hier nicht in einem abstrakten Potenzial oder in einer reinen Statistik aus, sondern als wirkliche Macht in den Straßen und den Fabriken. Die französischen ArbeiterInnen zeigten ihre Muskeln und wurden sich ihrer eigentlichen Macht bewusst. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, zitieren wir hier einen Bericht über die Demonstration vom 13. Mai in Paris, an der rund eine Million Menschen teilnahm:
„Unaufhörlich zogen sie vorbei. Da waren ganze Sektionen von Gesundheitspersonal in weißen Mänteln, einige trugen Poster mit der Aufschrift ‚Où sont les disparus hopitaux?‘ (‚Wo sind die verschwundenen Verletzten?‘). Jede Fabrik, jeder Großbetrieb schien vertreten zu sein. Es gab unzählige Gruppen von Eisenbahnern, Postlern, Druckern, Metro-Angestellten, Metallarbeitern, Flughafenarbeitern, Marktverkäufern, Elektrikern, Rechtsanwälten, Bankangestellten, Kellnern, Gemeindebediensteten, Malern und Anstreichern, Angestellten der Gaswerke, Verkäuferinnen, Versicherungsangestellten, Straßenkehrern, Leuten aus den Filmstudios, Busfahrern, LehrerInnen, Arbeitern aus der neuen Plastikindustrie, eine Reihe nach der anderen, das Fleisch und Blut der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine nicht mehr aufhörende Masse, eine Macht, die alles vor sich herschieben konnte, wenn sie sich nur dazu entschlossen hätte.“ (zitiert in „Revolutionary Rehearsals“, S. 12)

Einmal im Kampf begannen die ArbeiterInnen, selbst die Initiative zu übernehmen, die weit über einen gewöhnlichen Streik hinausging. Die Drucker und Journalisten übten über die Presse eine Art Arbeiterkontrolle aus. Bürgerliche Zeitungen mussten ihre Editorials einer Überprüfung unterziehen und hatten die Erklärungen der Arbeiterkomitees abzudrucken. De Gaulles Plan, ein Referendum abzuhalten, wurde durch die Aktionen der Arbeiter verhindert. Der General konnte nicht einmal Wahlzettel für das Referendum auftreiben, weil die französischen Drucker streikten und die belgischen Kollegen sich weigerten, als Streikbrecher einzuspringen. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist nicht nur eine Sache der relativen nummerischen Stärke der Arbeiterklasse im Vergleich zur Bauernschaft und zum Kleinbürgertum. Beginnt die Arbeiterklasse einmal, entschieden zu kämpfen und sich als mächtige Kraft in der Gesellschaft zu präsentieren, zieht sie sehr schnell die Masse an Bauern und kleinen Geschäftsleuten an, die sonst von den Banken und großen Monopolen zerdrückt werden. Dies zeigte sich 1968 ganz deutlich, als die Bauern rund um Nantes Straßenblockaden errichteten und Essen gratis an die Streikenden verteilten.

Arbeiter kontrollierten die Benzinverteilung in Nantes und gaben nur Benzin aus, wenn jemand von den Streikkomitees dazu autorisiert war. Ein Streikposten wurde bei der einzig funktionierenden Benzinpumpe der Stadt positioniert, um sicherzustellen, dass nur an Ärzte Treibstoff ausgegeben wurde. Man nahm Kontakt mit den Bauernorganisationen in den umliegenden Gebieten auf und arrangierte mit ihnen die Nahrungsmittelversorgung, wobei die Preise von den ArbeiterInnen und Bauern fixiert wurden. Um Profitmacherei zu verhindern, mussten Geschäfte an den Schaufenstern Aufkleber anbringen mit der Aufschrift „Dieses Geschäft ist autorisiert, offenzuhalten. Seine Preise sind unter permanenter Aufsicht durch die Gewerkschaften.“ Der Aufkleber wurde von den drei großen Gewerkschaftsdachverbänden CGT, CFDT und FO ausgegeben. Ein Liter Milch, der vorher 80 centimes kostete, wurde nun für 50 centimes verkauft. Der Preis für 1 Kilo Kartoffeln wurde von 70 auf 12 centimes gesenkt. Für 1 Kilo Karotten von 80 auf 50 centimes usw.

Da die Schulen geschlossen blieben, organisierten LehrerInnen und SchülerInnen Kinderbetreuung, Spielgruppen, Essen und besondere Aktivitäten für die Kinder der Streikenden. Komitees streikender Frauen wurden aufgebaut und spielten eine zentrale Rolle bei der Organisierung der Nahrungsmittelversorgung. Nicht nur die StudentInnen sondern auch alle möglichen Gruppen von Intellektuellen wurden durch den revolutionären Virus angesteckt. Die Astronomen besetzten eine Sternwarte. Es gab einen Streik in einem Nuklearforschungszentrum bei Saclay, wo die Mehrheit der 10.000 Beschäftigten Forscher, Techniker, Ingenieure oder sonstige Akademiker waren. Selbst die Kirche wurde vom revolutionären Virus angesteckt. Im Quartier Latin besetzten junge Katholiken eine Kirche und forderten statt einer Messe Diskussionen.

Der Mythos des „starken Staates“

Aber verfügte De Gaulle nicht über einen mächtigen staatlichen Repressionsapparat und eine spezielle Notverordnungsgesetzgebung?Diese Pläne der französischen Regierung waren ähnlich den Plänen einer jeden herrschenden Klasse in der Geschichte, die sich einer revolutionären Situation gegenüberstehen sah. Die Regierung von Zar Nikolaus (man nannte ihn „den Blutigen“) hatte nicht wenige militärische Einsatzpläne zur Aufstandsbekämpfung vor dem Februar 1917. Ob diese Pläne dann auch in die Realität umgesetzt werden können, ist eine andere Sache – wie Nikolaus schmerzlich erkennen musste. Dass eine Regierung militärische Notstandsprogramme hat, sagt noch gar nichts aus. Es würde uns vielmehr erstaunen, wenn es solche Pläne nicht gäbe, nicht nur in Frankreich! In einer Revolution sind aber nicht die Pläne des Regimes sondern die realen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft der entscheidende Punkt. Nebenbei bemerkt, war sich De Gaulle, der ein sehr schlauer Bürgerlicher war, der Lage durchaus bewusst (auch wenn er anfangs die Lage unterschätzte und daraus resultierend einen schweren Fehler beging; gemeinsam mit allen anderen erwartete auch er keine große Bewegung der französischen Arbeiterklasse).

Tatsächlich wurde die Regierung von der Bewegung völlig überrascht. Sie war von den Studentenprotesten total eingeschüchtert worden, wie Premierminister Pompidou in seinen Memoiren offen zugibt:

„Einige Leute ... haben gedacht, daß ich mit der Wiedereröffnung der Sorbonne und der Entlassung der Studenten Schwäche gezeigt hatte und so der Agitation weiteren Aufwind gegeben hätte. Ich würde dies ganz einfach so beantworten: Angenommen die Sorbonne wäre am 13. Mai unter Polizeischutz geschlossen geblieben. Wer kann sich vorstellen, daß die Menge, die auf Denfert-Rochereau zuströmte, es nicht geschafft hätte, da durchzubrechen und alles wie ein reißender Fluß vor sich her zu tragen? Ich zog es vor, die Sorbonne für die Studenten zu öffnen, bevor sie sie mit Gewalt genommen hätten.“ (G. Pompidou, Pour Rétablir une Verité, S. 184-185)

An einer anderen Stelle fügt er hinzu:

„Die Krise war unendlich ernster und tiefer; das Regime würde stehen oder gestürzt werden, aber es konnte nicht durch eine reine Umbesetzung im Kabinett gerettet werden. Es war nicht meine Position, die in Frage gestellt wurde. Es waren General De Gaulle, die Fünfte Republik und zu einem beträchtlichen Ausmaß die republikanische Herrschaftsform selbst, die in Frage gestellt wurden.“ (a.a.O., S. 197)

Was meinte Pompidou, wenn er sagt, dass die „republikanische Herrschaftsform selbst“ in Frage gestellt worden war? Er meint, daß der kapitalistische Staat selbst zu stürzen drohte. Und damit hatte er vollkommen Recht. Nachdem Pompidou versucht hatte, die Krise zu entschärfen, indem er die Sorbonne wieder öffnen ließ, bekam die Bewegung nur neuen Auftrieb mit einer Demonstration von 250.000 Menschen! Aus Angst vor einer Vereinigung der StudentInnen mit den ArbeiterInnen zum Sturm des Elysée-Palastes wurde der Präsidentschaftspalast evakuiert.

De Gaulle setzte anfangs auf die stalinistische KP-Führung. Er sagte zu Francois Flohic, dem Marinegeneral: „Keine Sorge, Flohic, die Kommunisten werden sie schon im Zaum halten.“ (Philippe Alexandre, L’Elysée en peril, S. 299)

Was beweisen diese Worte? Nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, dass das kapitalistische System ohne die Unterstützung der reformistischen (und stalinistischen) Führungen nicht existieren könnte. Diese Unterstützung ist viel mehr wert als Panzer und Polizisten. De Gaulle, wie gesagt ein intelligenter Bürgerlicher, verstand das vollkommen. In einer Revolution greifen aber die Massen aktiv in die Ereignisse ein, sie beginnen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. De Gaulle war gezwungen, seinen Staatsbesuch in Rumänien abzukürzen, weil sich die Lage in Paris immer mehr zuspitzte. Sein Biograf, Charles Williams, beschreibt sehr bildlich De Gaulles Zustand am Vorabend seiner Rede an die Nation vom 24. Mai:

„Es gibt keinen Zweifel, daß der General nach der Heiterkeit in Rumänien bei seiner Rückkehr von dem, was er vorfinden mußte, schwer getroffen war. Während der folgenden drei Tage erschien er Besuchern, die ihn länger nicht gesehen hatten, als alt und unentschlossen. Es schien ihm alles über den Kopf zu wachsen.

Der Fernsehauftritt vom 24. Mai war ein völliger Flop. Der General schaute und klang fremd und verängstigt. Es stimmt, er kündigte ein Referendum an, aber es war nicht klar, wie der genaue Wortlaut der Frage sein würde. (...) Er sagte, es wäre die Pflicht des Staates, die öffentliche Ordnung sicherzustellen, aber seiner Stimme fehlte der alte Nachhall, und die Sätze, obwohl immer noch in derselben ernsten Sprache, überzeugten irgendwie nicht mehr. Er kam wie ein alter Mann rüber, müde und verletzt. Er wußte es selbst. ‚Ich habe das Ziel verfehlt‘, sagte er an diesem Abend. Pompidou konnte ihm nichts besseres sagen als: ‚Es hätte schlechter sein können.‘“ (C. Williams, The Last Great Frenchman. A life of General De Gaulle, S. 463-464)

„Aber De Gaulles Stimmung wurde am Morgen des 25. noch schlechter. Er war, den Worten eines Ministers aus seinem Kabinett zufolge, ‚niedergeschmettert – gekrümmt und gealtert‘. Ein anderer Minister fand einen ‚alten Mann, der kein Gefühl für die Zukunft hatte‘, vor. Der General ließ seinen Sohn Philippe holen, der seinen Vater ‚müde‘ vorfand, und er bemerkte, dass er kaum geschlafen hatte. Philippe schlug vor, dass sein Vater zum Atlantikhafen von Brest – Schatten von 1940 – aufbrechen sollte, aber dieser antwortete, er würde nicht aufgeben.

Vom 25. bis zum 28. Mai blieb De Gaulle in diesem Zustand tiefer Schwermut. Pompidous Verhandlungen mit den Gewerkschaften waren eine Farce. Er gab ihnen einfach alles, was sie forderten: deutliche Erhöhungen bei den Löhnen und den Sozialleistungen, eine Erhöhung der Mindestlöhne um 35 Prozent. Der einzige Haken war, dass die CGT – selbst als der Deal unterschrieben war – darauf bestand, dass dieser von der Mitgliedschaft erst ratifiziert werden müsse. George Seguy, der CGT-Führer, eilte in den Pariser Vorort Billancourt, wo 12000 Renault-Arbeiter streikten. Als ihnen das Abkommen vorgelegt wurde, erniedrigten sie Seguy, indem sie es einfach ablehnten. Die Abkommen von Grenelle, wie sie genannt wurden, waren eine Totgeburt.

Der Ministerrat traf am 27. Mai um drei Uhr nachmittags zusammen, gleich nachdem die Renault-Arbeiter die Grenelle-Abkommen abgelehnt hatten. Der General saß dem Ministerrat vor, aber es war auffällig, dass sein Herz und seine Gedanken woanders waren. Er starrte auf seine Minister, ohne sie zu sehen, seinen Arm stützte er auf den Tisch vor ihm, seine Schultern hängten hinunter, er schien ‚völlig indifferent‘ gegenüber dem, was rund um ihn vorging. Es gab eine Diskussion über das Referendum: Der General hörte anscheinend nur Teile davon.“ (a.a.O., S.464-465)

Diese Auszüge aus einer ihm positiv gestimmten Biografie zeigen ein gutes Bild der völligen Desorientierung, Panik und Demoralisierung. Was war passiert? De Gaulle, der anfangs noch ganz auf die KP-Führung gesetzt hatte, sagte nun dem US-Botschafter zufolge: „Das Spiel ist zu Ende. In einigen Tagen werden die Kommunisten an der Macht sein.“ Warum? Ganz einfach, weil De Gaulle den Schwung der revolutionären Bewegung erkannt hatte, und er glaubte nicht mehr, sich halten zu können.

Widerspruch

Da gibt es einen offensichtlichen Widerspruch. Einerseits vertraut De Gaulle überaus in die Fähigkeit der KP-Führung, die Massen unter Kontrolle zu halten. Und in der nächsten Minute wird er von der „erschreckenden Vorstellung“ ergriffen, dass die KP-Führer „gegen ihren eigenen Willen an die Macht kommen“. Aber wenn es nach den Vorstellungen der AnhängerInnen der These vom „starken Staat“ geht, gibt es keinen Grund, warum De Gaulle „erschreckt“ gewesen sein sollte, da er ja die Armee kontrollierte, die Generäle waren loyal, die Fußballstadien warteten nur darauf, mit politischen Gefangenen gefüllt zu werden. Wo ist dann das Problem?

Offensichtlich gibt es da ein Problem, und was für eines! Nicht nur, dass unzählige Zeugen bestätigen, dass De Gaulle völlig gebrochen und demoralisiert war, sondern dass er in zumindest zwei Situationen erwog, das Land zu verlassen. Sein eigener Sohn drängte ihn dazu, via Brest zu fliehen, und andere Quellen geben an, dass er überlegte, in Westdeutschland zu bleiben, wo er General Masseu besuchte. De Gaulle war ein cleverer und kalkulierender Politiker, der niemals aus einer Regung heraus agierte und der nur selten die Nerven verlor. Wenn er dem US-Botschafter sagte, dass „das Spiel vorüber sei, und in ein paar Tagen die Kommunisten an der Macht sein werden“, dann glaubte er das wirklich. Und nicht nur er, sondern die Mehrheit der herrschenden Klasse.

Warum soll die herrschende Klasse Frankreichs verzweifelt gewesen sein, wenn sie doch über eine gewaltige Repressionsmaschinerie verfügte? Wie gewaltig? Schauen wir einmal. Es gab rund 144.000 (bewaffnete) Polizisten verschiedenster Einheiten, einschließlich 13.500 der berühmt berüchtigten Polizeisondereinheit CRS, und ungefähr 261.000 Soldaten, die in Frankreich und Deutschland stationiert waren. Nähert man sich dem Problem von einem rein quantitativen Gesichtspunkt, dann muss man natürlich die Möglichkeit einer friedlichen Umwälzung, ja vielmehr eine Revolution im Allgemeinen, ganz einfach als unmöglich abtun. Nicht nur im Mai 1968. So gesehen hätte keine einzige Revolution in der Geschichte jemals erfolgreich sein können. Aber die Frage kann so nicht gestellt werden.

In jeder Revolution werden Stimmen erhoben, welche die unterdrückten Klassen mit dem Gespenst der Gewalt, des Blutvergießens und der „Unvermeidbarkeit des Bürgerkriegs“ verängstigen wollen. Kamenev und Sinowjew sprachen am Vorabend des Oktoberaufstandes mit ähnlichen Worten:

„Die Gegner des Aufstandes in den Reihen der bolschewistischen Partei selbst fanden immerhin Grund genug für pessimistische Schlußfolgerungen. Sinowjew und Kamenev warnten vor Unterschätzung der gegnerischen Kräfte. ‚Es entscheidet Petrograd, in Petrograd aber besitzen die Feinde ... bedeutende Kräfte: 5000 Junker, vorzüglich bewaffnet und im Schlagen geübt, dann der Stab, dann die Stoßbrigadler, dann die Kosaken, dann ein bedeutender Teil der Garnison, dann eine sehr beträchtliche, fächerartig um Petrograd gruppierte Artillerie. Ferner werden die Gegner bestimmt versuchen, mit Hilfe des Zentral-Exekutiv-Komitees Truppen von der Front heranzubringen ...‘ Die Aufzählung klingt imposant, es ist aber nur eine Aufzählung. Ist die Armee als Ganzes ein Abbild der Gesellschaft, so stellen, tritt der Fall ihrer offenen Spaltung ein, beide Armeen Abbilder der kämpfenden Lager dar. Die Armee der besitzenden Klasse trug in sich den Wurmstich der Isoliertheit und des Zerfalls.“ (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, zweiter Teil: Oktoberrevolution (2), S. 853)

Dem viel zitierten Aphorismus von Mao zufolge erwächst die Macht aus den Gewehrläufen. Gewehre müssen aber von Soldaten geführt werden, und Soldaten leben nicht im Vakuum, sondern stehen unter dem Einfluss der Stimmungen unter den Massen. In jeder Gesellschaft ist die Polizei rückständiger als die Armee. In Frankreich breitete sich aber auch in der Polizei „Unzufriedenheit“ aus, wie „The Times“ am 31. Mai titelte:
„Es brodelt vor lauter Unzufriedenheit über die Behandlung durch die Regierung. Und die Abteilung, die damit beschäftigt ist, Informationen über die Aktivitäten der Studenten zu sammeln, gibt bewußt keine Informationen über die Studentenführer mehr an die Regierung weiter.
Auch war die Polizei vom Verhalten der Regierung seit Ausbruch der Schwierigkeiten nicht gerade beeindruckt. ‚Sie haben Angst, unsere Unterstützung zu verlieren‘, sagte ein Mann.

Solch eine Unzufriedenheit ist einer der Gründe für die augenscheinliche Inaktivität der Pariser Polizei in den letzten Tagen. Letzte Woche verweigerten bei verschiedenen lokalen Polizeistationen die Männer den Einsatz an den Kreuzungen und Plätzen der Hauptstadt.“ (The Times, 31.5.1968)

Am 13. Mai verabschiedete ein Gremium der Polizistengewerkschaft, das 80 Prozent des uniformierten Personals repräsentierte, eine Erklärung, die besagt, dass es „das Statement des Premierministers als Anerkennung dessen betrachtet, daß die Studenten im Recht sind, und als völlige Nichtanerkennung der Aktionen der Polizeikräfte, welche die Regierung selbst angeordnet hatte. Unter diesen Umständen ist es überraschend, daß ein effektiver Dialog mit den Studenten nicht schon vor diesen bedauerlichen Konfrontationen gesucht worden war“. (Le Monde, 15. Mai 1968)

Wenn das die Position der Polizei war, muss der Effekt der Revolution auf die Basis der Armee noch viel größer gewesen sein. Auch wenn uns weitgehend Informationen fehlen, so muss man doch sagen, dass es Berichte von einer Gärung in den Streitkräften gab, ja dass es in der Marine sogar zu einer Meuterei gekommen war. Der Flugzeugträger Clemenceau, der gerade auf dem Pazifik zu einem Atomtest unterwegs war, kehrte plötzlich ohne Angabe von Gründen nach Toulon zurück. Es gab Berichte von einer Meuterei an Bord, und mehrere Seeleute sollen dabei „auf hoher See verloren gegangen sein“. (Le Canard Enchainé, 19. Juni, ein genauerer Bericht wurde in „Action“ am 14. Juni veröffentlicht, diese Ausgabe wurde aber von den Behörden konfisziert)
Ein Flugblatt, das von Mitgliedern der in Mutzig bei Strasbourg stationierten RIMECA (Infanterieregiment) herausgegeben wurde, zeigt, dass Teile der Armee bereits von der Stimmung unter den Massen angesteckt waren. Darin können wir lesen:

„Wir werden darauf vorbereitet, als Unterdrückungsorgane zu intervenieren. Die Arbeiter und Studenten müssen allerdings wissen, daß die Soldaten dieses Kontingents NIE AUF ARBEITER SCHIESSEN WERDEN. Wir sind, koste es was es wolle, gegen das Umzingeln von Fabriken durch Soldaten. Morgen sollen wir eine Waffenfabrik umzingeln, welche die 300 dort beschäftigten Arbeiter besetzen wollen. WIR WERDEN UNS MIT IHNEN VERBRÜDERN. Soldaten dieser Einheit, bildet Eure Komitees!“ (zitiert nach „Revolutionary Rehearsals“, S. 26)

Die Herausgabe eines solchen Flugblatts war ganz klar ein außergewöhnliches Beispiel für die revolutionärsten Elemente unter den Soldaten. Aber mitten in einer Revolution von solchem Ausmaß, ist es da möglich, daran zu zweifeln, dass die Basis der Armee vom „Revolutionsvirus“ angesteckt wurde? Die Strategen des internationalen Kapitals zweifelten nicht daran. Auch nicht ihre französischen Kollegen. In einem Zustand der Panik, den wir bereits ausreichend dokumentiert haben, verschwand De Gaulle plötzlich. Er ging nach Deutschland, um sich mit General Masseu abzusprechen. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, welche Frage er stellte: „Können wir uns auf die Armee verlassen?“. Die Antwort ist natürlich in keiner schriftlichen Quelle zu finden. „The Times“ schickte einen Korrespondenten nach Deutschland, um französische Soldaten zu interviewen. Die meisten dieser Soldaten waren Kinder von Arbeiterfamilien. Ein interviewter Soldat antwortete auf die Frage, ob er auf die Arbeiter schießen würde: „Niemals! Ich denke, ihre Methoden sind vielleicht ein wenig hart, aber ich bin selber ein Arbeiterkind.“

In einem Editorial stellte „The Times“ die Schlüsselfrage: „Kann De Gaulle die Armee einsetzen?“ und beantwortete diese Frage selbst und meinte, dass er sie vielleicht einmal einsetzen könnte. Mit anderen Worten, ein einziger blutiger Zusammenstoß würde ausreichen, um die Armee aufzubrechen. Das war die Einschätzung der realistischsten Strategen des internationalen Kapitals jener Zeit.

Wer rettete De Gaulle?

Es war alles andere als die Armee oder die Polizei (die so demoralisiert war, dass selbst die reaktionäre Geheimdienstabteilung, wie wir gesehen haben, die Zusammenarbeit mit der Regierung gegen die Studentenbewegung verweigerte), das den französischen Kapitalismus rettete. Es war der schreckliche Verrat durch die stalinistische KP-Spitze und die Gewerkschaftsführung. Zu diesem Schluss kommen nicht nur wir, sondern sogar – man mag es gar nicht glauben – die Encyclopaedia Britannica, die zum Mai 1968 Folgendes schreibt:

„De Gaulle schien unfähig, die Krise zu bewältigen oder sie auch nur zu verstehen. Die Kommunisten und die Gewerkschaftsführer aber versorgten ihn mit der nötigen Atempause; sie lehnten weiteren Aufruhr ab, da sie offensichtlich Angst hatten, ihre Anhängerschaft an ihre Rivalen in der extremen Linken zu verlieren.“

Was war die wichtigste Waffe, mit der die Stalinisten die ArbeiterInnen von der Machtübernahme abzuhalten versuchten? – Dass der Staat so stark sei, dass es zu Gewalt und Bürgerkrieg kommen würde. Lassen wir sie selbst zu Wort kommen. Der Generalsekretär der Partei, Waldeck-Rochet, schrieb rückblickend:

„In Wirklichkeit hatten wir im Mai die Wahl zwischen:
- Entweder so agieren, daß der Streik die wesentlichsten Forderungen der Arbeiter befriedigen würde, und gleichzeitig auf der politischen Ebene eine Politik mit dem Ziel verfolgen, die notwendigen demokratischen Veränderungen mit den Mitteln der Verfassung herbeizuführen. Das war die Position unserer Partei.
- Oder ganz einfach eine Kraftprobe provozieren, in anderen Worten auf einen Aufstand zusteuern: Dies würde einen Rückgriff auf den bewaffneten Kampf mit dem Ziel, das Regime mit Gewalt zu stürzen, mit einschließen. Das war die abenteuerliche Position gewisser linksradikaler Gruppen.“ (L’Humanité, 10. Juli 1968)

Man beachte, wie geschickt dieser stalinistische Bürokrat mit den Ängsten der Massen spielt. Wie die Bürokraten überall sonst auch weiß er, dass viele ArbeiterInnen die Perspektive von Gewalt und Blutvergießen fürchten. Diese Tatsache bleibt für viele in der radikalen Linken aber ein Buch mit sieben Siegeln. Im Endeffekt gehen sie der Bürokratie und den Bürgerlichen immer wieder auf den Leim.

Die Mandelisten betonten in Frankreich vor 1968 ständig die Rolle des angeblich so „starken Staates“. Sie dachten, dass die ArbeiterInnen ohne sie nichts machen könnten und dass sie der Klasse das „sozialistische Bewusstsein“ von außen bringen müssten. In einem ihrer Flugzettel vom Mai, der noch dazu in einer völlig unverständlichen und abstrusen Sprache geschrieben war, erklärten sie den französischen ArbeiterInnen, dass sie auf sich allein gestellt lediglich ein „gewerkschaftliches Bewusstsein“ erlangen könnten. Von allen Schriften Lenins, die sie auswählen konnten (und da gibt es nicht gerade wenige!), suchten sie eine Passage aus „Was tun?“ aus, die Lenin selbst später als Fehler bezeichnet hat. „Nur ein gewerkschaftliches Bewusstsein“ – mit 10 Millionen ArbeiterInnen, die die Fabriken besetzen! Diese Leute haben nichts vorhergesehen, nichts verstanden und blieben konsequenterweise von der Klasse völlig isoliert. Sie spielten Revolution, erbauten Barrikaden und kämpften mit der Polizei. Das sind unter gewissen Umständen alles ganz wichtige Aktivitäten, sie sind aber völlig nutzlos, wenn es nicht gelingt, die Massen zu gewinnen.

Hätte es in dieser Situation eine wirklich marxistische Strömung mit einigen hundert Kadern gegeben, die in der Arbeiterbewegung (in diesem Fall der KP sowie der CGT und der CFDT) verankert gewesen wären, hätte alles ganz anders laufen können. Selbst der bürgerliche Autor des Artikels in der Encyclopaedia Britannica verstand, dass die stalinistischen Führer Angst davor hatten, dass ihnen die Bewegung außer Kontrolle gerät. Die „trotzkistischen“ Gruppen hatten damals aber eine völlig falsche Perspektive. Gegen unseren Ratschlag spalteten sich die Mandelisten von der Kommunistischen Jugend ab und gründeten mit der JCR ihre eigene, unabhängige Jugendorganisation. Sie bewiesen großen Mut auf der Straße, aber außerhalb der traditionellen Massenorganisationen blieben sie völlig isoliert von der Arbeiterklasse. Außerdem trennten ihre ganze Herangehensweise, ihre Sprache, ihre Methoden und ihre Taktik sie von den organisierten ArbeiterInnen, was sie zu einfachen Zielscheiben für die Bürokratie machte. Letztere ließ keine Gelegenheit aus, sie (und das nicht einmal ohne Grund) als unverantwortliche kleinbürgerliche Abenteurer zu porträtieren.

Wie hätte eine wirklich marxistische Strömung unter solchen Umständen gehandelt? Hätte sie wie der Rest der radikalen Linken Aufstand und Bürgerkrieg propagiert? Nein. Wir wären wie Lenin vorgegangen. Wir hätten schon in der Periode vor dem Mai 1968 in der KP, der Kommunistischen Jugend und den Gewerkschaften systematische Arbeit geleistet, um uns dort zu verankern. Während der Maiereignisse wäre unser wichtigster Slogan jener des Aufbaus von gewählten Komitees zur Koordinierung und Führung des Kampfes gewesen. Diese Komitees hätten auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene miteinander verbunden werden müssen. Gleichzeitig hätten wir die KP aufgefordert, die Macht zu übernehmen, die Kapitalisten zu enteignen und die Gesellschaft zu verändern.

Wäre dies friedlich gegangen? Wie wir gesehen haben, hat Trotzki schon 1936 gemeint, dass die sozialistische Führung ohne großes Aufsehen den Widerstand der herrschenden Klasse hätte brechen können. Im Mai 1968 war die Lage aber noch weit günstiger. Auf die Versuche von Waldeck-Rochet & Co., die Arbeiter mit dem Gespenst eines Blutvergießens zu verängstigen, hätten wir – ähnlich wie Lenin 1917 oder Trotzki 1936 – darauf hingewiesen, dass die reformistische (stalinistische) Führung mit der überwältigenden Unterstützung durch die Massen auf friedlichem Wege, ohne Bürgerkrieg, die Macht erobern hätte können. Dies wäre der einzige Weg gewesen, Gewalt zu vermeiden. Und das stimmte 1968 in Frankreich tausendmal mehr als 1917 in Russland. Das wäre der einzige Weg gewesen, die kommunistischen ArbeiterInnen zu erreichen, den Einfluss der stalinistischen Führung zu brechen und die Massen für die Idee der Revolution zu gewinnen.

Defensive und Offensive

Aus der Sicht der formalen Logik sind Defensive und Offensive unveränderliche Gegensätze. In der Realität gehen sie aber nicht selten ineinander über. Ein Defensivkampf kann unter bestimmten Bedingungen leicht in einen Offensivkampf verwandelt werden und umgekehrt. Es gibt viele Vergleichspunkte von Kriegen zwischen Nationen und Kriegen zwischen den Klassen. Es gibt aber auch etliche Unterschiede. Ein bürgerliches stehendes Heer wird über Jahrzehnte auf einen Krieg vorbereitet, finanziert und bewaffnet. Der Generalstab kann auswählen, wann und wo die Feindseligkeiten beginnen. Natürlich haben wir nicht einmal hier eine rein militärische Frage. Clausewitz erklärte, dass „der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sei. Die militärischen Aktionen bürgerlicher Regierungen werden durch die Klasseninteressen der Bourgeoisie bestimmt. Aus diesem Grund haben MarxistInnen immer darauf hingewiesen, dass die Frage, wer nun den ersten Schuss abgegeben hat, völlig sekundär ist und den konkreten Charakter des Krieges absolut nicht beeinflusst.

Diese allgemeine Feststellung ist korrekt. Aber bedeutet sie, dass die Frage der Verantwortung für den Ausbruch von Feindseligkeiten wirklich völlig unwesentlich ist? Wer das denkt, hat nichts vom Krieg verstanden. Warum versucht jede Regierung in jedem Krieg, die Verantwortung dem Feind in die Schuhe zu schieben? Zufall? Im Gegenteil. Krieg ist nicht nur eine militärische Frage, sondern auch eine politische. Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, im Inland wie im Ausland, zur Unterstützung des Krieges ist eine ganz grundlegende Frage, die nur auf der politischen Ebene gelöst werden kann. Engels erklärte einmal, dass in Kriegshandlungen die Moral der Truppe dreimal so wichtig ist wie das Physische. Die grundlegende Aufgabe der Diplomatie liegt nun darin, die „öffentliche Meinung“ davon zu überzeugen, dass die eigene Armee nur aus Selbstverteidigung heraus handelt und auf eine untolerierbare Provokation, auf eine „feindliche Aggression“ usw. antwortet. Eine Regierung, die nicht dementsprechend agiert, würde einen nicht zu verzeihenden Fehler begehen und sich selbst ins Knie schießen.

Das gilt tausendmal mehr in der sozialistischen Revolution. Trotz aller Betonung der Notwendigkeit „der militärischen Vorbereitung des Aufstandes“ usw. bleibt es eine Tatsache, dass das Proletariat, anders als die herrschende Klasse, keine Armee besitzt und auch niemals eine Streitkraft haben wird, die es mit den Kräften des bürgerlichen Staates wirklich aufnehmen kann – vorausgesetzt letzterer bleibt intakt. Während in einem herkömmlichen Krieg hauptsächlich die militärische Frage überwiegt (wobei die Diplomatie zwar eine bedeutende aber letztlich doch untergeordnete Rolle spielt), stehen wir bei der sozialistischen Revolution in erster Linie vor einer politischen Aufgabe. Es gilt, die Massen und die Streitkräfte für sich zu gewinnen.

Es ist eine Tatsache, dass die meisten Kämpfe der Arbeiterklasse als Defensivkämpfe beginnen: Kämpfe zur Verteidigung des Lebensstandards, der Arbeitsplätze, demokratischer Rechte usw. Unter gewissen Umständen, speziell mit einer korrekten Führung, können diese Defensivkämpfe den Weg für eine Offensive der Arbeiterklasse, einschließlich eines Generalstreiks, der die Machtfrage stellt, bereiten. Aber selbst im Laufe einer Revolution ist es notwendig, die ganze Verantwortung für Gewalt auf die Schultern der herrschenden Klasse zu legen, um so die Massen (nicht nur die proletarischen, sondern auch die kleinbürgerlichen) zu gewinnen. Es ist daher nicht nur korrekt, sondern auch absolut unerlässlich, die Bewegung in einem defensiven Licht darzustellen.

Dem könnte man entgegenhalten, dass der Aufstand immer einen offensiven Charakter hat. Noch einmal, als abstrakter allgemeiner Lehrsatz stimmt das. Danton wies darauf hin, dass die Losung des Aufstandes „De l’audace, de l’audace, et encore de l’audace!“ („Kühnheit, Kühnheit und noch mehr Kühnheit!“) lauten muss. Die Frage der revolutionären Taktik ist damit aber noch lange nicht erschöpft. Die Wahrheit ist immer konkret. Im Klassenkampf wie im herkömmlichen Kriegsgeschehen ist es entscheidend, abzuklären, unter welchen Bedingungen es möglich ist, in die Offensive zu gehen und wann es notwendig ist, eine defensive Position einzunehmen. Die Kriegsführung wäre ein einfaches Geschäft, wenn es nur darum ginge, eine simple, unter allen Bedingungen anwendbare Regel auszuführen. Ein General aber, der nur den Befehl „Attacke!“ kennt, würde seine Armee sehr schnell in den Untergang führen. Es ist wichtig zu lernen, wie man angreift. Ähnlich wichtig ist es aber auch, zu wissen, wie man einen geordneten Rückzug antritt, wie man geschickt manövriert, wie man eine Schlacht unter ungünstigen Bedingungen vermeidet usw. Die gesamte Geschichte des Bolschewismus ist voller Beispiele flexibler Taktiken, was sich in den Schriften Lenins widerspiegelt und in seinem Werk „Der ‚linke Radikalismus‘ – Die Kinderkrankheit des Kommunismus“ zusammengefasst ist.

Das Problem nach 1917 war, dass die jungen und unerfahrenen Führungen der Kommunistischen Parteien in den ersten fünf Jahren der Komintern nicht die Zeit fanden, die Lehren und Erfahrungen der Geschichte des Bolschewismus und der Russischen Revolution aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie hatten „Staat und Revolution“ und Lenins Schriften aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gelesen und wiederholten mechanisch die Losungen von der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates, des Bürgerkrieges, die Kritik an Reformismus und Parlamentarismus, die Argumente von der Unzulässigkeit einer Vereinigung mit der Sozialdemokratie. Sie haben aber nichts von dem verstanden, was sie gelesen hatten. Sie verstanden die Methode Lenins nicht. In der ganzen Periode von 1917 bis zu seinem Tod kämpfte Lenin gegen diese Fehler und erklärte sogar demonstrativ, dass er „rechts“ sei, falls sie „die Linken“ darstellen würden.

Ausgehend von der Tatsache, dass die Kommunistischen Parteien noch nicht die entscheidende Mehrheit der Klasse repräsentierten, betonte Lenin die Notwendigkeit einer Einheitsfrontpolitik, einer geduldigen Arbeit in den Massenorganisationen, einer Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten, um auf diesem Wege die Massen zu gewinnen. Das war aus seiner Sicht die Grundvoraussetzung für die sozialistische Revolution. Die „Linken“ aber wiesen Lenins Ratschläge, sich „an die Massen zu wenden“, zurück und beharrten darauf, dass die einzige mögliche revolutionäre Politik für die Kommunistische Partei in der „revolutionären Offensive“ bestehen könne. Lenin und Trotzki kämpften verbissen gegen diese „Theorie“, die im März 1921 in Deutschland zu einer blutigen Niederlage führte.

Auch wenn dieser linksradikale Standpunkt noch so „revolutionär“ erscheinen mag, so hat er doch nichts mit den wirklichen Methoden der Bolschewiki gemeinsam, er stellt vielmehr ihre abstrakte Karikatur dar. Wir haben bereits die Verteidigungsrede von Cannon im Gerichtsverfahren von Minneapolis erwähnt. Einer der wichtigsten Kritikpunkte des Linksradikalen Munis war eben, dass Cannon die Frage der Gewalt ausschließlich als Frage der Selbstverteidigung darstellte. Munis fragte, warum man die Arbeiterklasse nicht dazu auffordern sollte, ihre eigene Gewalt gegen die reaktionäre Gewalt zu organisieren. Cannon antwortete darauf:

„Warum nicht? Weil es weder notwendig noch ratsam war, zu dieser Zeit, die Stimme zu erheben und zu Aktionen aufzurufen. Wir sprachen in erster Linie für den unerfahrenen Arbeiter, der die Verteidigungsrede in der Zeitung oder in Broschürenform lesen würde. Wir brauchten eine ruhige und vorsichtige Erklärung, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieser Arbeiter wartet keinesfalls ungeduldig auf unseren Aufruf zu gewalttätigen Aktionen. Gerade im Gegenteil glaubt er innig an die sogenannte Demokratie, und die erste Frage, die er stellen wird, wenn er sich für den Sozialismus zu interessieren beginnt, wird sein: ‚Warum können wir das nicht auf friedlichem Wege, durch Wahlen, erreichen?‘ Es ist notwendig, daß wir ihm dann geduldig erklären, daß wir diesen Weg ebenfalls bevorzugen würden, daß die Bosse das aber nicht zulassen werden, daß sie gegen die Mehrheit mit Gewalt vorgehen werden, und daß sich die Arbeiter selbst und ihr Recht, die Dinge zu verändern, verteidigen müssen.“ (Munis and Cannon, What policy for revolutionists – Marxism or Ultra-leftism, S. 25)

Und weiters:

„Daß ‚Gewalt die Geburtshelferin einer jeden Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger ist‘ – das ist ein Axiom, das jedem, der den Marxismus studiert, wohlbekannt ist. Es ist falsch, auf diesem Gebiet Illusionen zu nähren, und dementsprechend sind wir bei der Verhandlung vorgegangen. Es wäre aber ein großer Fehler, daraus zu schließen, daß die Gewalt und das Gerede von Gewalt der revolutionären Avantgarde zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen uneingeschränkt Vorteile bringt. Im Gegenteil, friedliche Bedingungen und demokratische, legale Formen sind äußerst nützlich in Zeiten, in denen die Partei noch immer Kräfte sammelt, und wenn die größere Stärke und die größeren Ressourcen, einschließlich der Ressource der Gewalt, bei der gegnerischen Seite liegen. Lenin bemerkte, daß Engels völlig korrekt handelte, indem er darauf drängte, die bürgerliche Legalität zu nutzen, und 1891 der herrschenden Klasse in Deutschland sagte: ‚Schießt zuerst, Messrs. Bourgeois!‘
Unsere Partei, die erst bei der noch indifferenten amerikanischen Arbeiterklasse ein Gehör finden muß, hat am wenigsten Grund, die Gewalt zu betonen oder zu propagieren. Diese Einstellung ist bestimmt durch den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Klasse und des Kräfteverhältnisses in den USA.“ (a.a.O., S. 30-31)

Auch nur die geringste Kenntnis der Geschichte der Russischen Revolution, vor, während und nach dem Oktober sollte genügen, um dies zu beweisen. Am Vorabend der Oktoberrevolution gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Trotzki betreffend des Datums, an dem der Aufstand durchzuführen sei. Lenin wollte bereits im September losschlagen, während Trotzki mit dem Aufstand bis zum Sowjetkongress warten wollte. Warum nahm Trotzki diese Position ein? Mangelte es ihm etwa an Kühnheit? Absolut nicht. Trotzki verstand allerdings, dass selbst in einer Revolution die Frage der Legalität für die Massen extrem wichtig ist.

Die Bolschewiki waren sicher, beim Kongress die Mehrheit zu bekommen, und konnten so gegenüber den Massen als legitime Macht in der Gesellschaft auftreten. Das war keine zweitrangige Frage, sondern ein lebenswichtiger Faktor auf dem Weg zu einer friedlichen Machtübernahme. Einmal mehr war das politische Element entscheidender als das militärische. Die Bolschewiki präsentierten auch den Oktoberaufstand als defensive Aktion, um ein Abdriften Russlands in Chaos und Bürgerkrieg zu verhindern. Und das ist kein Zufall. Selbst wenn man in einer Position ist, aus der heraus eine Offensive möglich ist (was nicht immer der Fall ist, im Gegenteil), ist es immer notwendig, so zu agieren und zu sprechen, als ob man einen Defensivkampf führen würde, indem man die ganze Verantwortung auf den Feind schiebt.

Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an. 1918 hing das Schicksal der Revolution an einem seidenen Faden. Die Armeen des deutschen Imperialismus waren zur Invasion bereit. Die den Bolschewiki zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte waren völlig unzureichend, um wirklich ernsthaften Widerstand leisten zu können. Aus Angst, die Revolution könnte völlig aufgerieben werden, trat Lenin für die sofortige Unterzeichnung eines Friedens mit Deutschland ein – selbst wenn dies mit territorialen Zugeständnissen verbunden wäre. Bucharin, der zu jener Zeit eine ultralinke Position vertrat, war für einen revolutionären Krieg gegen Deutschland, ein äußerst „kühner“ Standpunkt, der unter den gegebenen Umständen bestimmt zum Untergang der Revolution geführt hätte.

Trotzki, der damals die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk anführte, versuchte, in der Hoffnung auf eine Erhebung der deutschen Arbeiterklasse, die Gespräche so lange wie möglich hinauszuzögern. In der Tat geschah dies einige Monate später, doch es wäre zu spät gekommen, um eine schwere Offensive der deutschen Truppen zu verhindern. Als der deutsche Imperialismus ein letztes Ultimatum stellte, weigerte sich Trotzki, der die ganze Zeit hindurch sehr geschickt die Verhandlungen für revolutionäre Agitation nutzte (was auch in Deutschland und Österreich große Auswirkungen hatte), den Vertrag zu unterschreiben und brach demonstrativ die Verhandlungen ab. Und dies obwohl er wusste, dass die Deutschen nun angreifen würden.

Trotzkis Position hatte aber nichts mit der ultralinken Linie von Bucharin zu tun. Er argumentierte sein Vorgehen damit, dass er auf diesem Wege die französischen und britischen ArbeiterInnen davon überzeugen wollte, dass die Bolschewiki Opfer einer Aggression sind, was im Gegensatz zur Hetzkampagne der herrschenden Klasse in diesen Ländern stand, die Lenin als deutschen Agenten darstellte. Er wollte klarstellen, dass der Raubfrieden von Brest-Litowsk nur unter Zwang unterschrieben wurde, dass es sonst keine Alternative gab. Es gibt keinen Zweifel, dass der neue Vertrag nun noch ungünstiger war als vor der deutschen Offensive. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie das Handeln von Lenin und Trotzki immer durch die Interessen der Weltrevolution beeinflusst war. Das Kräfteverhältnis machte eine revolutionäre Offensive unmöglich. Die Bolschewiki waren gezwungen, eine defensive Position einzunehmen. Um zu überleben, machten sie gegenüber dem deutschen Imperialismus schmerzhafte Zugeständnisse.

Sie setzten all ihr Vertrauen in ihre internationalistischen Positionen und riefen die ArbeiterInnen der ganzen Welt dazu auf, ihnen zu Hilfe zu kommen. Selbst später, als Trotzki die Rote Armee aufbaute, hatte er keine Illusion, dass die Revolution lediglich durch militärische Mittel gerettet werden könnte. Der Grund, warum die Revolution gegen die 21 ausländischen Interventionsarmeen bestehen konnte, lag nicht im heldenhaften Kampf der Roten Armee, so wichtig dies auch gewesen sein mag, sondern im Widerstand der ArbeiterInnen in Großbritannien, Frankreich und in anderen Ländern gegen die Pläne der Imperialisten; sowie in der Tatsache, dass sich die Truppen der nach Russland geschickten ausländischen Armeen widersetzten.

Der britische Premierminister Lloyd George erklärte den Rückzug der britischen Truppen damit, dass die diese „mit der bolschewistischen Grippe infiziert“ seien. Die wichtigste Waffe bei der Verteidigung der Revolution lag in einer revolutionär-internationalistischen Politik. Das war die „Geheimwaffe“, mit der die militärische Schwäche der Revolution wettgemacht werden konnte. Aus militärischer Sicht hätten die Bolschewiki niemals die Macht übernehmen können, und noch viel weniger wären sie imstande gewesen, sich an der Macht zu halten.

In einer Revolution werden die Truppen immer von der allgemeinen Stimmung in der Gesellschaft beeinflusst. Dies gilt vor allem für die Wehrpflichtigen, weshalb die MarxistInnen auch nicht die kleinbürgerliche, pazifistische Forderung nach Abschaffung des Militärdienstes unterstützen. Wir sind dafür, dass junge Arbeiter im Umgang mit der Waffe ausgebildet werden. Sie müssen jedoch gewerkschaftliche Rechte haben und unter der Kontrolle der Arbeiterorganisationen stehen. Die reaktionäre Natur der Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht zeigt sich heute sehr deutlich in den Ländern, wo die Regierung die allgemeine Wehrpflicht abschaffen und eine Berufsarmee einführen will.

Wie wir die Frage stellen

Wie wir die Frage der Revolution stellen, hängt ganz von der konkreten Situation ab. Genau darin liegt die Bedeutung des Übergangsprogramms. Das ist keine Frage abstrakter Formeln, die wir jederzeit, unabhängig von Zeit und Ort, vorbringen müssen. Das Programm muss das aktuelle Bewusstsein der Klasse in Betracht ziehen und ergibt sich aus den realen Bedürfnissen in der jeweiligen Situation. Nehmen wir einen konkreten Fall: In Nordirland waren wir mit einer sehr schwierigen und komplizierten Lage konfrontiert. Ein ganz besonders zentrales Problem stellte sich dort anhand der nationalen Frage. Die Gesellschaft war dort entlang religiös-sektiererischer Linien polarisiert. Unsere Politik wurde durch die Notwendigkeit bestimmt, die ArbeiterInnen als Klasse zu vereinen. Unsere zentrale Forderung war jene nach dem Aufbau einer Labour Party, die sich auf die Gewerkschaften stützt. In einer Situation des Terrors und des Mordens durch die verrückten Paramilitärs auf beiden Seiten war dies jedoch völlig unzureichend.

Über Jahrzehnte war unsere Strömung die einzige Kraft, die die Forderung nach gewerkschaftlichen Selbstverteidigungstruppen zur Verteidigung der Arbeiterklasse gegen sektiererische Gewalt aufstellte. Diesen Slogan, der an die Forderung nach Bewaffnung der Streikposten in Trotzkis Übergangsprogramm anknüpft, haben wir uns nicht aus den Fingern gesogen. 1969 bildeten die hauptsächlich protestantischen Arbeiter der größten Werft in Belfast, Harland and Wolfs Patrouillen unter der Kontrolle des Betriebsratskomitees, um die katholischen Arbeiter gegen Einschüchterungen zu verteidigen. Unter diesen Umständen musste eine Selbstverteidigungstruppe auch bewaffnet werden. Ohne Waffen wäre man gegen die Paramilitärs machtlos gewesen. In der Tat war es die IRA, die diese Bewegung schon im Anfangsstadium zerschlug, indem sie einige der daran beteiligten protestantischen Arbeiter ermordete.

War diese Forderung nach eigenen Selbstverteidigungskräften der Arbeiterschaft unter den konkreten Umständen in Nordirland korrekt? Zweifelsohne. Das gesamte Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hätte dadurch verändert werden können. Anfangs eine Losung mit defensivem Charakter hätte sie zum Ausgangspunkt für eine offensive Bewegung der Arbeiterklasse werden können. Wir wiederholen, dass die meisten Bewegungen der Klasse als Defensivkämpfe beginnen. Mit einer korrekten Führung können kleine Erfolge in Defensivkämpfen leicht zu größeren Dingen führen. Ohne die tagtäglichen Kämpfe für bessere Bedingungen im Kapitalismus wird die sozialistische Revolution völlig unmöglich sein.

Stellen wir die Frage einmal anders. Wäre es korrekt gewesen, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees der Arbeiterklasse (ein Slogan, der in Nordirland, wie gesagt, absolut notwendig war) in England, Schottland oder Wales aufzustellen? Nein, das wäre ein grundlegender Fehler gewesen. Die ArbeiterInnen hätten uns – nicht ohne Grund – als Wahnsinnige betrachtet. Warum? Weil unter den konkreten Umständen in Großbritannien solch eine Forderung in keinem Verhältnis zur realen Lage der Arbeiterklasse und der Gesellschaft stand.

Und hier kommen wir zum eigentlichen Problem. Für MarxistInnen besteht Politik eben nicht aus einigen abstrakten Lehrsätzen, die wie mathematische Axiome unabhängig von der wirklichen Situation angewandt werden können. Wäre das der Fall, wäre unsere Arbeit ganz schön einfach! Wir müssen vielmehr einen Weg finden, wie wir die Wissenschaft des Marxismus kreativ in einer gegebenen Situation anwenden können, damit wir mit unseren Ideen in der Arbeiterklasse ein Echo finden. Die Bildung von Kadern besteht genau darin, dass sie diese Kunst erlernen.

In Westeuropa war der Hauptpunkt unserer Propaganda (und wir sollten nicht vergessen, dass wir noch immer in erster Linie eine Strömung sind, die Propagandaarbeit leistet) über die gesamte letzte Periode die Forderung, dass die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung die Regierung stellen und die Schalthebel der Wirtschaft übernehmen sollen. Natürlich versuchen wir ArbeiterInnen und Jugendliche für die Ideen des Marxismus zu gewinnen. Aber 99% der britischen ArbeiterInnen sind keine MarxistInnen. Das ist das Hauptproblem. Die überwältigende Mehrheit jener ArbeiterInnen, die ein politisches Bewusstsein haben, unterstützt die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung. Gegenwärtig unterstützt eine kleine Minderheit davon die Linksreformisten, obwohl sich das in der nächsten Periode ändern wird.

Eigentlich sagen wir zu den ArbeiterInnen: „Wir haben euch noch nicht von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugt? Na gut. Lasst uns zumindest darin übereinstimmen, dass wir gegen das Kapital und seine Regierung kämpfen müssen. Kämpfen wir auf alle Fälle gemeinsam für die Wahl einer linken Regierung. Das allein ist aber nicht genug. Eine solche Regierung muss eine Politik im Interesse der Arbeiterklasse umsetzen. Wie kann sie das aber tun, wenn sich die Banken und Monopole in den Händen unserer Gegner befinden?

Wie gehen wir damit um? Einmal gewählt, muss Labour sofort Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot und all der anderen Probleme setzen. Es muss sofort ein Ermächtigungsgesetz zur Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum verabschiedet werden. Wir werden dafür eine faire Entschädigung zahlen. Darunter verstehen wir eine minimale Entschädigung auf der Grundlage bewiesener Bedürftigkeit.

Wird die herrschende Klasse das einfach zulassen? Die gesamte Geschichte spricht dagegen, dass sie kampflos aufgibt. (1966 sagte das selbst der rechte Labour-Führer George Brown) Sie wird versuchen, das House of Lords und die Monarchie dafür einzusetzen, fortschrittliche Gesetze zu verzögern und zu blockieren. Deshalb müssen wir diese reaktionären und undemokratischen Institutionen beseitigen. Die Herrschenden werden die Massenmedien einsetzen und Lügen und Panik verbreiten. Der Kontrolle der Medien durch einige wenige konservativ gesinnte Millionäre muss ein Ende gesetzt werden; verstaatlichen wir die Presse, Radio und TV und garantieren wir für jede Strömung, Partei oder Organisation (einschließlich der Gewerkschaften, denen eine Stimme verwehrt wird, obwohl sie Millionen Menschen repräsentieren) den freien Zugang zu den Massenmedien je nach ihren Mitgliedszahlen bzw. der Anzahl an Stimmen, die sie bei Wahlen erhält.

Das „Big Business“ wird alles in seiner Macht stehende unternehmen, um die Wirtschaft zu sabotieren und auf diese Weise eine Regierung, die eine sozialistische Politik umsetzt, zum Rücktritt zu zwingen. Das haben wir schon in der Vergangenheit gesehen. Wenn das Kapital eine Politik nicht gutheißt, organisieren die Bürgerlichen Verschwörungen, Wirtschaftssabotage usw. Daher muss eine linke Regierung die Arbeiterklasse außerhalb des Parlaments mobilisieren, in allen Betrieben demokratisch gewählte Komitees errichten, in der verstaatlichten Industrie Arbeiterkontrolle und -verwaltung etablieren und auf diesem Wege die Sabotage verhindern.

Es ist notwendig, einen Appell an die Mitglieder von Polizei und Armee zu richten, die demokratisch gewählte Regierung zu unterstützen (viele von ihnen wählen ohnedies rot), Gesetze zur Anerkennung von Gewerkschaftsrechten und des Streikrechts für SoldatInnen und PolizistInnen zu verabschieden und jegliche Offiziere, die gegen die Regierung putschen wollen, sofort zu verhaften.

Außerdem bedarf es Maßnahmen, damit die Mittelklassen, die kleinen Selbständigen, die vom Großkapital und den Banken ruiniert werden, eine linke Regierung unterstützen. Wir sollten ihnen zeigen, dass die Verstaatlichung der Banken und die Beseitigung einer ganzen Reihe von Mittelsmännern die Kredite verbilligen und die Kosten allgemein senken werden.

Und vor allem wird uns eine verstaatlichte Planwirtschaft unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung in die Lage versetzen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, den 6-Stunden-Tag und die 4-Tage-Woche einzuführen und gleichzeitig die Produktion auszuweiten und die Löhne zu steigern.
Durch Massenmobilisierungen der Arbeiterklasse könnte eine linke Regierung der Reaktion sehr schnell den Teppich unter den Füßen wegziehen. Jeder Versuch, eine konterrevolutionäre Verschwörung zu organisieren, würde beiseitegeschoben werden. Unter diesen Umständen wäre eine friedliche Umwälzung der Gesellschaft absolut möglich. Außerdem hätte das Beispiel eines demokratischen Arbeiterstaates in einem entwickelten Industrieland wie z.B. Großbritannien (oder jedem anderen entwickelten Land) eine noch größere Vorbildwirkung als das Russland von 1917. Angesichts der enormen Stärke der Arbeiterklasse und der Krise des Kapitalismus würden die bürgerlichen Regime in Europa sehr schnell fallen, was die Grundlage für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa und schlussendlich der ganzen Welt legen würde. Das ist die Perspektive, die wir euch anbieten.

Es erscheint euch schwierig, dies umzusetzen? Aber was ist die Alternative dazu? Die Erfahrung einer jeden linken Regierung in der Vergangenheit gibt uns darauf die Antwort. Falls die Führung der Arbeiterbewegung keine drastischen Aktionen setzt, um die Macht der Banken und Monopole zu brechen, wird sie sich schon sehr rasch als Geisel der City of London wiederfinden. Sie wird gezwungen sein, selbst Angriffe auf den Lebensstandard der ArbeiterInnen, der Armen, der Arbeitslosen durchzuführen. Und wenn sie von den Bossen nicht mehr gebraucht wird, wird gegen sie mit Hilfe der Presse und des Fernsehens eine Verschwörung organisiert, bis sie zurücktreten muss. Gefolgt von einer noch reaktionäreren rechten Regierung.

In Wirklichkeit ist das, was wir anbieten, gar nicht so schwierig umzusetzen. Würde die Führung der Arbeiterbewegung auch nur ein Zehntel ihrer Energien, die sie zur Verteidigung des Kapitalismus aufwendet, dafür einsetzen, die Kraft der Arbeiterklasse zur Veränderung der Gesellschaft zu mobilisieren, könnte die sozialistische Umwälzung schnell und relativ schmerzlos vollbracht werden. Wenn die Arbeiterbewegung jedoch auf diesem Weg versagt, dann droht auf der Grundlage einer tiefen Krise des Kapitalismus eine Periode der dunklen Reaktion.“

Auf der Grundlage dieser Methode bekam unsere Strömung in den 1970er Jahren die Unterstützung der britischen LPYS für ein Programm der sozialistischen Revolution.

Die generelle Herangehensweise unserer Strömung an die Frage von Staat und Revolution knüpft an die Position von Marx, Engels, Lenin und Trotzki an. Sie erwies sich immer wieder als korrekt – besonders in der Periode nach 1945, vor allem in der Portugiesischen Revolution und in Frankreich im Mai 1968. Hier handelt es sich nicht nur um eine Frage der Theorie, sondern um die eigentliche historische Erfahrung des internationalen Proletariats.
Aus unserer Sicht ist es essenziell, die marxistische Staatstheorie zu studieren, jedoch nicht nur anhand der klassischen Texte des Marxismus, die noch immer ihre volle Gültigkeit besitzen, sondern auch auf der Grundlage der lebendigen Erfahrung des Klassenkampfes über die letzten 100 Jahre.

Ted Grant und Alan Woods
London, 9.5.1996

 


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