Die ÖVP-Spitze treibt rund um den Ibiza-Untersuchungsausschuss mit dem Parlament und Teilen der Justiz ein Katz-und-Maus-Spiel. Konstantin Korn geht der Frage nach, ob die Demokratie in Gefahr ist und wie die Arbeiterbewegung zum Rechtsstaat und zur Verfassung stehen sollte.
Seit Monaten ist die türkise Clique rund um Kanzler Kurz vor allem damit beschäftigt, ihr System der Freunderlwirtschaft und somit sich selbst zu retten. Das Sittenbild, das durch den parlamentarischen Untersuchungs-Ausschuss und die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) öffentlich gezeichnet wurde, zeigt, dass der vielbeschworene Anstand sicher nicht auf der Regierungsbank zu finden ist. Das Netzwerk aus ÖVP-geführter Regierung, Unternehmer und Kapitalvertreter, schwarzen Spitzenbeamten und Medienkonzernen ist die wahre Macht in diesem Land. Für den Erhalt und Ausbau dieser Machtpositionen wird jedes legale Schlupfloch genutzt, zuweilen auch das Gesetz zurechtgebogen. Daran neu sind nur die schamlose Unverblümtheit und das große Ausmaß.
Die Grundprinzipien der bürgerlichen Demokratie, der Verfassung und des Rechtsstaats waren seit jeher geduldiges Papier, dem immer schon eine reale Rechtspraxis entgegenstand, der die Gleichheit vor dem Gesetz, demokratische Kontrollrechte und Transparenz fremd waren. „Die Gesetze gleichen Spinnennetzen; wie jene halten sie die Kleinen und Schwachen gefangen, während die großen das Netz zerreißen und entkommen“, wusste schon der alte Solon.
In den Anfängen der Arbeiterbewegung gehörte es zum ABC, im Staat, einschließlich der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, ein politisches Instrument der Klassenherrschaft über die Arbeiterklasse zu sehen. Diese politische Klarheit ist nach Jahrzehnten des Mitregierens oder der staatstragenden „Oppositions“-Politik weitgehend verloren gegangen. Heute sehen sich die Sozialdemokratie, aber auch die KPÖ/Links, als wichtigste Verteidiger von „Rechtsstaat“ und Verfassung. Die „Schönheit der Verfassung“ wird, seit das bunte Treiben der türkisen Mannschaft vermehrt zu politischen Krisen führt, von liberalen KommentatorInnen nun immer öfter bemüht.
Was ist eine Verfassung?
Die Verfassung ist das gesetzliche Grundgerüst des Staates. Sie regelt die Fragen der Gliederung des Staates seiner Organe und des Staatsterritoriums, den Prozess der Gesetzgebung, zentrale Rechte und Pflichten der Bevölkerung zum Staat. Im „Ursprung der Familie, des Privateigentum und des Staates“ beschrieb Friedrich Engels, warum der Staat entstand:
„Damit aber diese [Klassen]Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangen, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“
Die Aufrechterhaltung der Ordnung erfolgt durch die Polizei, die Armee und die Justiz. Der Staat erscheint dabei als neutrale Kraft, die über der Gesellschaft steht, tatsächlich ist er aber ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Macht der herrschenden Klasse. Die Gewaltenteilung mit den Kontrollrechten der einzelnen Staatsorgane sollen dem System Stabilität und Kontinuität verleihen und den Repressionscharakter des Staates verschleiern.
Der „Rechtsstaat“ hat somit auch eine ideologische Funktion, aber seine Grundfunktion besteht darin, den legalen Rahmen für eine kapitalistische Warenwirtschaft zu setzen. Die Tauschbeziehungen auf den Märkten können nur dann ungestört funktionieren, wenn die staatlichen Behörden, die formal unabhängig von Einzelinteressen agieren, die Regeln setzen und ihre allseitige Einhaltung garantieren. In der Praxis lauft es oft genug anders und Beamte und Richter haben sehr wohl für bestimmte Interessen ein „offenes Ohr“.
Der Verfassungs- und Rechtsstaat ist unter „normalen“ Bedingungen aus der Sicht der Bürgerlichen die optimale Regierungsform. Lenin schrieb dazu in „Staat und Revolution“: „Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus.“
Die Freiheit und ihre Aufhebung
Verfassungsgesetze waren eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution gegen die alte Feudalordnung. Die Bürgerlichen sahen darin eine notwendige Voraussetzung, damit sich das System des freien Warenverkehrs gesamtgesellschaftlich durchsetzen konnte. Die noch junge Arbeiterbewegung hat den Kampf um Grundrechte unterstützt, weil „die Beseitigung aller Fesseln der freien Meinungsäußerung (Ausnahmegesetze, Presse-, Vereins- und Versammlungsgesetze)“ die „Verbreitung der sozialistischen Ideen“ erleichtern würde, so das „Hainfelder Parteiprogramm“ der Sozialdemokratie von 1888/89.
Zu dieser Zeit schon war es klar, dass die durch die bürgerlichen Revolutionen proklamierten Freiheits- und Grundrechte längst wieder eingeschränkt wurden. Im „18. Brumaire“ beschrieb Marx 1852:
„Jeder Paragraph der Konstitution enthält nämlich seine eigene Antithese, sein eignes Ober- und Unterhaus in sich, nämlich in der allgemeinen Phrase die Freiheit, in der Randglosse die Aufhebung der Freiheit. Solange also der Name der Freiheit respektiert und nur die wirkliche Ausführung derselben verhindert wurde, auf gesetzlichem Wege versteht sich, blieb das konstitutionelle Dasein der Freiheit unversehrt, unangetastet, mochte ihr gemeines Dasein noch so sehr totgeschlagen sein.“
Die Verfassungen aller bürgerlicher Staaten enthalten Elemente, die in schweren Krisen, besonders angesichts der Bedrohung durch eine soziale Revolution, wie Sicherheitsventile in Form von Notverordnungsgesetzen oder Institutionen mit Sondervollmachten einen legalen Ausstieg aus der Demokratie ermöglichen. Der seit der Reform der Bundesverfassung 1929 vom Volk gewählte österreichische Bundespräsident ist so nichts anderes als eine Art „Reservediktator“ für den Notfall.
Die abstrakte Verteidigung der Verfassung und des Rechtsstaats, wie sie etwa die Sozialdemokratie heute vornimmt, blendet die tatsächliche Funktion der Verfassung und den Charakter des bürgerlichen Staates aus. Es gilt diese Ideologie zu entmystifizieren.
Reaktionäre Tendenzen
In der tiefsten Krise des Kapitalismus seit Generationen kann von „normalen“ Bedingungen nicht wirklich die Rede sein. Das erklärt auch, warum in einem Land nach dem anderen im bürgerlichen Lager Typen an die Staatsspitze kommen, die den Wunsch nach entschlossenerem Vorgehen verkörpern. Parlamentarische Prozesse sind aus der Sicht der Bürgerlichen dann vor allem „lähmend“, Verhandlungen mit den Gewerkschaften einfach „bremsend“.
Auch die Clique um Kanzler Kurz sieht in parlamentarischen U-Ausschüssen und in den Ermittlungen der WKStA nichts anderes als eine Störung ihres Geschäftsmodells und ihres Projekts, den österreichischen Kapitalismus auf Kosten der Arbeiterklasse aus der Krise zu führen.
Die verhaltensauffälligen Vorgangsweisen von Blümel und Kurz im Umgang mit U-Ausschuss und WKStA – denken wir nur an das Spazierenführen eines Laptops, das Vorenthalten von Akten aus dem Finanzministerium und dem Bundeskanzleramt und ein mehr als „schlampiger Umgang mit der Wahrheit“ u.v.m. – sind schmerzhafte Nadelstiche ins Herz ehrlicher DemokratInnen. Die organisierte Arbeiterbewegung sollte keine Gelegenheit auslassen, diese Machenschaften der Türkisen ins Scheinwerferlicht zu zerren, angefangen mit einer offensiven Haltung gegen Kurz und die Seinen im Parlament. Eigentlich wäre längst der Zeitpunkt gekommen zu Straßendemonstrationen gegen diese Bagage aufzurufen.
Die Bürgerlichen werden an der Kurz-ÖVP festhalten, solange Kurz Wahlerfolge garantiert, auch wenn die türkise Regierungsmannschaft mit ihrer Arroganz der Macht zusehends zu einem Problem wird. Eine Anklage gegen Kurz und Blümel sind nicht ausgeschlossen und würden jedenfalls eine neue Chaotisierung der Innenpolitik bedeuten, Kurz wird versuchen die Flucht nach vorne anzutreten. Die Türkisen hätten auch wenig Skrupel weitere Schritte in Richtung „Orbanisierung“ zu setzen, wie sie es mit Drohungen gegen Teile der Justiz (insbesondere die WKSta) oder die politische Einflussnahme im ORF bereits tun.
Dies ist keine Außerkraftsetzung der bürgerlichen Demokratie, aber die Arbeiterbewegung sollte jede autoritäre Tendenz gleich im Keim ersticken. Wir verlassen uns im Kampf gegen Kurz weder auf die Staatsanwaltschaft und Justiz noch auf die „vernünftigen“ Kräfte unter den Bürgerlichen, die hauptsächlich aus Polit-Pensionären wie dem Kurz-Opfer Reinhold Mitterlehner bestehen.
Genauso schamlos wie Kurz die Interessen seiner Freunde serviciert, müsste die Sozialdemokratie die sozialen Interessen der Arbeiterklasse und Jugend benennen und durchkämpfen. Dann wäre dem türkisen Spuk schnell ein Ende bereitet.
Diese politische Idee ist in der Arbeiterbewegung aktuell nicht mehrheitsfähig, das bedeutet, dass Kurz immer neuen Spielraum für Demagogie und Politmanöver vorfindet. Für die AktivistInnen der Arbeiterbewegung ist es dabei zentral zu verstehen, dass die Kurz-Politik nicht Ausdruck der Stärke, sondern umgekehrt Zeichen der Krise des bürgerlichen Systems ist.
(Funke Nr. 194/26.5.2021)