Am 15. Februar fanden sich über 80 Personen im AAI in Wien ein, um über die revolutionären Bewegungen in Tunesien und Ägypten zu diskutieren. Die Veranstaltung wurde gemeinsam von der marxistischen Strömung Der Funke und der marxist*in. (Marxistische Initiative in der SJ Wien) organisiert.

Als RednerInnen am Podium diskutierten Imed Garbaya (ehem. linker, panarabischer Uni-Aktivist aus Gafsa, Tunesien), Lis Mandl (Gewerkschafterin aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich, Funke-Redakteurin, lebte längere Zeit in Palästina) und Ramin Taghian (Perspektiven). Eingeleitet und moderiert wurde die Diskussion von Neva Löw (marxist*in.).

Lis betonte in ihrem Eingangsstatement die Bedeutung der Ereignisse in Tunesien und Ägypten für die restlichen Länder in der arabischen Welt, wo ähnliche Ursachen (hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Repression, …) nun in einem Land nach dem anderen Protestbewegungen losgetreten haben. Sie schätzte die Rolle von Islamischen Fundamentalisten in diesen Bewegungen als nahezu nicht existent ein und verwies auf den sekulären Charakter der Bewegungen, die überwiegend demokratische Forderungen stellen. Dies widerlegt eine in westlichen Ländern bewusst gestreute Vorstellung, von wegen diese Länder seien ein einzig reaktionärer Block. Zur Frage ob es sich um Facebook-Revolutionen handelt, meinte sie, dass soziale Medien zwar eine wichtige Rolle bei der Organisierung der AktivistInnen spielen, aber eine wirkliche Bewegung nicht ersetzen können. Gerade der Eintritt der organisierten ArbeiterInnenbewegung war der entscheidende Moment, der die Diktaturen von Ben Ali und Mubarak zum Stürzen brachten. Lis ging auch auf die Rolle von Frauen ein, die in diesen Bewegungen eine vorwärtstreibende Rolle spielen. Bereits 2008 waren es zuerst die Arbeiterinnen die im Mahalla Textilwerk in den Streik traten und anschließend ihre männlichen Kollegen anspornten es ihnen gleichzutun. Ein wichtiges Element diesen Bewegungen ist die Solidarität zwischen den Geschlechtern und Religionen, die gemeinsam in den Kampf eintraten. Am Tahrir-Platz konnten sich Frauen frei bewegen, ohne sich vor sexuellen Übergriffen fürchten zu müssen – eine Furcht, die unter normalen Umständen in Kairo auf der Tagesordnung steht. Noch vor wenigen Wochen gab es Übergriffe fundamentalistischer Kräfte auf koptische ChristInnen. Hingegen bei den Demonstrationen der letzten Wochen formierten ChristInnen und AtheistInnen Menschenketten, um betende Muslime zu schützen. Der gemeinsame Kampf überwindet Spaltungsmechanismen der herrschenden Klasse (wie Sexismus, Rassismus). Lis stellte außerdem die These auf, dass die Übergangsregierungen in Tunesien und Ägypten in die Krise treten werden, da die Menschen nicht nur für einen politischen Wechsel eintraten, sondern für wirkliche Freiheit kämpften. Diese wird aber nicht erreicht werden können, solange die ökonomische Basis unangetastet bleibt.

Imed eröffnete sein Statement mit dem Satz: „Die Revolution begann am 17. Dezember in Sidi Bouzid, wird aber am Tahrir Platz nicht enden.“ Danach ging er auf die Hintergründe ein, die in Tunesien zur Revolte führten. Tunesien ist ein Polizeistaat, indem die Meinungsfreiheit extrem einschränkt ist. Kritisch denkende Menschen sind immer wieder Opfer von Repressionen seitens des Staatsapparats. Über die Jahre wuchs in der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis nach Freiheit und Demokratie. Zusätzlich brachte die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, die Situation noch weiter zum Kochen. Er erklärte, dass die Bewegung nach dem Sturz von Ben Ali noch bei weitem nicht zu Ende ist. Bereits zwei Mal wurde die Übergangsregierung – in der sich weiterhin einige Minister des alten Regimes befinden – aufgrund des Drucks von unten umgebildet. Während der Ereignisse hat sich die Front des 14. Januar gebildet. Diese besteht aus mehreren verschiedenen linken Gruppierungen, u.a. die Kommunistische Arbeiterpartei. Die Front fordert nun eine Verfassungsgebende Versammlung, an der sich Personen beteiligen sollen, die von der Bevölkerung akzeptiert werden.

Ramin erläuterte die jüngere Geschichte des aufkeimenden Widerstands in Ägypten. In den Jahren 2000 bis 2003 kam es zu den ersten Protesten aufgrund der Unterdrückung der PalästinenserInnen und gegen den Irakkrieg. Hier wurde auch erstmals eine Kritik an der Rolle der Regierung und von Mubarak laut. Im Zeitraum 2004 bis 2005 gründete sich die Protestbewegung Kifaya, an der sich mehrere politische Strömungen beteiligten. 2006 bis 2008 sah die größten Streikbewegungen seit den 40er Jahren, in denen auch vermehrt Forderungen nach unabhängigen Gewerkschaften gestellt wurden. Einer der Höhepunkte waren die Straßenkämpfe am 6. April 2008 während des Streiks in Mahalla al Kubra, aus dem heraus sich die Jugendbewegung „6. April“ formierte. Die Ereignisse von Tunesien dienten als Katalysator für den jetzigen Umsturz, an dem sich Mitglieder verschiedener Klassen beteiligten. Die Mittelklasse versucht nun nach dem Sturz von Mubarak zu demobilisieren und setzt Hoffnungen in eine „Demokratie“. VertreterInnen der Jugendbewegung sitzen nun mit dem Militär zusammen, verhandeln über eine Koalition und versuchen, dass ihre Forderungen gehört werden. Die ArbeiterInnenbewegung tritt jedoch nun in die zweite Phase der Revolution ein, seitdem sie am 8. Februar als organisierte Kraft auf der Bühne erschienen ist. In etlichen Streiks quer durchs Land vermischen sich ökonomische mit sozialen Forderungen, sowie Forderungen nach unabhängigen und demokratischen Gewerkschaften. Zur Rolle des Militärs bemerkte er, dass es zwar nun als unabhängige Instanz betrachtet wird, aber immer ein fixer Bestandteil des alten Regimes war. Da es auch ein zentraler Wirtschaftsfaktor im Land ist, wird es selbst nachdem die Macht an eine „zivile Regierung“ übergeben wird die eigene Macht nicht abgeben.

In der daran anschließenden Diskussion im Publikum gingen viele auf die Rolle der spontan gegründeten Komitees ein. Entstanden als Selbstverteidungskomitees in den Nachbarschaften, um sich von Schergen des alten Regimes zu schützen, übernehmen diese nun in mehreren tunesischen Städten vermehrt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aufgaben (wie z.B. Lebensmittelversorgung). Es kam zur Herausbildung von Strukturen der Doppelmacht, wo – wie z.B. in einer Resolution des Komitees der Stadt Sidi Bou Ali ersichtlich wird – die Komitees de facto die Macht übernommen haben. Dies sind Embryos einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. Die Regierung in Tunesien sitzt alles andere als sicher im Sattel. Regionale Streiks dauern an, in zahlreichen Betrieben wurden Manager von der Belegschaft auf die Straße geworfen und es gibt Zeitungen deren Inhalte nun Belegschaftskomitees bestimmet werden. Am 13. Februar musste der Außenminister aufgrund eines Streiks im Ministerium zurücktreten. Der Vorschlag der Regierung für die neuen Gouverneure der einzelnen Provinzen – etliche von denen können in Verbindung mit der alten Regierungspartei RCD in Verbindung gebracht werden – musste aufgrund einer neuen Welle von Demonstrationen und Streiks wieder zurückgenommen werden. Dies zeigt ganz deutlich das derzeitige Kräfteverhältnis und dass die Macht noch immer auf der Straße liegt. In solch einer Situation ist die Rolle des subjektiven Faktors entscheidend. Was fehlt ist eine organisierte revolutionäre Kraft, mit Verankerung in der Gewerkschaftsbewegung, die diese einzelnen Komitees verallgemeinert und auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene vernetzt und so eine neue Regierung und Wirtschaftsordnung zu errichtet. Dies ist auch die wichtigste Lehre für alle jene, die die Bewegungen im arabischen Raum mit Spannung verfolgen und helfen wollen. Wie ein Diskutant bemerkte, ist die beste Hilfe sich im eigenen Land zu organisieren, denn schließlich unterstützen imperialistische Nationen in Europa und Nordamerika die unterdrückerischen Regime finanziell.

Ein Genosse merkte an, dass zwar eine größere organisierte revolutionäre Kraft nicht existiert, dass es aber sehr wohl marxistische Kräfte, wie die GenossInnen der arabisch-sprachigen Website Marxy.com, gibt. Diese leisten einen wichtigen Beitrag zur Analyse dieser revolutionären Bewegungen. Es ist auch in unserem Interesse deren Aufbau zu unterstützen.

Alles in allem war es ein gelungener Abend mit einer fruchtbaren und lehrreichen Diskussion. Es hat sich gezeigt, dass die Ereignisse in Tunesien und Ägypten nicht nur eine Inspirationen für Millionen von Menschen in anderen Ländern im arabischen Raum sind, sondern auch in unseren Breitengraden leidenschaftliche Debatten darüber entstehen, wie die Menschheit die Ketten der Unterdrückung abwerfen und ein selbstbestimmtes Leben führen kann.

Wir möchten uns auch recht herzlich bei der AI-Gruppe für verfolgte GewerkschafterInnen und dem Freidenkerbund bedanken, die diese Veranstaltung unterstützten.

Bericht: Der Funke


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