Mindestens 48 Menschen sind in Peru von Polizei und Armee ermordet worden, seit Präsident Pedro Castillo am 7. Dezember in einem Putsch gestürzt wurde. Die Massen widersetzen sich dem Putsch mit Demonstrationen, Straßenblockaden, nationalen und regionalen Generalstreiks und der Bildung von Kampfkomitees im ganzen Land. Von Sandro Tsipouras.
Castillos Präsidentschaft
Während der Pandemie kam es zu einer Wirtschaftskrise, die zu einem Fall des BIP um 30% und zur Verelendung weiter Teile der peruanischen Gesellschaft führte. Die peruanische Bourgeoisie versuchte im November 2020, die Unzufriedenheit der Massen zu nutzen, um unter dem Vorwand der Korruption den damals regierenden Präsidenten Martín Vizcarra zu ersetzen. Schon Vizcarra selbst war nicht gewählt worden, sondern hatte in einem früheren Putsch 2018 unter demselben Vorwand den Präsidenten Kuczynski abgelöst. Sie wollten Vizcarra durch jemanden ersetzen, den sie lieber hatten: Manuel Merino, ein Vertreter der korruptesten Kreise der peruanischen Bourgeoisie, ein rechtsextremer Viehzüchter, der mit den reaktionärsten Elementen der katholischen Kirche und der Bergbauunternehmen verbandelt war. Dass er zum Präsidenten ernannt wurde, löste eine Aufstandsbewegung aus, die ihn nach nur fünf Tagen im Amt zum Rücktritt zwang.
Im darauffolgenden Jahr wurde dann völlig überraschend Pedro Castillo von der Partei Perú Libre, ein Lehrergewerkschafter, der bereits landesweite Arbeitskämpfe angeführt hatte, zum Präsidenten gewählt. Im Juli 2021 setzte er sich in der zweiten Wahlrunde gegen die Kandidatin der herrschenden Klasse durch, Keiko Fujimori. Sie ist die Tochter des gleichnamigen Diktators, der in den 1990er Jahren brutal über das Land herrschte. Die rechte Demagogin war die Kandidatin der Bergbaumafia, der religiösen Fundamentalisten, Medienkonzerne und Streitkräfte.
Nach den ständigen Putschen und Korruptionsskandalen sahen die Massen in Castillo den Kandidaten, der endlich einmal ihre Interessen vertreten würde. Castillos Programm versprach, Privatisierungen von Gasfeldern rückgängig zu machen und die Bedingungen neu zu verhandeln, unter denen in Peru Rohstoffe gefördert werden, was den größten Teil der Exporte und Staatseinnahmen des Landes ausmacht. Sein Slogan war: „Nie mehr Arme in einem reichen Land.“
Darauf antworteten die 17 großen Unternehmen, die die Wirtschaft des Landes, die Massenmedien, den Staat und die wichtigsten politischen Parteien kontrollieren, mit einer Kampagne aus Lügen, Verleumdungen und Manipulationen. Castillo hatte nun zwei Möglichkeiten. Er hätte mit revolutionären Methoden, das heißt, gestützt auf eine Mobilisierung der Arbeitermassen und der Bauernschaft, gegen die herrschende Klasse und die multinationalen Konzerne vorgehen können. Die andere Möglichkeit war, sich einschüchtern zu lassen und der kapitalistischen Oligarchie Zugeständnisse zu machen.
Er entschied sich von Anfang an für die letztere Option und ging in die Defensive. Er entließ einen Minister nach dem anderen, mit dem die Bourgeoisie unzufrieden war – beispielsweise den Arbeitsminister, als der es wagte, ein Gesetz gegen die Leiharbeit vorzuschlagen (eine der größten Geißeln der peruanischen Arbeiterklasse in den letzten drei Jahrzehnten).
Castillo hatte versprochen, die Lizenzgebühren für die Bergbauunternehmen zu erhöhen. In Washington verkündete er auf einem Treffen der „American Peruvian Chamber of Commerce“ (der US-Peruanischen Handelskammer) buchstäblich: „Wir sind keine Kommunisten, wir sind nicht gekommen, um irgendwen zu enteignen, wir sind nicht gekommen, um Investitionen abzuschrecken, im Gegenteil, wir rufen große Investoren und Geschäftsleute auf, nach Peru zu gehen.“ Um seine „Verlässlichkeit“ im Sinne der Bourgeoisie zu unterstreichen, brach er auch mit seiner Partei, Perú Libre, was seine parlamentarische Basis schmälerte.
Doch die Reichen und Mächtigen lassen sich durch solche Zugeständnisse niemals besänftigen. Die Hetzkampagne der Medien mit Misstrauensanträgen im Parlament und haltlosen Korruptions- und Vetternwirtschaftsvorwürfen ging unvermindert weiter. Die peruanische Oligarchie kann es nicht ertragen, dass ein Mensch aus der Arbeiterklasse und der armen Mehrheit das höchste Amt des Landes bekleidet.
Der Putsch und die Massenbewegung
Castillo war während seiner Präsidentschaft mehreren Amtsenthebungsverfahren des von der Bourgeoisie kontrollierten Kongresses ausgesetzt. Am 7. Dezember, nur wenige Stunden bevor der Kongress mit einem dritten Amtsenthebungsverfahren beginnen sollte, versuchte Castillo, dies zu verhindern. Er kündigte an, den Kongress aufzulösen und eine „Notstandsregierung“ zu bilden. Als Reaktion darauf hielt der Kongress noch am selben Tag eine Dringlichkeitssitzung ab, in der Castillo seines Amtes enthoben und er durch Vizepräsidentin Dina Boluarte ersetzt wurde.
Seine eigenen Minister ließen ihn im Stich, die Staatsanwaltschaft erließ einen Haftbefehl gegen ihn, die kapitalistischen Medien brüllten, er habe einen Putsch durchgeführt. Noch am selben Tag wurde er festgenommen, nachdem er versucht hatte, in die mexikanische Botschaft zu fliehen, des Verbrechens der Rebellion angeklagt und für 18 Monate in Untersuchungshaft genommen – länger als man ihn im Präsidentenamt geduldet hatte. Hinter diesem Putsch steckten die Organisation der Bosse CONFIEP, die Massenmedien, alle Zweige des Staatsapparats und die Bergbaukonzerne. Natürlich war die US-Botschaft sofort zur Stelle, die neue Regierung anzuerkennen.
Doch mit der Reaktion der Arbeiter- und Bauernmassen hatte die Bourgeoisie nicht gerechnet. Wie eingangs bereits erläutert: Die Präsidentschaft Castillos war eine Episode in einem schon viel länger andauernden, verbissenen politischen Kampf der peruanischen Massen. Sie wählten Castillo als Antwort auf eine Bourgeoisie, die ihrer Bevölkerung schon seit Jahren einen ungewählten, erzreaktionären Regierungschef nach dem anderen auftischt. Dass sie nun auch Castillo auf die gleiche Weise abfertigen wollen, ist der Grund für die Straßenblockaden, massiven Demonstrationen und Proteste im ganzen Land.
Es ist eine außerordentlich kämpferische Bewegung. DemonstrantInnen besetzten Flughäfen und plünderten in einigen Fällen die Ämter der Justiz und der Staatsanwaltschaft. Seit Mitte Dezember wird die Armee gegen die Demonstrationen eingesetzt. In Ayacucho widersetzten sich die Massen der Armee und drängten sich durch mit Kriegswaffen bewaffnete Soldatenreihen ins Stadtzentrum. Die Zahl der Todesopfer erreichte bald fast 30 unbewaffnete Zivilisten, die von der Armee und der Polizei getötet wurden.
Eine Versammlung von Vertretern der Arbeiter- und Bauernorganisationen der südlichen Regionen beschloss einen Aufruf zu einem Generalstreik in der gesamten Region und die Bildung gemeinsamer Streikkomitees. Das Treffen forderte die Ausbreitung der Bewegung auf den Rest des Landes. Der Streikbewegung wurde erneut mit brutaler staatlicher Repression begegnet. Im Januar kam es zu einem weiteren Massaker in Juliaca, in der Region Puno, wo die Polizei das Feuer auf aymarasprachige DemonstrantInnen eröffnete, die sich aus den ländlichen Gebieten versammelt hatten. Die Polizei tötete mindestens 18 weitere Menschen, darunter einen jungen Arzt, der den Opfern half.
Was für ein Programm brauchen wir?
Das Verhalten der Bourgeoisie in Peru gegenüber Castillo ist keine Ausnahme. Wann immer eine Regierung die Unterstützung der Massen hat und droht gegen die Profitinteressen der Kapitalisten vorzugehen, versuchen sie alles, um sie loszuwerden und den Widerstand der Massen zu brechen. Der Marxismus erkennt diese Tatsache an und formuliert eine Lösung dafür, wie sich eine Regierung der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie verteidigen kann. Das Wichtigste dafür ist ein revolutionäres Programm.
Die Partei Perú Libre bezeichnet sich als „marxistisch, leninistisch und mariateguistisch“ (letzteres beruft sich auf den peruanischen Kommunisten José Carlos Mariátegui 1894; †1930). Doch ihr Programm ist nicht sozialistisch, geschweige denn revolutionär. Es stützte sich nicht auf die Enteignung der Produktionsmittel oder auf die demokratische Planung der Wirtschaft, sondern auf den frommen Wunsch, dass die sogenannte „nationale Bourgeoisie“ für das Wohl der Mehrheit arbeiten würde. Es gibt für die Kapitalisten aber überhaupt keinen Grund, so zu handeln. In einem Land wie Peru ist die Bourgeoisie den ausländischen imperialistischen Interessen untergeordnet. Die „nationale Bourgeoisie“ kann keine andere Rolle spielen als die von lokalen Agenten der multinationalen Konzerne. Die Rolle der Bourgeoisie so misszuverstehen, liefert ihr die Bewegung kampflos aus. Man kann sich nicht gegen jemanden wehren, wenn man die Illusion hat, ihn zum Partner machen zu können.
Die Bewegung der Massen ist wie immer viel radikaler als ihre politischen Vertretungen. Sie fordern Freiheit für Castillo, Auflösung des Putschistenparlaments, Absetzung der mörderischen Präsidentin Boluarte, Neuwahlen und eine konstituierende (verfassungsgebende) Versammlung. Das sind grundlegende demokratische Forderungen gegen den Putsch.
Sind es die ArbeiterInnen, Studierenden, Bauern und die indigenen Völker oder sind es kapitalistischen Oligarchen, die das Land beherrschen? Diese Frage soll die konstituierende Versammlung beantworten. Die peruanischen Massen verstehen bereits, dass Neuwahlen das Problem nicht lösen würden, weil das gesamte politische System für sie völlig nutzlos und auf die Interessen der herrschenden Klasse ausgerichtet ist. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass auch eine Reform der politischen Strukturen ihre Probleme nicht lösen kann, denn letztendlich kommt es auf die Kontrolle der Wirtschaft an. Mehrere andere Länder in der Region hatten in jüngster Vergangenheit konstituierende Versammlungen, darunter Bolivien und Ecuador, und die herrschende Klasse dieser Länder beherrscht noch immer deren Wirtschaft. Es ist zu erwarten, dass die Bourgeoisie sich auf eine konstituierende Versammlung einlässt, um die Bewegung zu sabotieren.
Was sich vor allem ändern muss, ist, wer wirklich die Macht in der Gesellschaft hat. Dafür brauchen die Massen keine Versammlung, in der sie sich mit der Bourgeoisie zusammen über Formulierungen in einer Verfassung den Kopf zerbrechen, die später niemanden interessiert, sondern dafür muss man die Konzerne enteignen, die die Wirtschaft und die Ressourcen des Landes kontrollieren. Nur in einer sozialistischen, demokratischen Planwirtschaft, in der sich der Reichtum des Landes in den Händen der arbeitenden Menschen befindet, kann es wirklich „nie mehr Arme in einem reichen Land“ geben.
Die Bewegung ist weiter am Vorwärtsgehen, mit einem landesweiten Generalstreik und einem Marsch auf die Hauptstadt Lima am 19. Jänner. Um zu siegen, muss sich die Bewegung zum Ziel setzen, eine revolutionäre Regierung aufzubauen, die unabhängig von der Bourgeoisie organisiert ist, die den Sturz der Bourgeoisie durchführt und niemandem außer den ausgebeuteten und unterdrückten Massen selbst verpflichtet ist. Daher fordern die Genossen der IMT in Peru eine Nationale Revolutionäre Versammlung der ArbeiterInnen und der Bauernschaft mit jederzeit abwählbaren Delegierten aus allen Betrieben, Arbeitervierteln und Bauerngemeinde, die die Regierungsgeschäfte übernimmt.
(Funke Nr. 210/19.1.2023)