Alan Woods beleuchtet die Auswirkungen des Kriegs in Georgien auf die internationalen Beziehungen (September 2008).
Vor sieben Jahren haben die terroristischen Attacken auf das World Trade Center die Welt schockiert. Jene Explosionen, welche die Twin-Towers zerstörten, ließen nicht nur New York erzittern, sondern erzeugten Schockwellen, die einen fundamentalen Schwenk in der Weltpolitik erzeugten. Die amerikanischen Bürger waren danach bereit eine aggressivere Auslandspolitik, immer schärfere Beschneidungen ihrer Bürgerrechte, ein mehr an staatlicher Repression und ein explodieren der militärischen Ausgaben zu akzeptieren.
Aber sieben Jahre später zeigt sich ein komplett verändertes Bild: Die Zuversicht der Imperialisten ist verflogen. Die mächtigste Nation in der Geschichte der Welt steckt mitten im Irak-Krieg fest, der bisher mehr als 4.000 US-Soldaten getötet hat und zumindest 35.000 Verletzte (inoffizielle Zahlen sprechen von 100.000) hinterlassen hat. Seit der Invasion sind Hunderte Milliarden an Dollar in den Krieg gesteckt worden. Laut einer Berechnung wurden bisher sogar zwischen drei und fünf Billionen Dollar im Krieg verpulvert (zu Beginn des Krieges rechnete das Weiße Haus mit Gesamtkosten in der Höhe von 50-60 Milliarden Dollar). Nicht einmal das reichste Land der Erde kann einen derartigen Verlust von Blut und Geld auf lange Zeit durchhalten.
Das Pentagon zahlt für die beiden Kriege in Irak und Afghanistan monatlich beinahe fünf Milliarden Dollar. In Vietnam wurden in acht Jahren (1964-72) rund 111 Milliarden Dollar investiert. An die Inflation angepasst würde das einen Wert von mehr als 494 Milliarden Dollar ergeben, rund 61,8 Milliarden Dollar pro Jahr. Aber damals waren 500.000 US-Soldaten in Vietnam stationiert, während im Irak und in Afghanistan zusammen nur 150.000 Soldaten dienen. Damals waren die Soldaten gering bezahlte Freiwillige, während jetzt professionelle Soldaten mit besserer Ausbildung, Ausrüstung und Bezahlung eingesetzt werden. Zu den tatsächlichen Kriegskosten müssten außerdem noch jene für den Wiederaufbau hinzugerechnet werden.
In Afghanistan kämpfen die USA einen verlorenen Krieg. Immer wieder geben Militärsprecher zu, dass der Kampfeinsatz gar nicht gut läuft. Die afghanische Bevölkerung hasst die Besatzungsmächte für die ständige Bombadierung der Zivilbevölkerung. Früher oder später werden sie den Versuch Afghanistan zu kontrollieren beenden müssen, genauso wie es die Briten über ein Jahrhundert früher einsehen haben müssen. Sie werden zum selben Ausweg kommen, wie auch schon die Vertreter „Ihrer Britannischen Majestät“, nämlich die Bestechung von Häuptlingen der Volksstämme. Dies hätten sie auch schon viel früher machen können, es hätte ihnen noch dazu viel Ärger erspart. Es wäre zudem eine sensiblere Herangehensweise gewesen, aber Hausverstand wird im Regelfall nicht mit Bush, Rumsfeld und Cheney in Verbindung gebracht.
Die „Bush-Doktrin“
Der Zerfall der Sowjetunion führte zu einer Situation, die keine Parallele in der Weltgeschichte kennt. In der Vergangenheit gab es immer zwei, drei oder mehrere große Mächte, die um die Vorherrschaft wetteiferten. Aber mit dem Fall der Sowjet-Macht blieb nur mehr eine Supermacht auf der Welt übrig – die Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Welt – in den Worten Shakespeares – „wie ein Koloss dominierten“.
Mit kolossaler Macht geht aber immer auch kolossale Arroganz einher. Die Herrscher in den USA sahen sich auch als die Herren des gesamten Planeten. Und mit der Wahl von George W. Bush ins Weiße Haus wurden die Dinge nur noch schlimmer. Dieser ignorante, bornierte Reaktionär hat zwar abseits der Bibel nicht viele Bücher gelesen, aber er wird einige Filme mit John Wayne gesehen haben. In diesen triumphiert das Gute immer über das Böse und die siebte Kavallerie erscheint im letzten Moment, um die Indianer abzuknallen. Der 11. September wurde allerdings nicht durch die aggressive Außenpolitik Bushs verursacht. Dieser Anschlag war schon lange bevor er auch nur einen Fuß ins Weiße Haus gesetzt hat vorbereitet, genauso wie die Invasion des Iraks. Aber die Anschläge gaben ihm eine perfekte Entschuldigung dafür, seine aggressive Politik der Weltherrschaft umzusetzen, genauso wie er sie theoretisch in der sogenannten „Bush-Doktrin“ vorgesehen hatte. Diese Doktrin ist ziemlich einzigartig, weil sie die gesamte internationale Diplomatie und die Anerkennung von souveränen Staatengebilden, wie sie seit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert bestand, auf den Kopf stellte. Der Westfälische Friede hatte garantiert, dass sich kein anderer Staat in interne Staatsangelegenheiten einmischen darf, bzw. diese als Rechtfertigung für Krieg oder Invasion hernehmen darf.
Aber genau das machten Bush und Blair im Irak. Sie verwendeten die Ausrede, dort bestehe eine Diktatur, die noch dazu Massenvernichtungswaffen besitze, und rechtfertigten damit kriminelle Aggression gegen einen souveränen Staat. Der Krieg gegen Saddam Hussein hatte natürlich absolut nichts mit humanitären oder „demokratiefördernden“ Motiven zu tun, schon gar nichts aber mit der Zerstörung des World Trade Centers. Für eine Verwicklung der Iraker in diesen Anschlag hat es nie auch nur den kleinsten Beweis gegeben. Auch eine Verbindung zwischen Al-Kaida und Saddam Hussein konnte nie nachgewiesen werden. In Wahrheit hätte bei beiden Argumenten viel eher in Saudi-Arabien einmarschiert werden müssen.
Das Argument, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen war eine großangelegte Lüge, die schon kurze Zeit nach der Einnahme Bagdads widerlegt werden konnte. Ein nicht unwichtiger Faktor in den Berechnungen der ImperialistInnen waren sicher die im Irak lagernden Ölreserven, aber es war nicht der einzige Grund. Wenn es nur darum gegangen wäre, hätten sie auf weit wirtschaftlichere Art und Weise Zugang zu diesen Reserven bekommen können. Der Hauptgrund dafür, dass sich die ImperialistInnen für Krieg entschieden haben, war, dass Saddam Hussein nicht bereit war, die Wünsche der ImperialistInnen zu erfüllen. Die Politik der USA im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist sehr einfach gestrickt: Mach was wir dir sagen, oder wir bombardieren dich! Mach was wir dir sagen, oder wir marschieren in deinem Land ein! Es ist die Rückkehr der alten „Kanonenboot-Diplomatie“ des britischen Imperiums, aber auf einem viel höheren Level.
Imperialismus und das „Selbstbestimmungsrecht“
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Washington zu einem strikten Verfechter des „Rechts auf Selbstbestimmung“ für die Republiken des damals noch souveränen Staates Jugoslawien. Mit der Ausrede für dieses „heilige und unverletzbare Prinzip“ einzutreten, intervenierte die USA unter dem Banner der NATO militärisch auf dem Balkan um die Zersplitterung Jugoslawiens einzuleiten. Dieser kriminelle Akt, der sich gegen alle arbeitenden Menschen dieser Republiken richtete, wäre undenkbar gewesen, solange die Sowjetunion existierte. Aber durch die Restaurierung des Kapitalismus in Russland war es möglich zu intervenieren.
Yeltsin und die Betrügerbande im Kreml spielten dabei eine jämmerliche Rolle. Während die Generäle in Moskau vor Wut schäumten, begingen die NATO und die USA Mord und Totschlag in Jugoslawien (natürlich alles unter einem humanitären Deckmantel). Als Zuckerl für Moskau hielt Washington relativ diskret mit Kritik hinterm Berg, als Russland in Tschetschenien blutig einmarschierte. Dies ist vergleichbar mit dem Ehrbegriff, wie er unter Dieben gilt: „Eine Hand wäscht die andere“, wie ein altes Sprichwort sagt. Dies ist das einzig heilige und unverletzbare Prinzip der bürgerlichen Diplomatie.
Da Russland geschwächt blieb und Schwäche immer zu Aggression einlädt, wurde Washington immer herausfordernder. Die USA wurden richtig unverschämt in ihrer Haltung gegenüber Moskau. Nicht zufrieden mit der Auflösung des Warschauer Paktes, haben sie auch noch frühere Verbündete Russlands in die NATO aufgenommen. Langsam aber sicher wurden die russischen Grenzen vom feindlichen Militärbündnis umzingelt. Alle friedfertigen Versprechungen und Zusicherungen konnten diese Tatsache nicht verbergen.
Genauso wie in Jugoslawien verwendeten die ImperialistInnen auch im Irak das „Recht auf Selbstbestimmung“ als Rechtfertigung für die Unterminierung eines Regimes, das nicht in ihr Konzept passte. Und auch hier sehen wir, dass diese Argumentation eine scheinheilige Lüge und Betrug ist. Die USA brachten die SchiitInnen und KurdInnen gegen die Regierung in Bagdad auf, was angesichts der repressiven Politik des Saddam-Regimes nicht wirklich schwierig war. Aber erinnern wir uns kurz daran, dass die SchiitInnen auch schon 1990 aufgestachelt wurden – und dann im Regen stehen gelassen wurden, weil die unmittelbaren Interessen der USA mit dem Rückzug Iraks aus Kuwait befriedigt waren. Der Sinn der Übung war nicht, die Rechte der KurdInnen oder der SchiitInnen zu sichern, sondern ihr Leid dazu zu nutzen, um Sand in die Augen der Weltöffentlichkeit zu streuen. Damit wurden dann die Manöver in dieser Region gerechtfertigt. Nach dem zweiten Krieg, der zum Einmarsch im Irak führte, wurden die SchiitInnen mit der bitteren Realität der Haltung Washingtons gegenüber ihnen konfrontiert. Morgen werden auch die KurdInnen diese Lektion lernen müssen.
Fünf Jahre nach dem Einmarsch im Irak herrscht dort nach wie vor blutiges Chaos. Rund vier Millionen IrakerInnen sind aus dem Irak geflohen oder wurden aus ihren Häusern vertrieben. Hunderte werden jedes Monat getötet. Die Gewalt und das Blutvergießen hat sich nun in die nördlichen Gebiete ausgebreitet, die von den KurdInnen dominiert werden, vor allem in den ethnisch gemischten Städten Kirkuk und Mosul. Und auf die Verteilung der Ölreserven wird es keine akzeptable Lösung geben können. Die USA haben sich so ein Monster geschaffen, das völlig außer Kontrolle gerät. Das einzige Ergebnis wird ein Alptraum an ethnischen Konflikten sein, die vielleicht sogar in der völligen Desintegration des Iraks enden könnte. In Zukunft könnten daher auch Kriege mit Nachbarländern wie der Türkei, Syrien und dem Iran drohen. Dieses vergiftete Geschenk haben die ImperialistInnen den Menschen dieser unglücklichen Region gemacht.
Die letzte große Provokation gegenüber Russland war die Installierung von Atomraketen in Tschechien und Polen. Dies war laut den USA gegen den Iran gerichtet – von dieser plumpen Ausrede ließ sich Moskau aber nicht blenden und richtete die eigenen Raketen selbst auf ihre beiden früheren Verbündeten. Es scheint so, als ob diese Provokation ein Hauptgrund für die Militäraktion der Russen im Kaukasus war. Die russischen Generäle wollten Washington unbedingt einen Schuss vor den Bug setzen und eine klare Nachricht an die Möchtegern-Mitglieder der NATO senden.
Der Krieg in Georgien
Sieben Jahre nach dem elften September repräsentiert der Krieg in Georgien einen neuen Wendepunkt der weltweiten Beziehungen. So wie ein großer Stein, der in einen See geworfen wird, erzeugte dieser Krieg Wellen, welche Auswirkungen auf die ganze Welt haben werden. Über Nacht hat die Arroganz des US-Imperialismus, der die gesamte Welt als seinen Hinterhof betrachtete, einen mächtigen Schlag versetzt bekommen, von dem er sich vielleicht nicht mehr erholen wird. Mit einem Streich hat Russland nicht nur einen leicht erscheinenden Sieg über Georgien erlangt, sondern noch viel wichtiger auch einen über die USA. Dies eröffnet eine völlig neue Situation der Konfrontation des Westens mit Russland.
Warum ließ sich Saakaschwili zur Invasion hinreißen? Moskau macht allein sein Abenteurertum für die Attacke auf Südossetien verantwortlich. Es ist ein unleugbares Fakt, dass der georgische Präsident ziemlich abenteuerlich agierte, im August mit dem Feuer spielte und sich damit fürchterlich die Finger verbrannte. Selbst seine Verbündeten in Washington leugnen dies nicht. Aber selbst ein Blinder würde erkennen, dass beide Seiten –sowohl Russland als auch Georgien - bereits auf den Krieg vorbereitet waren – militärisch, politisch und moralisch. Aber auch der US-Imperialismus steckt bis über beide Ohren im Konflikt.
Saakaschwili stützte sich auf jene Kräfte, die ihn an die Macht gebracht haben. Welche Kräfte waren dies? An erster Stelle der US-Imperialismus, aber auch georgische Flüchtlinge aus Abchasien und Südossetien. In einem Land mit nicht viel mehr als vier Millionen Einwohnern leben 250.000 Menschen als Flüchtlinge, allein in der Hauptstadt Tiflis ist jede(r) Zehnte ein Flüchtling. Für ein Land mit ineffizienter Landwirtschaft und schlecht entwickelter Industrie stellt dies eine kaum verkraftbare Situation dar. Die Lebenssituation vieler GeorgierInnen ist unerträglich, nach offiziellen Zahlen sind 13 Prozent arbeitslos. Die tatsächliche Zahl ist viel höher und in der Hauptstadt sind selbst die veröffentlichten Zahlen noch schlechter.
Vor ihrer Flucht aus Abchasien waren die meisten Menschen aus dieser Region sehr wohlhabend. Sie waren kleine Geschäftsleute, Angestellte im Tourismus oder reiche BäuerInnen, die in der Sowjetunion ein gutes Leben hatten. Heute sind diese Leute lumpenproletarisch oder verarmte HändlerInnen, die zweimal das Regime in Tiflis stürzten. Sie unterstützten den Fall des Regimes unter Gamsakhurdia. Damals nannte man dies einen „Putsch“, aber der folgende Sturz von Schewardnaze (der von Washington angeleitet war) wurde zur „Rosen-Revolution“ hochstilisiert.
Hinter dem neuen Boss in Tiflis stand das georgische Militär und die ChauvinistInnen, die den Krieg herbeisehnten. Sie hatten bereits von Schewardnaze erwartet, dass er ihnen diesen Wunsch erfüllte, wurden aber enttäuscht. Als sie müde waren, auf ein militärisches Eingreifen zu warten, stürzten sie ihn und brachen Saakaschwili an die Schalthebel der Macht. Was war das Resultat des ganzen? Die schwache nationale Wirtschaft wurde mit einem unmöglich hohen Militärbudget belastet – mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr, was einem Drittel des Budgets und einem Zehntel des gesamten BIPs entspricht. Diese „Revolution der Rosen“ duftete daher alles andere als bittersüß für die Menschen.
Die Politik von Saakaschwili verfuhr nach dem Motto „Waffen statt Butter“ und die volle Last wurde auf die Schultern der ArbeiterInnen und BäuerInnen abgewälzt, die nicht nur keine Butter hatten, sondern auch noch ohne Brot dastanden. Die Massendemonstration in Tiflis letzten Dezember machte Saakaschwili darauf aufmerksam, dass sich die Geduld der Menschen ihrem Ende zuneigte. Die einzige Möglichkeit für Saakaschwili, die Aufmerksamkeit der Menschen von ihren dringendsten Bedürfnissen abzulenken, war das Land in ein außenpolitisches Abenteuer zu führen. Der georgische Präsident begann damit, indem er einen Handels- und Immigrationskrieg gegen Russland begann – ein sehr gefährliches Spiel! Solche Spielereien enden meistens im Krieg. Dafür erhielt er aber enthusiastische Unterstützung aus Washington. Bei ihren Kriegsvorbereitungen vertraute die georgische Regierung voll und ganz auf BeraterInnen aus den USA.
In Georgien wurde dabei dieselbe Taktik angewendet, wie sie bereits auf dem Balkan erprobt wurde. Zur Erinnerung: Mitte der 90er Jahre wurde die kroatische Armee von amerikanischen Privatunternehmen trainiert. Dieses Training ermöglichte es der kroatischen Armee überhaupt erst, die serbische Krajina innerhalb von nur zwei Tagen einzunehmen und die gesamte serbische Bevölkerung zu vertreiben. Danach wurde Kroatien in die NATO aufgenommen, wodurch die Rückgängigmachung der Annexion beinahe unmöglich gemacht wurde. Genau diesem Beispiel wollte nun auch Georgien folgen. Es gab nur einen Hacken an dem Plan: Ein Sieg war nur bei einer Nicht-Intervention Russlands möglich. In ihrer Verrücktheit glaubte die georgische Regierung, dass die USA ihnen dies garantieren könnte. Immerhin hielten sie ja auch aus Jugoslawien erfolgreich die Russen heraus.
Aus speziellen Gründen – die nicht unbedingt mit den Interessen des US-Imperialismus zusammenhängen – hatte es Saakaschwili besonders eilig, mit dem Problem Ossetiens Schluss zu machen. Am 7. August ordnete er die Beschießung der Südossetischen Hauptstadt Tskhinvali an. Es ist klar, dass er dies nicht gemacht hätte, wenn er die Reaktion Russlands zuvor geahnt hätte. Seine Selbstüberschätzung hängt offensichtlich damit zusammen, dass er eine Allianz mit den USA geschlossen hatte. Er fühlte sich von seinem großen Bruder gut beschützt. Möglicherweise hat das Pentagon Georgien dazu benutzt, zu testen, wie weit sie mit Russland gehen könnten, ohne eine militärische Reaktion zu befürchten. Möglicherweise dachten die USA auch, Südossetien wäre ein leichtes Ziel. Immerhin handelt es sich dabei um einen kleinen, unbedeutenden Staat, der von Moskau künstlich geschaffen wurde und von einer Bande korrupter Gangster regiert wird. Das Hauptziel dieses Staates schien es zu sein, Georgien zu provozieren. Würde Russland diesen Staat überhaupt verteidigen?
Die amerikanischen Sicherheitsdienste sandten auf jeden Fall die falschen Signale nach Tiflis. Wie konnte der CIA so ein Fehler unterlaufen? Eigentlich erscheint das total unwahrscheinlich. Aber man muss immer im Hinterkopf behalten, dass auch Sicherheitsdienste Fehler machen, und gerade die CIA machte deren schon zuhauf. Es ist aber auch wie bereits gesagt durchaus möglich, dass das Pentagon Russlands Schmerzgrenze ganz einfach austesten wollte. Aber auch ein schlichter Irrtum der CIA ist im Bereich des Möglichen, und dann haben sich die USA sehr gründlich verrechnet.
In jedem Fall hatte der US-Imperialismus seine dreckigen Finger im Spiel. Durch die USA wurde die georgische Armee aufgebaut und sie unterstützten Saakaschwili dabei, „den Russen ja nicht klein beizugeben“. Vielleicht haben sie jedoch nicht geglaubt, dass er sie so wörtlich nimmt und noch im August mit einem Angriff beginnt. Einige verfluchten ihn wohl danach. Doch Fakt ist, dass die USA seit längerem eine Explosion im Kaukasus vorbereiteten, die Lunte brannte bereits lichterloh.
Auch Putin bereitete sich auf diesen Krieg seit langem vor. Die Evakuierung von Tskhinvali begann bereits drei Tage bevor die georgische Armee mit der Beschießung der Stadt begann. Das zeigt, dass Russland bereits den Konflikt erwartete und sich auf die Auseinandersetzung mit Georgien vorbereitet hatte. Es wurden an ossetische Bürger russische Pässe ausgeteilt, um die Ausrede zu haben, die „eigenen Staatsbürger“ schützen zu müssen. Außerdem ist es so gut wie ausgeschlossen, dass der russische Sicherheitsdienst nicht über die Pläne Saakaschwilis informiert war. Und wenn es tatsächlich so war, warum hat die russische Führung den Konflikt nicht verhindert? Natürlich wäre das im Bereich des Möglichen gewesen. Ein paar diplomatische Protestnoten verbunden mit der Drohung einer militärischen Intervention hätte die georgische Meinung wohl wie von Geisterhand geändert. Aber nichts davon passierte. Moskau wartete geduldig wie die Spinne in ihrem Netz auf den Angriff.
Daher ist dieser Krieg wieder einmal ein Beispiel für die schamlose Politik zweier Großmächte. Die Resultate werden die Situation im Kaukasus nur instabiler werden lassen. Jetzt hat eine neue Flüchtlingswelle eingesetzt – diesmal hauptsächlich GeorgierInnen, die aus Ossetien fliehen. Außerdem wird eine weitere Flüchtlingswelle aus jenen Gebieten Abchasiens einsetzen, welche durch die dortigen „Regierungstruppen“ nach einer Offensive gegen die georgischen Truppen neu besetzt wurden. Das bedeutet nun eine neue Welle von menschlicher Bitterkeit und Hass, vermischt mit den bereits vergifteten chauvinistischen und revanchistischen Gefühlen in der Gesellschaft. Auf diesem fruchtbaren Boden werden Terrorismus und weitere Kriege gedeihen.
Opfer und Aggressoren
Die Amerikaner haben wiederholt jede Verwicklung in den Krieg abgestritten, aber dies ist auf jeden Fall falsch. Die USA bildeten die georgische Armee aus und haben mehrere BeraterInnen im Land stationiert. Es ist völlig undenkbar, dass Georgien ohne das Wissen und die Erlaubnis ihrer Meister auch nur einen Schritt gemacht hätte. Keine Marionette tanzt, wenn der Puppenspieler nicht die Fäden zieht. Natürlich kann es sein, dass die ursprüngliche Initiative von Saakaschwili selbst ausging. Außerdem ist auch durchaus möglich, dass nur einige wenige Menschen in der US-Hierarchie von den Plänen wussten und sie unterstützten, während andere nicht davon wussten bzw. sie vielleicht sogar als riskantes Abenteuer ablehnten.
Mit einer unglaublichen Anmaßung verurteilte Washington nach Ausbruch der Kampfhandlungen Russland und verteidigte das „arme kleine Georgien“. Der amerikanische Sprecher machte sich über russische Anklagen über Völkermord lustig, indem er argumentierte, dass die Zahl der Toten „200 nicht übersteige“. Es ist natürlich praktisch unmöglich, die Zahlen zu kontrollieren (Russland spricht von 2.000 Toten oder Vermissten). Aber es besteht kein Zweifel, dass bei der Bombardierung von Tskhinvali Opfer skrupellos in Kauf genommen wurden. Wenn der Einmarsch der georgischen Truppen nicht von Russland unterbunden worden wäre, dann hätte die Tötung von Menschen kein Ende gefunden. Der Protest der westlichen Staaten und die scheinheilige Verteidigung von Georgien führen dabei in die Irre. Georgien ist kein harmloser und unschuldiger Staat, wie uns die westlichen Medien gerne zeigen wollen. In den frühen 1990er Jahren führten nationalistische Führer aus Georgien Bluttaten in Südossetien und Abchasien durch. Auf der anderen Seite ist auch wahr, dass später 200.000 GeorgierInnen mit Hilfe des russischen Militärs aus Abchasien rausgeworfen wurden. Dennoch zeigte sich wieder einmal die bösartige Fratze des bürgerlichen Nationalismus bei der Bombardierung von Tskhinvali.
Die USA rechneten ohne Zweifel damit, dass Georgien den russischen Truppen mehr Widerstand entgegensetzen würde. Diese Hoffnung wurde jedoch eindeutig enttäuscht. Die russische Armee durchschnitt die georgischen Linien wie ein heißes Messer Butter. Die georgischen Truppen, die beim Töten von ZivilistInnen in Tskhinvali solch einen Heldenmut bewiesen hatten, flohen ohne großen Widerstand vor der gegnerischen Armee, die ohne größere Probleme schnell auf georgisches Gebiet bis nach Gori vorstieß. Wenn Moskau es gewollt hätte, dann wäre ein Einmarsch in Tiflis ohne weiteres möglich gewesen. Aber das entsprach nicht dem Plan. Es ging nur darum zu zeigen, wer hier der Boss ist. Sie hatten nicht nur die georgischen Truppen gedemütigt, sondern auch die USA, die hinter ihnen standen. Diese mussten zähneknirschend dabei zusehen, als russische Truppen ganz ruhig die Militärstützpunkte in Georgien besetzte und US-Waffen, Ausrüstungen und alles was nicht niet- und nagelfest war wegbrachten.
Der russische Vorstoß wurde von der Vertreibung von GeorgierInnen aus Südossetien begleitet. Der Großteil dieser Drecksarbeit scheint durch sogenannte ossetische Milizen (in Wahrheit chauvinistische, kriminelle Banden), sowie andere „irreguläre“ Truppen, ausgeführt worden sein, die georgische Dörfer zerstörten. Als Resultat wurden Tausende georgische Familien (hauptsächlich einfache BäuerInnen) von ihrem Grund und Boden vertrieben. Dabei handelt es sich um dieselbe Art von „ethnischen Säuberungen“, wie wir sie auch in Jugoslawien beobachten konnten. Das ist der Preis, den die einfachen Leute zu zahlen haben, wenn die chauvinistischen Bürgerlichen und die zynischen Großmächte ihre Spielchen treiben, bei denen die Menschen nichts anderes sind als Spielfiguren.
Nachdem die georgischen Truppen vernichtend geschlagen wurden und die russischen Truppen kurz vor Tiflis standen, wurde die Aktion plötzlich gestoppt. Aus der Sicht Moskaus war dies durchaus logisch – zumindest vorerst. Es war nicht nötig, die Hauptstadt einzunehmen, da das Ziel erreicht worden war. Russland hatte seine Rache für die ständigen Demütigungen durch Washington in Osteuropa, dem Balkan und dem Irak genommen. Es wurde eine Linie in den Sand gezogen und klar gezeigt: „Hierher und nicht weiter!“ Aber der Kreml hat in diesem tödlichen Schachspiel noch nicht seinen letzten Zug gemacht, denn Putin will Saakaschwili für immer loswerden. Mit höchster Wahrscheinlichkeit wird er damit auch Erfolg haben. Saakaschwili wird die Rechnung für dass ossetische Abenteuer von den eigenen Wählern präsentiert bekommen, und wahrscheinlich abgelöst werden.
Dies wird einen neuen Sieg für den Kreml bedeuten. Wer auch immer Saakaschwili ersetzen wird, muss sich sowohl mit einer neuen Flüchtlingswelle auseinandersetzen als auch mit zerstörten Fabriken und Infrastruktur. Neue Belastungen werden der Bevölkerung abverlangt werden, die durch eine Stärkung des Militarismus und massiven Ausgaben für „Verteidigung“ zusätzlich verstärkt werden. Der Weg zum Krieg bedeutet für die Masse der Menschen immer nur großes Leid.
Die Scheinheiligkeit der ImperialistInnen
Russland verlor keine Zeit damit, Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anzuerkennen, was in den beiden Regionen zu spontanen Jubelfeiern führte. Schlussendlich bekamen sie ihre Belohnung für 15 Jahre unter russischem Schutz. Aber diese „Unabhängigkeit“ besteht natürlich nur zum Schein. Im Endeffekt werden beide Regionen in die russische Föderation integriert werden, um dann sehr rasch zur Erkenntnis zu kommen, dass das Leben beim großen Bruder aus Moskau auch nicht viel besser ist als unter der Kontrolle durch Tiflis. In keinem der beiden Fälle werden sie wahre Selbstbestimmung ausüben können.
Der Westen verweigert nach wie vor die Anerkennung der beiden Staaten. Das wird allerdings Moskau kaum stören, genauso wenig wie die Anschuldigungen, dass Russland inkonsequent handle, weil Moskau die Unabhängigkeit des Kosovos nach wie vor als „illegal“ betrachtet. Es ist wahrscheinlich sogar wahr, dass Russland einen Präzedenzfall für Tschetschenien oder andere abtrünnige Republiken befürchtet. Aber was sagt uns das? Internationale Politik wird nicht von den Gesetzen der formalen Logik bestimmt, sondern von jenen Interessen, die sich in diplomatischen Manövern im Hintergrund abspielen.
„The Economist“ schrieb darüber:
„Prinzipiell sollten Teilrepubliken ab und an das Recht auf Abspaltung haben, aber Südossetien und Abchasien entsprechen hier sicherlich nicht den erforderlichen Kriterien. Keine der Regionen hat bisher ihr Volk befragt, das zu einem großen Teil auch aus georgischen Flüchtlingen besteht. Außerdem gab es keine langwierigen Anstrengungen zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen. Saakaschwili sollte nicht mehr versprechen, die Enklaven zurückzuerobern. Stattdessen sollte der Westen auf eine internationale Friedensmission bestehen. Aber die russische Aggression darf nicht durch die Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden Staaten akzeptiert werden. Dadurch würde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen werden, der sich auf die Ukraine, Moldau und nicht zuletzt Russland selbst auswirken wird.“
Das ist blanke Scheinheiligkeit. Die ImperialistInnen haben unter Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ immer wieder ihre aggressiven Handlungen gerechtfertigt. In der Realität sind kleine Staaten wie Georgien, Ossetien und der Kosovo höchstens Wechselgeld im großen diplomatischen Spiel. Wenn es dem Interesse der Großmächte entspricht ist das Recht auf Selbstbestimmung an einem Tage etwas Geheiligtes und unverletzbares. Am anderen Tag, wenn eine rivalisierende Großmacht auf dieses Prinzip pocht, dann wird ganz schnell ein völlig neues Recht erfunden – nämlich jenes der Verteidigung der nationalen Integrität. Während die USA die Integrität Jugoslawiens mit Füßen traten und es in eine ganze Reihe blutiger Kriege stürzten, welche Tausende Menschenleben forderten, verlangen sie jetzt plötzlich von Russland, die Integrität Georgiens zu respektieren.
Die ImperialistInnen haben Russlands Intervention in Georgien wiederholt als aggressiven Akt gegen einen souveränen Staat bezeichnet. Aber dass ist nichts anderes als leeres Geschwätz und Heuchelei. George Bush beschuldigte Moskau des „Mobbings und Terrors“ und verlangte den Rückzug der Truppen aus Georgien. „Russland muss sich an das Versprechen halten, alle Truppen aus georgischem Gebiet abzuziehen“, verlangte er, während die Invasions-Truppen der USA weiterhin in Afghanistan und dem Irak stehen. Er sagte, solch ein Verhalten sei für Staaten im 21. Jahrhundert nicht angebracht, während er es irgendwie schaffte, eine ernsthafte Miene zu diesem Spiel zu zeigen.
Da die USA der größte Aggressor in der Welt sind, kann man von ihr schwer eine Lektion in ethischem Verhalten verlangen. Bush blickt geflissentlich darüber hinweg, dass die USA und ihre NATO-Verbündeten wiederholt die Souveränität von anderen Staaten verletzt haben. Wie Russlands Präsident Dmitri Medwedew korrekt feststellte: „Man kann nicht ein und dieselbe Sache mit zweierlei Maß messen.“ Der Westen weigert sich beharrlich, den Kaukasus-Konflikt mit dem Kosovo zu vergleichen. Immer wieder wurde festgehalten, dass Russlands Anerkennung der beiden Republiken „nicht mit einem haarsträubenden Vergleich mit dem Kosovo gerechtfertigt werden kann“. So titelte das Editorial des „The Economist“ vom 28. August etwa mit: „Südossetien ist nicht der Kosovo“. Alleine die Tatsache, dass dieses Argument immer und immer wieder gebracht wird, zeigt dass es schlicht und einfach falsch ist.
Welchen Unterschied gibt es zwischen Georgien und Kosovo? „The Economist“ klärt uns auf: „In den georgischen Enklaven handeln die russischen Truppen als von russischen Eigeninteressen angetriebene Unruhestifter, nicht als Friedenshüter.“ Aber die US-Truppen haben immer wieder aus reinem US-Eigeninteressen in den verschiedenen Ländern als Unruhestifter gehandelt. Sie machen rund um den Erdball den größten Ärger – das sieht selbst ein Blinder. Haben wir bereits die kriminelle Rolle des deutschen Imperialismus bei der Zersplitterung Jugoslawien vergessen? Warum passierte das? Hatte es etwa mit tiefster Besorgnis für das Selbstbestimmungsrecht der SlowenInnen und KroatInnen zu tun? Nur ein Einfaltspinsel könnte so etwas glauben. Es ging schlicht und einfach darum, sich als regionale Macht in der Region zu etablieren, wie Deutschland es bereits im zweiten Weltkrieg machte. Sie handelten in anderen Worten als von Eigeninteressen angetriebene Unruhestifter.
Warum intervenierte der US-Imperialismus in Jugoslawien? Ging es dabei wirklich um die Selbstbestimmungsrechte der KosovarInnen? Nein, die USA zogen einzig und allein ihren Vorteil aus der Schwäche Russlands und gewannen dadurch Einfluss in einer ehemals sowjetischen Einflusssphäre, indem sie Slobodan Milosevic stürzten. Und zwar nicht deshalb, weil er die KosovarInnen unterdrückte, sondern weil er nicht das machte, was Washington von ihm wollte. Hier besteht eine große Parallele zu Saddam Hussein – der früher ein Verbündeter der USA war, der allerdings für seine ehemaligen Herren unberechenbar wurde. Und welche andere Beschreibung würde denn besser zur Rolle der USA im Irak passen, als ein von Eigeninteressen getriebener Unruhestifter?
Natürlich würde kein Unruhestifter der Weltgeschichte jemals so ehrlich sein und seine wahren Motive offen legen. Die schmutzigsten Aktionen wurden immer mit den schönsten und humanitärsten Ideen gerechtfertigt. Das ist schließlich auch die Aufgabe der Diplomatie: Aus dem Opfer muss der Aggressor werden und der wahre Aggressor muss als Opfer dargestellt werden. DiplomatInnen werden schlichtweg dafür gezahlt, aus dem bösen Wolf ein scheues Lamm zu machen!
Als die USA in Kuba einmarschierten, um es zu ihrer ersten Kolonie zu machen, taten sie dies mit dem Argument, die Insel vom spanischen Joch zu befreien. Etwas später, im ersten Weltkrieg, zog das heroische Großbritannien gegen Deutschland zu Felde, um das „kleine arme Belgien“ vor den „Hunnen“ zu retten. Dabei wurde ganz nebenbei übersehen, dass dasselbe Belgien brutal über Millionen versklavter Menschen im Kongo herrschte. Selbst Adolf Hitler führte seine Kriege unter dem Banner der besten Absichten: Nämlich die leidenden Sudetendeutschen vor den aggressiven Tschechen zu schützen. Und wer vergisst denn so schnell den wunderbaren „Krieg für Demokratie“, den das selbstlose Amerika in Vietnam geführt hat? Diese Liste kann endlos fortgeführt werden. Doch nach wie vor gibt es simple Gemüter die auf diese Ausreden hereinfallen.
Saakaschwilis Entscheidung in Südossetien einzumarschieren kostete vielen ZivilistInnen das Leben. Es gab zahlreiche Berichte über Gräueltaten in ossetischen Dörfern, die selbst der Westen nicht leugnen konnte. Nur weigerte man sich strikt von „ethnischer Säuberung“ zu sprechen – ein sehr akademischer Zugang aus Sicht der betroffenen OssetierInnen. Trotzdem beharren Washington und die EU auf ihrer Unterstützung für Saakaschwili. Das erinnert daran, was sie immer wieder über Somoza, den Diktator von Nicaragua, sagten: „Er ist ein verdammter Hurensohn, aber er ist immerhin unser Hurensohn!“
Der EU-Gipfel bringt nichts ein
Theoretisch sollte Europa eine der großen Mächte sein, die weit stärker als Russland sind. Immerhin hat Europa eine rund dreimal höhere Bevölkerung als Russland, die Wirtschaft ist dutzendfach stärker als jene Russlands. Dennoch produzierte der Georgien-Gipfel am 1. September nichts als heiße Luft. EU-Offizielle und DiplomatInnen eilten von ihrem Sommerurlaub zurück, um an einem Sondergipfel teilzunehmen, der vom französischen Präsidenten einberufen wurde. Dort verurteilten die PolitikerInnen Russland und verlangten hartes Eingreifen – allerdings blieb es bei plumper Rhetorik. Der Gipfel bestand aus viel Jammerei über Russlands Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens.
Natürlich wurde viel geredet, vor allem auch darüber, dass Europa eine Mission zur Beobachtung der Situation in Georgien entsenden werde. Zu Beginn wurde auch über eine Militäraktion beraten, aber sehr bald wieder fallengelassen. Bei den Beziehungen zu Russland waren die europäischen FührerInnen sehr rasch geteilter Meinung. Die EU ist nach wie vor kein einzelnes Land. Das höchste Gremium, der Europäische Rat, besteht aus 27 Staatschefs, die ebensoviele verschiedene Interessen der Bourgeoisie repräsentieren. Schon vor längerer Zeit stellte Henry Kissinger eine sehr interessante Frage: „Wenn ich mit Europa reden möchte, wenn rufe ich dann an?“ Selbst heute gibt es darauf keine Antwort. Der Versuch eine neue Verfassung zu installieren, mit der eine gemeinsame Außenpolitik möglich gewesen wäre, wurde durch das irische Referendum verhindert. Aber es wäre auch so eine völlig utopische Idee gewesen.
Europa hat ein kleines Problem – es ist massiv von russischen Energielieferungen abhängig. 39 Prozent des EU-Gasbedarfs kommt aus Russland – daher sitzt Moskau sprichwörtlich am längeren Ast. Der Gipfel konnte keine irgendwie befriedigende Antwort auf die „russische Aggression“ liefern, da die europäischen FührerInnen nicht einmal zur einfachsten aller Fragen eine Übereinstimmung erzielen konnten: Hätte eine Maßnahme produktive oder konterproduktive Auswirkungen? Diese Meinungsverschiedenheiten zeigen einmal mehr die Unmöglichkeit für ein auf kapitalistischer Basis vereintes Europa. Wie kann es eine gemeinsame Außenpolitik geben, wenn es kein gemeinsames Interesse in der EU gibt?
Werfen wir zum Beispiel einen genaueren Blick auf die Reaktion Schwedens: Dieses Land ist von russischen Energielieferungen de facto überhaupt nicht abhängig. Der schwedische Außenminister Carl Bildt kann sich daher wie ein Gockel gebärden und laut kreischend fordern, dass die „russische Aggression keinesfalls unbestraft bleiben darf“. Leider Gottes nimmt Stockholms Meinung in diesem Punkt, wie auch bei vielen anderen, absolut niemand ernst. Erstens kann man sich schwer vorstellen, wie die schwedische Armee Richtung Moskau in Gang gesetzt wird. Zweitens kann einem ziemlich rasch der Verdacht kommen, dass die plötzliche Entdeckung der „Prinzipien“ auch durchaus damit zu tun haben könnte, dass die schwedischen Investitionen in den baltischen Staaten plötzlich nicht mehr so sicher wirken, wie sie noch vor einigen Monaten wirkten. Daher muss aus schwedischer Sicht Russland nun zurückgeworfen werden, um nicht auf die Idee zu kommen, dieselbe Vorgehensweise in den baltischen Staaten zu wiederholen, womit nicht nur moralische Vorstellungen angegriffen würden, sondern beinharte ökonomische Interessen.
Andererseits sind Deutschland und Italien sehr stark von russischem Gas abhängig. Daher kam von ihnen – neben der moralischen Entrüstung über „Russlands böses Verhalten in Georgien“ – vor allem der Vorschlag Moskau „als Partner zu engagieren“ und auf eine Bestrafung zu verzichten. In letzten Auseinandersetzungen führte diese Argumentation bereits zu Konflikten mit Ländern wie Polen und Estland. Dabei argumentierten deutsche DiplomatInnen und PolitikerInnen vor allem damit, dass die guten Beziehungen zu Russland nicht als Geisel genommen werden dürften. Das Motto war dabei folgendes: „Ihr Polen und Esten habt kein Recht die Beziehungen mit Russland, das uns mit gutem Gas versorgt und einen Absatzmarkt für unsere Exporte bietet, zu gefährden.“
Dann gibt es da noch das Vereinigte Königreich Großbritannien, das heutzutage weder vereint noch besonders groß ist, wenn man es mit früheren Zeiten vergleicht. Die Regierung „Ihrer Majestät“ tat sich am fleißigsten dabei hervor, eine „vereinte Aktion gegen die Russen“ zu fordern. Unglücklicherweise musste dieser Auftritt von Gordon Brown übernommen werden, der in seinem Versuch besonders staatsmännisch (wie einst Tony Blair) zu wirken, noch erbärmlicher und pathetischer wirkte als sein Vorgänger. Jeder in Europa weiß, dass die britische Macht mittlerweile derart geschrumpft ist, dass sie nur die Rolle eines Lackeien von Washington abgeben kann. Als Gegenleistung berät sich die USA mit genau jener Ernsthaftigkeit mit Großbritannien, wie jeder Meister mit einem Lackeien berät – nämlich gar nicht. Drohungen aus London werden daher in Moskau nicht einmal ignoriert.
„The Economist“ schimpfte daraufhin fürchterlich über die „Schwäche, Selbstsucht und Teilung“ innerhalb der EU (Ausgabe vom 28. August), gleichzeitig schüttelte die Zeitschrift ihren Kopf über das Spektakel und ließ folgende weise Worte folgen:
„Die simple Kalkulation der nationalen Einzelinteressen ist ein komplexes Geschäft, wie jeder Student der Spieltheorie erklären kann. Uneinigkeit wäre dann völlig irrational, wenn die EU ihr gemeinsames Interesse als Ausgangpunkt jeder Überlegung nehmen würde. Aber das passiert nicht, vor allem wenn es zu Verhandlungen mit anderen Ländern – vor allem China, Russland oder den USA – kommt.“
„The Economist“ lamentierte weiter:
„Die Kosten der Uneinigkeit werden nicht von allen EU-Staaten gleichmäßig getragen. Im Energiebereich etwa ist es im gemeinsamen Interesse, die Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden. Deshalb werden auch Pipeline-Projekte finanziert, um das Gas von anderen Regionen importieren zu können. Aber in jedem einzelnen Land wollen die Wähler jeden Winter ihre Heizung und ihr Licht verwenden und dies zu möglichst billigen Preisen. Keineswegs würden sie es zum Beispiel tolerieren, mit ihren Nachbarstaaten Energie zu teilen, wenn die Versorgung aus irgendeinem Grund rationiert werden sollte. In den vergangenen Jahren haben Länder wie Deutschland, Italien, Bulgarien und Griechenland Verträge mit Russland unterschrieben, welche die Abhängigkeit der EU vergrößerten und alternative Versorgungsmöglichkeiten unterminierten. Aus der Sicht dieser einzelnen Staaten hatte diese Selbstsucht durchaus einen rationalen Hintergrund.“
Wahrhaftig! Niemand kann es besser zusammenfassen.
All diese Aufregung hatte absolut keinen Effekt auf Moskau! Die Männer des Kremls erwarteten im Gegenteil sogar diese Proteste und hießen sie sogar willkommen. Je lauter die Proteste, desto genauer können die Unterschiede zwischen Worten und Taten aufgezeigt werden. Der Westen protestiert, schlägt mit der Faust auf den Tisch, verabschiedet Resolutionen und lanciert schreckliche Drohungen – und macht dann gar nichts.
Der Krieg in Georgien bedeutet einen markanten Einschnitt in die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Konstatin Zatulin, ein Abgeordneter zur Duma, verantwortlich für die Beziehungen zu den ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion, drückte es folgendermaßen aus:
„Die Zeit als wir den Applaus des Westens benötigten, ist vorbei. [..] Michail Gorbatschow machte militärische und politische Konzessionen mit dem Westen: Er stimmte der Wiedervereinigung von Deutschland und der Auflösung des Warschauer Paktes zu. Aber seit einigen Jahren gibt es das Land, in dem er Präsident war, nicht mehr.“
Es ist klar, dass der Krieg in den nächsten Jahren einen ernsthaften Einfluss sowohl auf die Innen- als auch die Außenpolitik Russlands haben wird. Russische Truppen werden in Georgien stationiert bleiben, was auch die Haltung gegenüber dem durch Frankreich ausverhandelten Friedensplan zeigt. Dieses Papier verlangte nämlich einen Rückzug der Militärs hinter die Linien vor dem Krieg und eine internationale Diskussion über die beiden Regionen. Die Anerkennung der beiden Enklaven durch Moskau wird in Wahrheit nicht viel ändern, denn Russland kontrollierte die beiden Territorien schon zuvor nach Belieben. Es werden sich zwar wenige Länder der offiziellen Anerkennung anschließen, aber das wird den Kreml nicht wirklich stören.
Die Teilung Georgiens legt die Basis für eine längerfristige Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, mit Erinnerungen an den kalten Krieg. Allerdings stört das den Kreml nicht im Geringsten. Medwedew sagte: „Nichts kann uns erschrecken, nicht einmal die Aussicht auf einen kalten Krieg … Wir haben uns schon verschiedensten Umständen angepasst und werden auch das überleben.“ Die russische Elite weiß, dass sie einige Trumpfkarten in der Hand hält, weil sie große Teile der Gasversorgung Europas kontrolliert. Außerdem sitzen sie auf großen Ölreserven in einer Zeit, wo Rohöl ein knappes Gut ist. Die USA sind zudem auf russische Zusammenarbeit in ihrem Krieg gegen Afghanistan angewiesen. Daher kann Moskau die Drohungen einer „Nicht-Kollaboration“ durch die die NATO, die EU und Washington ignorieren.
Der Westen wird die russische Entscheidung trotz der Entrüstung und der ganzen Aufregung hinnehmen müssen. „Wenn man eine Straße überquert, muss man nach Gefahren Ausschau halten“, erklärt uns Zatulin. „Der Westen kann psychologischen Druck anwenden. Aber Europa kann es sich nicht leisten unser Gas zu verlieren und die USA brauchen unsere Hilfe in Afghanistan.“ Dies entspricht der Wahrheit, und der Westen weiß dies nur zu gut.
Sollten wir Russland unterstützen?
Große Teile der Linken (der Schreiber dieser Zeilen inkludiert) haben die Demütigung des US-Imperialismus sehr genossen. Es war sehr amüsant diesen Herren und Damen dabei zuzusehen, wie sie wie ein Fisch an der Angel zappelten. Noch lustiger waren ihre pathetischen Entschuldigungen und die diplomatischen Spitzfindigkeiten, mit denen sie der Welt vormachen wollten, dass zwar ihr Vorgehen in Jugoslawien, dem Irak und Afghanistan vollkommen rechtens sei, aber Russland im Kaukasus illegal handle.
Um ihre „tiefste Besorgnis“ zu unterstreichen wurde sogar Dick Cheney, als US-Vizepräsident ultra-reaktionärer Kriegstreiber, Profitgeier und Gangster, nach Tiflis entsendet, um Saakaschwili seine bedingungslose Unterstützung zu versichern. Was für ein schönes Paar die beiden abgaben! Der Besuch brachte aber nur ein, dass sich Moskau noch einmal provoziert fühlte, was angesichts der russischen Truppenpräsenz in dieser Region vielleicht nicht gerade der cleverste Schachzug war. Aber das würde natürlich auch bedeuten, dass die Männer und Frauen im Weißen Haus vielleicht doch nicht die cleversten Menschen der Welt sind.
Wenn wir auch gern dabei zusehen, wie George Bush sein vielfach verdientes blaues Auge bekommt, sollten wir nicht den Fehler machen und glauben, dass der Feind unseres Feindes automatisch unser Freund ist. Sowohl Putin als auch Medwedew sind mit Sicherheit nicht die Freunde der OssetierInnen, der AbchasierInnen oder der ArbeiterInnenklasse. Sie sind die Repräsentanten der russischen Oligarchie – dieser reaktionären Bande korrupter MonopolkapitalistInnen, die märchenhaft reich wurde indem sie die Kassen des sowjetischen Staates plünderte. Von ihnen ist keine progressive Rolle zu erwarten – weder in Russland noch am Kaukasus oder sonst wo.
Es war für den Kreml nicht allzu schwer, die russische Bevölkerung psychologisch auf den Krieg vorzubereiten. Für die meisten Russen ist es klar, dass der Krieg vor allem wegen der expansionistischen Pläne der USA geführt wurde, die schön langsam die Kontrolle über Russlands Nachbarstaaten gewinnen wollten. Und diese Denkweise entspricht auch den Fakten. Innerhalb Russlands wird der Krieg daher vorübergehend zu einer Stärkung der Clique um Putin und Medwedew führen. Die Hoffnungen des Westens auf eine „Liberalisierung“ (was de facto nur eine Schwächung zugunsten des Westens bedeutet hätte) haben sich in Luft aufgelöst. Aber obwohl die Kreml-Clique derzeit gestärkt dasteht, ist das Ganze nur ein Haus, das auf Sand gebaut ist.
Heute sind Putin und Medwedew die strahlenden Sieger. Sie haben an der Demütigung durch die USA im Kosovo Rache genommen. Sie haben gegenüber den Nationen die GUAM (also Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldau) Stärke gezeigt. Aber natürlich wurde kein Problem wirklich gelöst. Die Ambitionen der russischen Herrscher und ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen kann sie sehr schnell in neue Abenteuer und Kriege stürzen. Der Krieg in Georgien war klein und sehr rasch mit wenigen russischen Verlusten zu Ende. Aber Schritt für Schritt könnte Russland in ernsthaftere Konflikte, etwa mit der Ukraine über die Frage der Krim, hineingezogen werden. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass sie in Zukunft einmal die baltischen Staaten annektieren, mit der Begründung, die russische Minderheit schützen zu müssen.
Keines dieser Dinge entspricht dem Interesse der russischen ArbeiterInnenklasse, sondern reflektiert einzig die Wünsche des russischen Kapitals, das gierig nach neuen Märkten, Rohstoffen und Einflusssphären ist. Daher ist es die Pflicht von KommunistInnen in diesem Punkt eine unabhängige Klassenposition einzuhalten – das gilt in Situationen des Krieges noch mehr als im Frieden. Kein Vertrauen in die Kreml-Clique! Keine Zusammenarbeit mit den KapitalistInnen und AusbeuterInnen auf der Grundlage einer nicht existierenden „Nationalen Einheit“! Die ArbeiterInnen dürfen nicht durch demagogische Appelle für den Patriotismus getäuscht werden, sondern die dahinterstehenden Klasseninteressen müssen ohne Rücksicht enthüllt werden. Wir stehen für die Einheit der ArbeiterInnen aller Länder, gegen Kriege und Annexionen.
Lenin betonte immer wieder diese Grundsätze des Kommunismus. Die sogenannte kommunistische Partei der russischen Föderation kapitulierte aber sofort vor der chauvinistischen Politik von Putin und Medwedew. Anstatt die dahinterliegenden Interessen aufzuzeigen, hissten sie die Nationalfahne und stimmten in den patriotischen Chor ein. Lenin würde sich dabei im Grab umdrehen! Auch die Gewerkschaften sprangen auf den chauvinistischen Zug auf. Das war keine große Überraschung, weil die Führer der KP als auch der Gewerkschaften schon vor längerem eine unabhängige Klassenposition aufgegeben haben. Sie kapitulierten bereits in Friedenszeiten gegenüber den KapitalistInnen, da ist es nur zu verständlich, dass sie es auch in Kriegszeiten machten.
Da niemand eine Alternative angeboten hatte, ist es kaum verwunderlich, dass sich viele ArbeiterInnen zwischenzeitlich vom Patriotismus benebeln haben lassen. Es gibt aber dennoch einen Unterschied: Der Patriotismus der OligarchInnen und ihre politischen Repräsentanten im Kreml ist einzig und allein ein Ausdruck ihrer Gier. Auf der anderen Seite trägt der Patriotismus der einfachen russischen ArbeiterInnen einen Keim von Klassenunzufriedenheit. Über Jahre hinweg haben die ArbeiterInnen in Russland den triumphalen Siegeszug der kapitalistischen Restauration mitansehen müssen. Dadurch wurden die Errungenschaften der russischen Revolution Schritt für Schritt zerstört. Das ehemalige Staatseigentum wurde privatisiert und an die unersättlich reichen Geschäftsleute – RussInnen als auch Nicht-RussInnen – verhökert. Ein ehemals stolzes Land wurde gedemütigt und geplündert. Dadurch machte sich viel Bitterkeit breit, allerdings gab es keine Aussicht auf Besserung und schon gar keine Alternative.
Die russischen ArbeiterInnen haben einen Hass auf den Imperialismus und ließen sich daher von den Erfolgen der russischen Armee und die demütigende Niederlage der USA blenden. Für kurze Zeit wird daher die Clique im Kreml gestärkt werden. Aber die Nebelschwaden des Patriotismus werden sich noch schneller als die berauschende Wirkung einer Flasche Wodka verziehen. Und bei ersterem ist der Kopfschmerz am Tag danach noch viel größer.
Die Tatsache, dass Russland nun voll in den kapitalistischen Weltmarkt integriert ist, macht es in diesem Punkt auch verletzlicher. Die Vertiefung der Krise des Kapitalismus, mit der die Stagnation der Produktivkräfte, eine Kürzung des Kredits und das Einbrechen der Nachfrage einhergeht, zeigt dass die Zeit der hohen Rohölpreise bald der Vergangenheit angehören wird. Dies wird sich in nächster Zeit auch auf die russische Wirtschaft auswirken. Die Kombination aus einer wirtschaftlichen Verlangsamung und einer anziehenden Inflation wird Voraussetzungen für mehr Arbeitskämpfe und Streiks schaffen. Die russische ArbeiterInnenklasse wird ihre alte Stärke und Moral durch den ökonomischen Kampf wiedererlangen, was auch einen politischen und revolutionären Ausdruck finden wird.
Die „Vereinten Nationen“
Die ReformistInnen und auch Teile der Linken rufen immer die UNO an, wenn es darum geht kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern. Aber tatsächlich haben die (Nicht-)Vereinten Nationen seit ihrer Gründung 1945 nie auch nur einen Krieg verhindert. Es ist ein zahnloses Werkzeug, eine Schwatzbude das erfolgreich die Illusion Aufrecht erhält, dass die kleinen Staaten Einfluss auf die Weltpolitik haben, während die imperialistischen Staaten (allen voran die USA) sich alles untereinander ausmachen. Immer wenn die UNO eine Resolution verabschiedet, die ihnen nicht in den Kram passt, ignorieren sie diese einfach und handeln nach ihren Interessen. Dies war im Kosovo so, aber noch deutlicher im Irak.
Trotz aller Proteste der UNO musste „The Economist“ zugeben:
„Der Luftkrieg der NATO gegen den Kosovo und Serbien in 1999 war genauso wie der Krieg im Irak 2003 nicht mit einem UNO-Mandat ausgestattet. Beide Kriege wollten einen Regimewechsel herbeiführen. Die Anerkennung des Kosovos durch die westlichen Staaten im letzten Februar fand ebenso keine Unterstützung durch die UNO (dank eines Vetos von Russland). Es war klar dass sowohl der Kosovo als auch der Irak als Entschuldigung für andere Abenteuer herhalten würde. Der Westen wusste, dass vor allem die Unabhängigkeit des Kosovos Gefahr lief, zur Ausrede Russlands zu werden, auch Südossetien und Abchasien anzuerkennen.“
Da haben wir es also! Als es ihren Interessen zuträglich war, bombardierten die USA und ihre Alliierten Jugoslawien ganz ohne Einstimmung der UNO. Auch beim Einmarsch in den Irak brauchte niemand einen Beschluss der UNO. Sie agierten ganz einfach wie Unruhestifter, die auf ihr Eigeninteresse aus waren. Das war okay so. Aber als Russland sich nach denselben Prinzipien verhielt, war alles falsch. Die Vereinten Nationen wurden nicht befragt, heißt es auf einmal! Dadurch wurde doch internationales Recht gebrochen! Der weise Solon im alten Athen sagte einmal: „Das Gesetz ist wie das Netz einer Spinne: Die kleinen Tiere werden davon gefangen, die Großen reißen es einfach ein“. Die USA haben das zwar wiederholt gemacht, fühlen sich aber dennoch verpflichtet Russland jetzt eine Lektion in internationalem Recht zu erteilen. Die (Nicht-)Vereinten Nationen sind ein Forum, wo die großen Nationen hin und wieder über sekundäre Fragen eine Übereinkunft erzielen. Aber wenn es um die vitalen Interessen einer dieser Nationen geht, dann hat die UNO keine Rolle zu spielen. Solche Konflikte werden immer auf die „traditionelle Weise“ gelöst: Durch blanke Gewalt oder Androhung ebendieser. So war es und wird es immer sein, solange die Klassengesellschaft existiert.
Wie zu erwarten war, spielte die UNO im Kaukasus-Konflikt keine Rolle. Sowohl Russland als auch die USA zollten ihr keine Beachtung. Natürlich hatte auch Saakaschwili vor seinem Angriff auf Ossetien nicht die Vereinten Nationen angerufen. Nur nach dem Debakel kam Tiflis plötzlich auf die Idee einen pathetischen Appell an die Völkergemeinschaft zu richten, wenn auch nur indirekt. Sie appellierten nicht an den Sicherheitsrat (wo sowieso nur ein russisches Veto zu erwarten gewesen wäre) sondern nahmen den Hintereingang, indem sie sich auf eine „internationale Konvention zur Rassendiskriminierung“ aus den 1960er-Jahren beriefen, an die sich kein Mensch mehr erinnerte.
Tiflis will Moskau nun vor den internationalen Gerichtshof in Den Hague zitieren, indem es den Russen „ethnische Säuberungen“ in Ossetien vorwirft (natürlich werden die eigenen „Fortschritte“ auf diesem Feld dabei nicht erwähnt). Aber selbst, wenn dies durchgeht, würde es Jahre brauchen, bis eine Entscheidung fällt. Dazu Professor Mark Oriel, Direktor für internationales und humanitäres Gesetz am TMC-Asser-Institut von Den Hague:
„Der Vorwurf müsste innerhalb dieser speziellen Konvention formuliert werden und daher muss das Fehlverhalten gegenüber den GeorgierInnen als Rassendiskriminierung bezeichnet werden und nicht als Verbrechen im Zuge eines Krieges oder als Bruch der Menschenrechte“, und er fährt fort: „Russland kann dem Gerichtshof natürlich die lange Nase zeigen. Daher ist der Grund vor Gericht zu gehen nicht unbedingt der unmittelbare Bedarf nach einer gerichtlichen Klärung der Angelegenheit, sondern ein Urteil zugunsten von Georgien muss als größeres Symbol betrachtet werden.“
Genau das ist es, die Vereinten Nationen sind sehr gut darin symbolische Aktionen zu setzen, am Besten zu zeigen an den zahlreichen Resolutionen in den letzten 50 Jahren, welche Israel dazu aufforderten, die Rechte der Palästinenser zu wahren. Diese Resolutionen waren nicht einmal das Papier wert, auf dem sie geschrieben wurden. Und dies wird auch jeder Resolution zur georgischen Frage blühen, die von Den Hague verabschiedet wird. Die Russen werden sich ihren Besitz nicht nehmen lassen. Doch wer sollte es ihnen auch streitig machen? Die ReformistInnen und PazifistInnen werden traurig ihre Köpfe schütteln und sich über den Zustand der Welt beschweren, in der wir leben. Es ist doch wahrhaft eine schreckliche Welt, in der Moral immer nur den zweiten Platz hinter Eigeninteressen, Gier und blanker Gewalt einnimmt. In Wahrheit allerdings sind keine Appelle an die Moral und sentimentale Deklarationen zum Weltfrieden nötig, sondern ein ernsthafter Kampf, die Welt grundsätzlich zu verändern.
Die Zukunft des Kaukasus
Es ist aussichtslos Frieden für den Kaukasus zu fordern. Pazifismus ist ein Ausdruck der Impotenz und ein Betrug an den Massen. MarxistInnen müssen immer sagen, was Sache ist. Solange die Region von nationalistischen Cliquen und Gangstern beherrscht wird, wird es einen Krieg nach dem anderen geben. Solange noch dazu Russland von einer noch korrupteren und habgierigen bürgerlichen Oligarchie beherrscht wird, wird Moskau aus diesen Konflikten Vorteile ziehen und seinen Griff auf diese Region stärken, während die ImperialistInnen dies zu verhindern suchen und ihre eigenen Interessen auf Kosten von noch mehr Kriegen stärken werden.
Dies alles ist die vergiftete Frucht des Kapitalismus und die Altlast des Stalinismus. Kapitalismus bedeutet Krieg, endlosen und erbarmungslosen Krieg auf globaler Ebene. Es gibt ebenso viele Bruchlinien in der Weltpolitik wie es Nationengrenzen gibt. Der Zerfall der UdSSR brachte alte und ungelöste Bruchlinien noch einmal zum Vorschein – am Balkan, dem Kaukasus und Zentralasien. Der Stalinismus scheiterte daran, diese Probleme zu lösen und machte sie sogar noch explosiver. Dies wurde durch den Zerfall der Sowjetunion offensichtlich. Aber die Rückkehr zum Kapitalismus hat die Situation noch tausendfach verschlimmert. Die Machtergreifung von chauvinistischen Cliquen in den Ex-Sowjetrepubliken hat die Vorbedingungen für Konflikte, Gräueltaten, Terrorismus und ethnischen Säuberungen geschaffen. Militaristische Demagogie und Revanchismus haben Elend, Armut und Bürgerkrieg für die Menschen in der Transkaukasischen Region gebracht.
Nach dem Fall der UdSSR kämpften nordossetische Menschen, die russische Staatsbürger waren, gegen ingusetische Menschen, die ebenso russische Bürger waren. Dies war das tragische Resultat der katastrophalen Politik Stalins in Bezug auf die nationale Frage. Hundert Tausende ingusetische (wie auch tschetschenische) Menschen wurden auf seinen Befehl in den 1940er Jahren deportiert (für nähere Informationen empfehlen wir den englischen Text: Stalin Liquidates Two Republics von Ted Grant).
Ein Großteil des enteigneten Landes von InguschetierInnen wurde bis heute nicht zurückgegeben. Tausende leben noch immer unter primitivsten Umständen in Flüchtlingslagern. Das Gewaltpotential, das jederzeit hochgehen kann, zeigt sich vorallem an dem furchtbaren Anschlag auf eine Schule in Beslan, einer Stadt in Nordossetien, am 1. September 2004. Die TerroristInnen wollten ihren Anschlag den InguschetierInnen in die Schuhe schieben und einen neuen Bürgerkrieg damit auslösen. Dieser hätte 2004 jederzeit passieren können und ist auch jetzt jederzeit möglich. Natürlich haben jene OssetierInnen, die mittlerweile seit zwei oder drei Generationen das ihnen zugewiesene Land bebauen, auch Rechte, vor allem weil sie keine Alternativen haben, wo sie hingehen könnten. Es handelt sich dabei um eine komplizierte und sehr sensible Frage.
Wenn man sich etwa Südossetien ansieht, bemerkt man, dass es sich dabei um keinen homogenen Staat handelt. Vor dem letzten Konflikt bestand das Land aus einer komplexen Mischung aus georgischen und ossetischen Bevölkerungsgruppen. Die Versuche die nationale Frage auf kapitalistischer Grundlage zu lösen wird unausweichlich zu “ethnischen Säuberungen” wie in Ex-Jugoslawien führen. In der Vergangenheit lebten beide Bevölkerungsgruppen friedlich nebeneinander, so wie es SerbInnen und KroatInnen am Balkan taten. Der Aufschwung von aggressivem Nationalismus hat unmittelbar mit der Restauration des Kapitalismus zu tun. Dadurch ist am Kaukasus ein ähnlicher Alptraum zu befürchten wie am Balkan. Die Integration von Ossetien in die russische Föderation wird das Problem absolut nicht lösen, da der Kapitalismus den armen und arbeitslosen Menschen in dieser Region nichts zu bieten hat. Es wird nicht lange brauchen, bis sich Desillusionierung breit macht und die Menschen erkennen, dass sie einen ausbeuterischen Meister gegen einen anderen getauscht haben. Frustration in den Reihen der arbeitslosen Jugend wird dem Terrorismus einen fruchtbaren Boden bieten. Neue Widersprüche werden neuerliche Explosionen vorbereiten.
Russlands Militäraktion in Georgien hat gar nichts gelöst, sondern schuff ein generelles Gefühl von Ungerechtigkeit. Bald wird sich folgende Frage stellen: “Was passiert mit den Tausenden InguschetierInnen die von den OssetierInnen aus ihren Häusern vertrieben wurden?” Während des Krieges sagten viele der InguschetierInnen: “Das ist nicht unser Krieg” Die Saat für die zahlreichen Konflikte am Kaukasus wurden von Stalin gesät. Seine erbarmungslose nationalistische Politik führte zur Ausrottung der tschetschenischen und inguschetischen Nationen in den 1930er und 1940er Jahren. Dadurch wurde die Grundlage für den Krieg in Tschetschenien und die Instabilität in der gesamten Region gelegt. Nach jahrelangen, blutigen Kämpfen ist Tschetschenien zu ausgezehrt, um sich nocheinmal eine Auseinandersetzung mit Russland zu liefern, aber in den nächsten zehn Jahren wird sich die Frage der Unabhängigkeit wohl wieder stellen.
Russland hält am Kaukasus die Stabilität durch militärische Macht und Angst aufrecht. Zur gleichen Zeit als Russland Südossetien „befreite“ schüchterten Moskaus Sicherheitsdienste MenschenrechtsaktivistInnen in Inguschetien und Dagestan ein. Die Methoden unterscheiden sich dabei kaum von jenen SeparatistInnen und TerroristInnen die sie vorgeben zu bekämpfen. Dadurch werden sich die nationalen Konflikte am Kaukasus nur weiter verschärfen. Es gibt keine andere Lösung als jene einer sozialistischen Revolution und der Wiedereinführung einer Transkaukasischen Sowjet-Föderation basierend auf absoluter Gleichheit, brüderlichen Beziehungen und demokratischer Kontrolle durch die ArbeiterInnen und BäuerInnen – die einzigen beiden Bevölkerungsschichten, die kein Interesse haben, das Land anderer Menschen zu okkupieren und andere Nationen auszubeuten.
Die Masse der einfachen ArbeiterInnen und BäuerInnen in Georgien will nicht kämpfen um Südossetien zu kontrollieren. Georgische Reservisten, die zum Kampf eingezogen wurden, desertierten, während andere Soldaten die Invasion bedauerten. Aber die Bombadierung von Städten wie Gori durch die russische Armee wird Hass und Ekel gegenüber Moskau erzeugt haben. Gleichzeitig wird die Vertreibung von georgischen BürgerInnen und die Niederbrennung ihrer Häuser und Dörfer den georgischen Revanchismus angestachelt haben und in die Hände der Chauvinisten gespielt haben. Aus solchen Dingen entwickeln sich zukünftige Kriege.
Was ist die Lösung des Problems?
MarxistInnen anerkennen das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen. Es ist ein demokratisches Recht, und wie jedes andere demokratische Recht muss es von der ArbeiterInnenklasse unterstützt werden. Wie Lenin aber oftmals erklärt hat, ist es kein Recht, das immer und unter allen Umständen unterstützt werden sollte. Marx und Engels unterstützten 1848/49 die nationalen Kämpfe in Polen und Ungarn, aber verweigerten den TschechInneen und den SüdslawInnen ihre Unterstützung. Das hatte mit dem gegebenen historischen Rahmenbedingungen zu tun. Denn der nationale Befreiungskampf in Polen und Ungarn richtete sich gegen den russischen Zarismus und hätte dessen Griff auf Europa (vor allem Deutschland) geschwächt, während die SüdslawInnen und TschechInnen von Österreich und Russland dazu benutzt wurden, die Reaktion zu stärken und gegen Polen und Ungarn vorzugehen. In anderen Worten war ihre Haltung zur nationalen Frage zuallererst von den konkreten Bedingungen des internationalen Klassenkampfs abhängig.
Beim Herangehen an die nationale Frage müssen wir daher dieselbe wissenschaftliche Methode wie Marx, Engels und Lenin verwenden. In jedem einzelnen Fall muss zuerst die Frage gestellt werden: Hilft oder behindert diese Entwicklung die Sache der ArbeiterInnennbewegung und der internationalen sozialistischen Revolution? Dabei müssen wir die sentimentalen und moralischen Nebelschwaden beiseite schieben, wenn von „armen kleinen Nationen“, „Aggressoren und Opfern“, „humanitärer Hilfe“ und „Friedensmissionen“ geredet wird und die Klasseninteressen entdecken, die hinter der Rauchwand der Diplomatie liegen. Wir müssen uns fragen, in wessen Interessen der Krieg geführt wird. Wie die Anwälte sagen: Wem nützt es? (Cui bono?) Dann werden wir Fehler vermeiden.
Im konkreten Fall werden wir das Recht Georgiens auf Selbstbestimmung bejahen. Die GeorgierInnen haben das Recht über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden und friedlich in ihrem eigenen Heimatland zu leben, ohne Angst vor ausländischer Aggression. Wir würden argumentieren, dass es bei weitem besser gewesen wäre, die alte Sowjetunion beizubehalten und für eine wahre Sowjet-Demokratie zu kämpfen, wie sie in den Tagen von Lenin und Trotzki existierte. Außerdem sollte die alte Transkaukasische Sowjet-Föderation, mit vollständiger Autonomie und gleichen Rechten, wiederhergestellt werden. Natürlich sollte diese Föderation auf freiwilliger Basis hergestellt werden, mit jederzeitigem Recht auf Austritt. Allerdings sind wir davon überzeugt, dass die Vorteile derart offensichtlich sind, dass dies nicht passieren würde.
Es gab ganz offensichtlich in der alten Sowjetunion ernsthafte Probleme als sie unter Stalin entlang von bürokratisch-totalitären Linien degenerierte. Aber diese Probleme verblassen schön langsam, wenn man sie mit jenen vergleicht, die seit dem Zerfall der UdSSR aufgetaucht sind. Endlose Kriege, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung: Dies waren die Konsequenzen für die Bewegung in Richtung Kapitalismus am Kaukasus. Anstatt einer freiwilligen und brüderlichen Union herrscht nun Hass und Misstrauen, wodurch Brüder und Schwestern gegeneinander aufgebracht werden. Außerdem regiert blutiger Militarismus, der die Reichtümer vernichtet, die mit dem Schweiß der Massen erbracht worden sind. Und schließlich hetzt der tollwütige Chauvinismus ArbeiterInnen der einen Nation gegen jene einer anderen.
Ja, wir anerkennen das Selbstbestimmungsrecht des georgischen Volkes, aber nicht bedingungslos. Wir verteidigen sicher nicht das Recht auf Unterdrückung anderer kleinerer Nationen, wie etwa jene der OssetierInnen und AbchasierInnen. Verteidigen wir aber das Recht auf Selbstbestimmung Abchasiens und Ossetiens? Ja, auch das unterstützen wir. Aber was für eine Art der „Selbstbestimmung“ ist es denn, wenn man vom Gutdünken Moskaus abhängig ist und daher als Wechselgeld für diplomatische Intrigen und letztendlich für die Unterdrückung Georgiens durch Russland eingesetzt wird? Wie soll dies der Sache der ArbeiterInnenklasse und des Sozialismus nützen? Gar nicht! Diese Art der „Selbstbestimmung“ ist ein Betrug und blanke Lüge. Es ist vielmehr ein Täuschungsmanöver für die Ambitionen und die Gier Russlands, das ihre alten Besitzungen am Kaukasus wiederherstellen will. Die Integration dieser Völker wird ihnen etwa soviel „Selbstbestimmung“ geben, wie es Tschetschenien erfahren hat – nämlich genau gar keine. Genauso wie es keine Selbstbestimmung in Nordossetien, Dagestan und anderen Regionen Russlands gibt.
Auf der Grundlage des Kapitalismus kann es keine langfristige Lösung der nationalen Frage geben, weder im Kaukasus, noch am Balkan oder im Mittleren Osten. Jeder Lösungsversuch wird nur zu weiteren Kriegen, Terrorismus, „ethnischer Säuberung“ und einer neuen Welle von Flüchtlingen führen. Die Frage des Rechtes auf Rückkehr für alle Flüchtlinge kann auf kapitalistische Basis nie beantwortet werden. Es würde automatisch erhöhten Wettbewerb um knappe Ressourcen, medizinischer Versorgung, Arbeit, Häusern, Bildung und anderen Dienstleistungen bedeuten. Wenn es nicht genug Häuser und Jobs für alle gibt, so erhöht das automatisch wieder die nationalen und religiösen Spannungen. Teil-Reformen werden das Problem nicht lösen können. Da man Krebs nicht mit Aspirin lösen kann, muss das Problem an der Wurzel gepackt werden.
Es liegt aber absolut im Bereich des Möglichen, dass die Menschen am Kaukasus in Frieden und Harmonie beisammen leben. Warum sollte es auch nicht funktionieren? Diese Nationen lebten Hunderte Jahre nebeneinander. Es gibt eine lange Tradition der friedlichen Koexistenz und diese kann jederzeit wieder aufgenommen werden. Aber unter kapitalistischen Bedingungen ist dies völlig unmöglich. Es ist nötig zur Politik und zum Programm von Lenin und der Kommunistischen Internationale zurückzukehren, als sie noch eine echte revolutionäre Organisation war. Das zaristische Russland war ein Gefangenenhaus der Nationalitäten. Die Bolschewiki lösten die nationale Frage nach 1917, als die ArbeiterInnen und BäuerInnen das alte Unterdrückerregime über Bord warfen und die Macht selbst in die Hand nahmen.
Vor 1917 gab es furchtbare ethnische Auseinandersetzungen zwischen AserbaidschanerInnen und ArmenierInnen, mit blutigen Pogromen durch ArmenierInnen in Baku, die von den Kapitalisten und den zaristischen Authoritäten dazu aufgestachelt wurden: Viele hielten es für unmöglich, dass beide Völker friedlich nebeneinander leben könnten, aber das erwies sich als falsch. Die Bolschewiki organisierten eine Transkaukasische Föderation mit autonomen Sowjet-Republiken. Auf der Basis von brüderlichen Beziehungen und völliger Gleichheit wurden die alten Hassgefühle sehr bald in den Hintergrund gedrängt.
Betrachten wir ein noch besseres Beispiel: Es gibt eine armenische Enklave in Asebaidschan, genannt Nagorny Karabakh. 1923 bot der Generalsekretär der Kommunistischen Partei von Aserbaidschan an, die Kontrolle über diese Enklave Armenien zu überlassen. Doch dieses Angebot wurde ausgeschlagen. Warum? Weil die nationale Frage als gelöst angesehen wurde und die Frage um Nagorny Karabakh keine Rolle mehr spielte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Frage um die Enklave aber wieder einer der Hauptstreitpunkte zwischen Aserbaidschan und Armenien. Es brach ein Krieg aus, der bis heute, wenn auch auf niedrigerem Niveau, anhält. Viele Menschen wurden getötet und aus ihren Häusern vertreiben. Die nationalen Spannungen zwischen AserbaidschanerInnen und ArmenierInnen wurden dadurch aufgestachelt, die Beziehungen zwischen zwei kleinen Staaten vergiftet.
Ist es das was die Menschen am Kaukasus wirklich wollen? Natürlich nicht! Diese Menschen wollen in Frieden mit ihren NachbarInnen zusammen wohnen. Sie zehren nach der Stabilität und dem relativen Wohlstand, den sie in den Tagen der Sowjetunion erreicht hatten – ungeachtet der Probleme und Entbehrungen. Vor einigen Jahren besuchte ich St. Petersburg und wurde in eine kleine Bar (mit angeschlossenem Geschäft) eingeladen, die einem Georgier gehörte. Das Personal setzte sich aus Menschen vom Kaukasus zusammen: AserbaidschanerInnen, ArmenierInnen etc. Wir saßen am Tisch, aßen und tranken Bier zusammen. Dann wurde ich plötzlich aufgefordert, eine politische Rede zu halten. Ich war völlig unvorbereitet, daher versuchte ich abzulehnen, was aber nicht möglich war. Daher entschloss ich mich dazu ohne jegliche Diplomatie das zu sagen, was mir gerade durch den Kopf schoss. Sinngemäß sagte ich folgendes:
„Wir haben uns hier am Tisch versammelt – Menschen aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan – und aßen, tranken und redeten als wahre FreundInnen miteinander. So sollte es immer sein, aber ich kenne den Kaukasus. Diese Region ist wie ein wunderschöner Garten, der ein Paradies auf Erden sein könnte. Aber es wurde stattdessen in eine Hölle verwandelt. In den ständigen Kriegen schlachten Brüder und Schwestern sich gegeneinander ab. Das hat der Kapitalismus aus dem Kaukasus gemacht! Wir wissen natürlich, dass in der Sowjetunion viele Dinge falsch gelaufen sind. Aber niemand kann verneinen, dass die Planwirtschaft jedem einen Job und ein Dach über dem Kopf gegeben hat. Und es gab Frieden zwischen den Völkern. Daher brauchen wir eine sozialistische Lösung, echten Sozialismus der auf einer Planwirtschaft basiert, aber auch echte Demokratie enthält, und eine sozialistische Föderation die auf völliger Gleichheit und brüderlichen Beziehungen aufbaut.“
Als ich meine Rede beendete, merkte ich, dass die Menschen sichtlich gerührt waren. Einige hatten Tränen in den Augen. Sie erinnerten sich daran, wie die Dinge einmal waren und verglichen es mit der jetzigen Situation, die untragbar geworden war. Ich bin fest davon überzeugt, dass die überwältigende Mehrheit der georgischen ArbeiterInnen auf genau dieselbe Art und Weise reagieren würde. Einzig die revolutionären, internationalistischen Ideen des Marxismus können den Menschen der Region einen Ausweg aus ihrer derzeitigen Situation weisen und ihnen die Hoffnung auf ein friedliches Morgen geben.
London, 11. September 2008