Massenproteste haben eine brutale Diktatur zu Fall gebracht, die vom Westen unterstützt worden war. Welchen Charakter hat diese Bewegung? Wohin geht Tunesien?
Es war ein Aufstand aus den Tiefen der Gesellschaft. Keine oppositionelle Gruppe hat ihn vorhergesehen, geschweige denn vorbereitet. Und die Herrschenden finden keine reformistische Massenorganisation weit und breit, die die Bewegung eindämmen kann. Der Diktator setzt daher alles auf eine Karte: rücksichtslose Gewalt. Doch ab einem gewissen Punkt schlagen die Unterdrückungsmaßnahmen in ihr Gegenteil um: Die Menschen verlieren aus Entrüstung über die Barbarei des Regimes die Angst vor dem Tod. Dann ein letzter Versuch: Diktator Ben Ali bietet demokratische Zugeständnisse an, Neuwahlen 2014. Doch zu spät, die Armeeführung glaubt bereits nicht mehr an die Zukunft der alten Diktatur. Sie stellt sich auf die Seite der Bewegung, jagt die verhasste Polizei auseinander, verhaftet alle Mitglieder des korrupten Clans von Ben Ali, die nicht rechtzeitig nach Frankreich oder Saudi Arabien fliehen konnten. Die Diktatur ist nach 23 Jahren gefallen.
Die ersten Tage nach dem Rücktritt des Diktators: Das Volk ist auf der Straße, die Macht in seinen Händen. „Der Stolz auf das Erreichte, die Freude, der Optimismus der Menschen sind überall spürbar“, berichtet der Aktivist Hichem Choubana dem Funke. Im ganzen Land sind in den Wohnvierteln Barrikaden errichtet worden. Alle Männer im wehrfähigen Alter beteiligen sich an Selbstverteidigungskomitees in Betrieben und Nachbarschaftsvierteln zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – Seite an Seite mit der Armee und den Teilen der Polizei, die auf die Seite der Revolution übergegangen sind.
Nach dem Sturz des Präsidenten diskutiert man in allen Betrieben, Straßen, Familien: Was passiert mit dem verhassten Clan? Was wird die nächste Regierung bringen? Niemand sieht allerdings eine Möglichkeit, auf die weiteren Schritte Einfluss zu nehmen. Die breite Masse wartet notgedrungen ab. Wertvolle Zeit verstreicht. Wie im Falle der iranischen Bewegung aus dem Jahr 2009 bedeutet auch in Tunesien die Stärke der Bewegung gleichzeitig ihre Schwäche: Ohne landesweite Organisationen, in denen sich die Menschen einbringen können, fällt die Initiative in die Hände anderer Kräfte. Der Staub der Revolution hat sich noch nicht gelegt, schon steht die neue Regierung. Die Ex-Kolonialmacht Frankreich und ihre lokalen Mittelsmänner versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Mit der Idee einer “Regierung der Nationalen Einheit” sollen alle respektablen politischen Kräfte einen Teil der Macht erhalten und so das Herrschaftssystem als Ganzes bewahren helfen. Denn welche andere „Einheit“ ist mit den Leuten des alten Regimes vorstellbar? Die verhasstesten Köpfe des alten Regimes müssen gehen, damit die alte Regierungspartei weiter in der Regierung den Ton angeben kann. Die ungefährlichen Oppositionsparteien bekommen Ministerien und dürfen nun innerhalb der Regierung die gleiche Rolle spielen wie vorher als loyale Opposition. Demonstrationen für einen tatsächlichen Wandel gehen weiter, die Massen wittern den Betrug.
Der obere Beamtenapparat, die Armeeführung – alle machen weiter wie bisher. Nur die Köpfe an der Spitze sind weg, die Arbeitslosigkeit – bleibt. Die gesellschaftliche Ungerechtigkeit – bleibt. Die Herrschaft des internationalen Kapitals – bleibt.
Rund um die Frage nach dem Schicksal des weitverzweigten Wirtschaftsimperiums des alten Diktatorenclans wird sich das wahre Gesicht der neuen Regierung zeigen. Die Bevölkerung wird fordern, dass dem Volk zurückgegeben wird, was dem Volk gestohlen wurde. Die Beschäftigten dieser Betriebe werden die ersten sein, die das private Eigentum an ihren Unternehmen in Frage stellen werden. Die Idee eines Generalstreiks zum endgültigen Sturz des Regimes wird bereits in Gewerkschaftskreisen diskutiert. Das ist der einzige Weg vorwärts. Die Selbstverteidigungskomitees könnten der Ausgangspunkt sein. Diese Komitees tragen den Keim einer neuen staatlichen Ordnung in sich, in der die Massen das Sagen haben. In den Betrieben, Stadtvierteln bis ins kleinste Dorf müssen Komitees der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und der armen Bauernschaft gegründet werden, um diese Bewegung zu einem wirklichen Erfolg zu machen. Solche Komitees könnten den Embryo von ArbeiterInnen- und Volksräten darstellen und sollten überregional vernetzt werden bzw. eine landesweite Koordination bilden und jetzt eine Kampagne für eine Revolutionäre Verfassungsgebende Versammlung starten.
Durch den Druck der Ereignisse übernahm der Gewerkschaftsverband UGTT im Laufe der Bewegung die Führung, wie Nizar Amami gegenüber Mediapart beschrieb: „Die UGTT hat die Rolle der Opposition übernommen, denn die legale Oppositionspartei DPP erwies sich als zu schwach. Die UGTT gibt die Slogans aus, organisiert Solidaritätsaktionen usw.“ Aber sie fügt hinzu: „Unser größtes Problem besteht darin, dass wir keine politische Perspektiven besitzen.“
Die Wirtschaftskrise bedeutet in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens für breite Teile der Bevölkerung nicht bloß Verschlechterungen des Lebensstandards, sondern schlicht die Bedrohung der physischen Existenz. Ein Land nach dem anderen wird politische Unruhen erleben, da sind wir uns ausnahmsweise mit den bürgerlichen Medien einig. Der Imperialismus fürchtet den Verlust seines Einflusses in diesen Ländern, allen voran in Ägypten oder Saudi Arabien. Anders als in Tunesien stehen dort aber auch islamistische Organisationen bereit, den Unmut der Bevölkerung auszunutzen.
Wenn es der ArbeiterInnenbewegung nicht gelingt, eine Alternative zum kapitalistischen System zu formulieren, dann könnten in der Tat diese Kräfte an Machtzuwachs gewinnen. Ansätze für eine ArbeiterInnenbewegung gibt es in der Region zur Genüge: Allen voran die kämpferischen TextilarbeiterInnen Ägyptens, die durch radikale Besetzungsstreiks im Jahre 2007 den Eliten das Fürchten lehrten. Die Bewegung braucht eine internationalistische Perspektive. Die internationale ArbeiterInnenbewegung sollte sich aktiv mit der Bewegung in Tunesien solidarisieren. Nur mit einer revolutionären Massenpartei kann die Revolution ihre Ziele erreichen und ein sozialistisches Tunesien als Teil einer sozialistischen Föderation im Maghreb errichten. Die marxistische Bewegung in den arabischen Ländern ist zahlenmäßig schwach, aber es gibt sie. Die IMT verfügt mit der arabisch-sprachigen Website Marxy.com über ein lautes Sprachrohr in die gesamte arabische Welt und hat in Tunesien bereits ein Echo gefunden. Wir rufen unsere LeserInnen auf, durch eine Spende die Arbeit dieser GenossInnen zu unterstützen.
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