Aufbruch, Revolte, sexuelle Befreiung, Studentenbewegung, Revolution… Noch 40 Jahre später ist das Jahr 1968 ein Bezugspunkt für alte und junge Linke. Was geschah 1968 wirklich? Was für Spuren hat dieses Jahr hinterlassen? Einige Erklärungen und Gedanken. Ein Artikel von Hans-Gerd Öfinger (Funke, Deutschland).
In der Nachkriegsgeschichte markiert das Jahr 1968 durchaus so etwas wie einen Wendepunkt, Umschwung und Aufbruch. In den 1950er und 1960er Jahren hatten die kapitalistischen Industrieländer einen steilen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Ein allmählich steigender Lebensstandard der Arbeiterklasse und der Rückgang der Arbeitslosigkeit stärkten in den Gewerkschaften und Arbeiterparteien die Ideen von Sozialpartnerschaft und Klassenharmonie. In Westdeutschland herrschte Anfang der 1960er Jahre „Vollbeschäftigung“ und mussten für den wachsenden Produktionsapparat sogar Hunderttausende, schließlich Millionen „Gastarbeiter“ aus den Mittelmeerländern angeworben werden. „Wozu den Kapitalismus in Frage stellen, wenn er doch was bringt?“, dachten sich damals viele.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung war in den 1950er und 1960er Jahren war in der Bundesrepublik wie auch anderswo eine politische Verkrustung einhergegangen. Alte reaktionäre Kräfte hatten seit spätestens seit Ende der 1940er Jahre wieder die Oberhand und gaben in der Politik den Ton an. Die CDU/CSU eroberte 1957 mit 50,2 Prozent sogar die absolute Bundestagsmehrheit. Die SPD rückte immer mehr von ihrem (rein verbalen) Marxismus ab und machte endgültig ihren Frieden mit dem Kapitalismus bzw. der „sozialen Marktwirtschaft“. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) war 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten worden.
Pulverfass Ruhrgebiet
Doch als sich im Herbst 1966 eine wirtschaftliche Rezession abzeichnete und durch Entlassungen die Arbeitslosigkeit wieder zunahm, kamen neue Existenzängste auf. 1966/67 radikalisierte sich die Protestbewegung an der Ruhr gegen die Schließung von Kohlebergwerken. Rückblickend beschrieb Thomas Rother, einst Lokalredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), in seinem Buch „Arbeiterlieder aus dem Ruhrgebiet“ die damalige Stimmung mit den Worten: „Bei den Demonstrationen gegen die Zechenstilllegungen kam es einige Male zu wüsten Szenen. Manchmal hatte man den Eindruck, man sitzt auf einem Pulverfass. Es gab Berichterstatter, die hätten Angst gehabt, die Leute reißen die Straße auf und schmeißen mit den großen Pflastersteinen. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass die Gewerkschaftsfunktionäre damals ihre Aufgabe darin gesehen haben, die Bergleute nicht über ihre Situation aufzuklären, sondern sie zu beruhigen. (...) Die Leute hatten damals monatelang kein Lächeln mehr auf den Lippen, und man hatte den Eindruck, jetzt passiert was.“
„Wenn es an der Ruhr brennt, gibt es im Rhein bei Bonn nicht genug Wasser, das Feuer zu löschen, auch wenn man die Donau hinzunimmt“, erklärte auch der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rainer Barzel (Der Spiegel 24/1966).
Über solche Klassenkämpfe wissen heutzutage nur noch wenige Menschen bescheid. Dies mag auch damit zu tun haben, dass – wie von Rother treffend beschrieben – die Gewerkschaftsapparate mit aller Kraft eine soziale Explosion zu verhindern versuchten. Außerdem war die Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD im Dezember 1966 sicher auch ein Versuch, um durch Einbindung der SPD in die Regierung die Arbeiterklasse zu beschwichtigen.
Die Außerparlamentarische Opposition (APO)
So kommt es nicht von ungefähr, dass im heutigen linken Gedächtnis die „Außerparlamentarische Protestbewegung“ bzw. „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) und die Studentenbewegung der Jahre 1967-68 noch fest verankert sind. An den Universitäten rebellierten Studierende gegen den konservativen „Muff“ im Bildungsalltag. Teile der Jugend begehrten gegen eine überholte Sexualmoral auf und propagierten alternative Lebensformen. Die Existenz von Diktaturen in aller Welt – etwa im Iran oder im NATO-Staat Griechenland – und insbesondere der von den USA und etlichen Verbündeten geführte Vietnamkrieg empörte und brachte viele junge Menschen auf die Straße. Sie orientierten sich an Befreiungsbewegungen in aller Welt und machten den (stalinistischen) nordvietnamesischen Staatspräsidenten Ho Chi Minh und wie auch den 1967 in Bolivien getöteten argentinisch-kubanischen Revolutionär Ernesto „Che“ Guevara zu Idolen.
Die Empörung über die Staatsorgane wuchs, als der Berliner Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des iranischen Diktators Schah Reza Pahlewi von Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras von hinten erschossen wurde. Der Todesschütze ist nie verurteilt worden.
Der SDS
Starken Zulauf hatte in jenen Jahren der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Ursprünglich als Studierendenverband der SPD gegründet, trennte sich die Mutterpartei Anfang der 1960er Jahre endgültig vom SDS, der danach zunehmend zum Sammelbecken und Orientierungspunkt einer neuen linken Opposition wurde. Durch einen Mordanschlag auf Rudi Dutschke, einen Kopf des SDS, am 11. April 1968 wurde weiter Öl ins Feuer gegossen. Dutschke überlebte das Attentat schwer verletzt und starb 1979 an den Spätfolgen. Die Studentenbewegung sah in dem Attentat durch einen völlig unbekannten BILD-Leser eine Folge der Hetze durch die Springer-Presse. Nun versuchten wütende Demonstranten unter dem Motto „Enteignet Springer“ über das Osterwochenende die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern.
Einen Monat später, am 12. Mai 1968, kamen 70.000 Gegner der Notstandsgesetze zu einem Sternmarsch nach Bonn. Das war für die damalige Zeit eine beachtliche Massendemo. Trotz dieser Proteste verabschiedete der Bundestag allerdings mit Zwei-Drittel-Mehrheit gegen 53 Stimmen aus der SPD und 47 der FDP die Vorlage. Kernpunkte waren die Möglichkeiten eines Bundeswehreinsatzes („Streitkräfte als Polizeikräfte“) zur „Abwehr innerer Notstände“, eine Entmachtung des Parlaments sowie die Handhabe zur Aufhebung des Post- und Fernmeldegeheimnisses im Notstandsfall. Da die parlamentarische Opposition relativ klein war, verstanden sich viele Kritiker der Notstandsgesetze nun als Außerparlamentarische Opposition (APO) und veranstalteten Massenproteste.
Globaler Kampf – Mexiko, Pakistan, Frankreich
„1968“ war vor allem auch ein internationales Phänomen. Studentenproteste fanden auch in den USA, Italien, Polen, Japan, Mexiko und weiteren Ländern statt. In Mexiko wurden Anfang Oktober auf dem Höhepunkt der Studentenproteste viele hundert Studierende von den Staatsorganen massakriert. In Pakistan besetzten Arbeiter die Betriebe und Bauern das Land der Großgrundbesitzer, die Jugend rebellierte auf den Straßen. Am weitesten jedoch war die Bewegung im Frühjahr 1968 in Frankreich fortgeschritten. Hier mündete die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit mit den Zuständen unter dem seit 10 Jahren autoritär regierenden Präsidenten Charles de Gaulle im Mai in einen revolutionären Generalstreik.
Ausgangspunkt war ein gewaltsamer Polizeieinsatz mit Tränengas gegen linke Studierende an der Pariser Universität Sorbonne am 3. Mai 1968. Viele hundert wurden festgenommen. Die dadurch ausgelösten Unruhen weiteten sich aus. Barrikaden wurden gebaut. Es kam zu weiteren gewaltsamen Polizeiübergriffen. Die landesweite Empörung und Solidarisierung erfasste rasch Arbeiter, Arbeitslose, Einwanderer, auch viele Frauen. Am 13. Mai kam es zu einem Generalstreik, der immer weiter um sich griff. Die Bewegung erfasste Großbetriebe und alle Ecken des Landes. Fabriken wurden besetzt, es bildeten sich spontan Ausschüsse, die die Kämpfe organisierten, Selbstverwaltung und ein neues solidarisches Leben und neue Form der Kultur machten sich breit. Wirtschaft, Infrastruktur und Staatsapparat waren gelähmt.
Revolutionäre Situation
Unter solchen Umständen waren die Arbeitgeberverbände plötzlich bereit, massive Lohnerhöhungen zu zahlen. Wie immer, wenn sie ihren Besitz und ihre Macht bedroht sehen, machen sie alle Zugeständnisse, um das weitere Voranschreiten der Revolution zu stoppen. „Ein unbefristeter Generalstreik wirft zwangsläufig die Machtfrage auf. Dieser Generalstreik begann spontan, erfasste immer größere Schichten ausgebeuteter Menschen weit über die Industriearbeiterschaft hinaus – Angestellte und Bauern. Die Polizei war kein zuverlässiges Instrument des Staates mehr. Auch viele Soldaten wurden von dieser Stimmung ‚angesteckt’. Die arbeitende Bevölkerung hätte die Macht friedlich übernehmen und eine Arbeiterdemokratie errichten können. Aber die Kommunistische und Sozialistische Partei, die all das nicht gestartet hatten, fürchteten die unkontrollierbare Bewegung ebenso wie die Regierung und stellten sich ihr in den Weg“, so brachte es der britische Marxist Ted Grant damals auf den Punkt.
In der Tat: eine solche revolutionäre Situation kann nicht ewig andauern. Gelingt es den Revolutionären nicht, gut organisiert die ganze Macht zu erobern und abzusichern und Wirtschaft und Staat in ihrem Sinne zu führen, so übernehmen die „alten Kräfte“ wieder das Kommando. Staatspräsident de Gaulle, der wochenlang abgetaucht war, nahm das Heft des Handelns wieder in die Hand und schrieb für Ende Juni Neuwahlen aus. Mit Parolen wie „Mitbestimmung“, „Bildungsreformen“ und „Ordnung schaffen“ konnten die Gaullisten eine klare Mehrheit gewinnen und dabei vor allem die schwankenden Elemente in der Gesellschaft und die Mittelschichten anziehen.
Auch wenn in Frankreich die Chance einer unblutigen Umwälzung in Richtung sozialistische Demokratie verpasst wurde, hinterließen die Ereignisse von 1968 in Frankreich und Europa tiefe Spuren.
Studierende und Arbeiter
Zurück nach Westdeutschland: Im Rückblick war das Jahr 1968 scheinbar nur durch radikalisierte Studenten geprägt. Doch die von Studierenden getragenen Proteste jener Zeit waren ein Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Unzufriedenheit und ein Vorbote für Bewegungen der Arbeiterklasse. Schon oft in der Geschichte hat sich eine Krise der Gesellschaft zuerst in Protesten von Jugendlichen, Studierenden und Intellektuellen ausgedrückt, die gegen die Verlogenheit der herrschenden Gesellschaft aufbegehrten.
Die „68er“-Studenten kamen meistens aus der Mittel- und Oberschicht, hatten weniger materielle Sorgen als heutige Studierende, konnten sich also umso mehr den Kopf über andere Fragen zerbrechen. Sie lehnten sich gegen eine altmodische Moral, überholte gesellschaftliche Zwänge, die Kumpanei der Eliten in Staat und Wirtschaft mit Diktaturen in aller Welt auf und entdeckten, dass viele aus der Generation der Väter und Großväter ihre Nazi-Vergangenheit jahrzehntelang vertuscht hatten. Viele „68er“ hielten die Arbeiterklasse aufgrund eines steigenden Lebensstandards im Westen für „verbürgerlicht“ und durch den „Konsumrausch“ in das System integriert und setzten darauf, dass nicht das westliche Proletariat, sondern Befreiungsbewegungen und Guerillatruppen in der so genannten „3. Welt“ den Anstoß zur Weltrevolution bringen würden.
In dieser Arroganz gegenüber der Arbeiterklasse lag auch eine zentrale politische Schwäche dieser Bewegung. Denn in den folgenden Jahren stellte die westeuropäische Arbeiterklasse immer wieder ihre Kampfkraft unter Beweis. Beispiele hierfür: Massenstreiks in Italien und Großbritannien wie auch „wilde Streiks“ und Tarifkämpfe in Westdeutschland ab 1969. Während viele Ex-68er nach ein paar „wilden Jahren“ an der Uni rasch Karriere machten und sich politisch zunehmend anpassten, blieb und bleibt der Arbeiterklasse nichts anderes übrig, als sich zu organisieren und aus den Erfahrungen und Rückschlägen im Alltag politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Heute, 40 Jahre danach, ist die Kluft zwischen Studierenden und der Arbeiterklasse viel kleiner als damals. Ein Hochschulabschluss ist schon längst kein Garant mehr für eine sichere Existenz und gesellschaftlichen Aufstieg. Der Widerstand gegen Studiengebühren und für das Grundrecht auf unentgeltliche Bildung eint Studierende und arbeitende Bevölkerung und hat auch in den Gewerkschaften viel Unterstützung gefunden. Linke Studierende müssen sich als Teil der Arbeiterbewegung begreifen und praktische Solidarität üben. Letztlich hat nur die arbeitende Bevölkerung die Kraft, um die Machtverhältnisse zu verändern und eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Kluft zwischen Kopf- und Handarbeit überwunden wird und alle Menschen gleichen Zugang zu Bildung und Kultur bekommen und das in ihnen schlummernde Potenzial voll verwirklichen können.
Zum Weiterlesen:
Alan Woods, The French Revolution of May 1968 Teil 1 Teil 2