Der Friedensnobelpreis soll heuer an die EU gehen. Ein guter Anlass sich die Geschichte der europäischen Integration genauer anzuschauen.
Schon Mitte des 19. Jahrhunderts erklärten die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels, wie der aufstrebende Kapitalismus die Produktivkräfte, Fabriken, Kommunikation, Technik und Wissenschaft in einem Ausmaß entwickelt, das über die engen Schranken des Privateigentums und der Grenzen von Nationalstaaten hinaus wächst. Privateigentum und Nationalstaat werden so zu einer Fessel für die weitere weltweite Entwicklung der Produktivkräfte.
Die beiden Weltkriege im 20 Jahrhundert sind vor allem auch ein Ausdruck für den Versuch, die Produktivkräfte ungehindert von den Schranken der Nationalstaaten zu entwickeln – durch Eroberungs- und Raubfeldzüge. Eine entscheidende Triebfeder hinter der historischen deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ war das Bedürfnis und das Streben, das Eisenerz Lothringens mit der Kohle des Saar- und Ruhrgebiets zu vereinen. Daher drei deutsch-französische Kriege innerhalb von nur 75 Jahren: 1870-71, 1914-18 und 1940-45. Daher auch die französische Ruhrbesetzung 1923 und die Konflikte um Elsass-Lothringen und das Saarland (das sich erst 1957 der Bundesrepublik anschloss).
Während die verheerenden Kriege mit ihren riesigen Opfern eine logische Folge der Entwicklung kapitalistischer Widersprüche auf internationaler Ebene waren, gab es andererseits in Aufschwungszeiten immer wieder Versuche, die durch Zoll- und Staatsgrenzen vorgegebenen Hemmnisse abzubauen und eine wirtschaftliche und politische Einigung herbeizuführen. Die Geschichte kennt mehrere gescheiterte Währungsunionen. Dies besonders in Europa, einem Kontinent, der geradezu nach einer Einigung und Überwindung der Kleinstaaterei schreit.
In den 1920er Jahren, wenige Jahre nach Kriegsende, versuchten der französische und deutsche Imperialismus, aufeinander zuzugehen und ihre gemeinsamen Interessen friedlich und diplomatisch zu koordinieren. 1926 bildeten die Stahlproduzenten aus Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg eine internationale Rohstoffgemeinschaft. Im selben Jahr erhielten der deutsche Reichsaußenminister Gustav Stresemann und sein französischer Kollege Aristide Briand in Oslo gemeinsam den Friedensnobelpreis – als Anerkennung für ihre „Annäherungspolitik“ und ihren „Beitrag zur Sicherung des Friedens in Europa“. 1929 kommentierte Stresemann in einer Rede vor dem Völkerbund (einer Art Vorläufer der UNO) den Vorschlag der französischen Regierung zur weitergehenden wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit in Europa mit deutlichen Worten:
„Durch den Versailler Vertrag ist eine große Anzahl neuer Staaten geschaffen worden. (…) Aber ihre Einbeziehung in das europäische Wirtschaftssystem wurde vollkommen beiseite gelassen. (…) Was ist die Folge dieser Unterlassungssünde gewesen? Sie sehen neue Grenzen, neue Maße, neue Gewichte (…) ein fortwährendes Stocken des Verkehrs. Sind diese aus nationalem Prestige heraus geborenen Einzelheiten nicht sämtlich Dinge, die durch die Entwicklung der Zeit längst überholt wurden und diesem Erdteil einen außerordentlichen Nachteil zufügen?“
Weltwirtschaftskrise ab 1929
Doch wenige Monate später wurden alle Versuche der Kapitalisten zur einvernehmlichen internationalen Zusammenarbeit durch die kapitalistische Weltwirtschaftskrise zunichte gemacht. Der Börsenkrach im Oktober 1929 löste einen katastrophalen internationalen Konjunktur-Einbruch und eine Kettenreaktion von Kapitalabzug, Zollerhöhungen, den Zusammenbruch von Banken und Konzernen aus. Zig Millionen Menschen in aller Welt wurden in die Arbeitslosigkeit und Verarmung getrieben – Arbeiter, Angestellte, Bauern, Mittelschichten. Jede einzelne nationale Kapitalistenklasse zog sich auf ihren eigenen Nationalstaat zurück und versuchte, sich von der Außenwelt abzuschotten. Internationale, friedliche Zusammenarbeit wurde nun zunehmend von einer Aufrüstungspolitik verdrängt.
Mit am stärksten von der Krise betroffen war der deutsche Kapitalismus – der sich auf eine moderne und hoch entwickelte Industrie stützte, aber als Folge des Weltkriegs Territorien, Kolonien und Absatzmärkte verloren hatte – der „fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit“, wie Trotzki 1932 schrieb: Das europäische Staatensystem erdrosselte seine dynamischen Produktivkräfte, deshalb stellte ihn jede Konjunkturschwankung vor die Aufgabe, „Europa zu organisieren“. Die deutsche Kapitalistenklasse setzte nun nicht mehr auf Aussöhnung und Frieden, sondern griff schließlich zu den extremsten Mitteln, um dieses Ziel zu erreichen. Sie verhalf Hitler und seiner faschistischen Nazi-Bewegung zur Macht. Einmal an die Staatsmacht gelangt, zerschlugen die Nazis die Arbeiterbewegung mit höchster Brutalität und führten ab 1939 einen Eroberungskrieg an zwei Fronten. Wichtigen Teilen der französischen Eliten war übrigens die Besatzung durch die Nazi-Truppen ab 1940 höchst willkommen, um die eigene aufmüpfige und aufsässige Arbeiterklasse zu disziplinieren.
Der Versuch, Europa gewaltsam unter dem Diktat des deutschen Kapitals zu vereinen, endete für die deutsche Kapitalistenklasse in einer Katastrophe. Statt die stalinistische Sowjetunion zu zerschlagen und Eurasien, ein Gebiet vom Atlantik zum Pazifik, zu beherrschen, verlor sie Osteuropa und Ostdeutschland an den Einflussbereich der Sowjetunion. Der Kapitalismus war in weiten Teilen der Bevölkerung diskreditiert. Um ihn wenigstens in Westdeutschland und Westeuropa wieder aufzurichten und zu stabilisieren, stellten die USA, die nun endgültig zur Weltmacht geworden waren, Milliardenbeträge als sogenannte „Marshall-Hilfe“ bereit – unter der Bedingung, dass die Westeuropäer wirtschaftlich enger zusammenarbeiten sollten. Den Eliten in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland war nach dem Desaster des 2. Weltkriegs klar, dass sie zur Zusammenarbeit im Frieden verdammt waren, wenn sie auch nur annähernd auf dem Weltmarkt mithalten und ansatzweise ein Gegengewicht zu den USA schaffen wollten.
Aus Kriegstreibern werden „Europäer“
Schon 1950 wurden Schritte zur Erleichterung des gegenseitigen Warenverkehrs und des Zahlungsverkehrs eingeleitet. 1952 wurden im Rahmen der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), auch Montanunion genannt, alle Zölle im Bereich von Kohle und Stahl zwischen der BRD, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern abgeschafft. In der Bundeshauptstadt Bonn erkannten die politischen Vertreter des Kapitals, dass sich der westdeutsche Kapitalismus nur in der Zusammenarbeit mit dem westeuropäischen Kapitalismus und seinen Absatzmärkten entwickeln konnte. So hieß es in einer Denkschrift des Bundeswirtschaftsministeriums von 1953:
„In den gegebenen nationalen Räumen ist bei dem derzeitigen Stand der internationalen Arbeitsteilung eine solche Steigerung zwar auf sehr vielen Gebieten durchaus möglich, aber sie stößt auf wesentlich engere Grenzen, als sie in einem größeren Wirtschaftsgebiet gegeben sind. Die Vorteile eines größeren Wirtschaftsgebiets liegen vor allem in der Chance, eine gesteigerte Arbeitsteilung durchzuführen. Sie gestattet eine bessere Verteilung der Produktionsstandorte. (…) Sie gestattet auch die zusätzliche Ausnutzung brachliegender Produktionsreserven, deren komplementäre Teile auf getrennte Wirtschaftsgebiete verteilt sind. Der Markt eines größeren Wirtschaftsgebietes erhöht die Absatzmöglichkeiten für die einzelne Unternehmung und damit die Chance zur Produktion in größeren Serien mit allen Vorteilen, die sich für die Rationalisierung in Produktion und Handel ergeben.“
Dieselben Kapitalisten und Monopolherren, die zuvor Hitler zur Macht verholfen und vom Krieg profitiert hatten, waren jetzt auf einmal wieder zu „Europäern“ geworden. Gewiss nicht aus Sentimentalität. Auch die legendäre Achse „Bonn-Paris“ und die in den 1960er Jahren begründete „deutsch-französische Freundschaft“ waren vor allem der Einsicht geschuldet, dass sich die „Erzfeinde“ im Kampf um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent zusammen raufen mussten. Für die französischen Eliten war diese Zusammenarbeit stets auch ein Mittel, um den historischen Rivalen östlich des Rheins unter Kontrolle zu halten. Für die bundesdeutschen Kapitalisten bot sich die Möglichkeit der schrittweisen Eroberung einer wirtschaftlichen Vorherrschaft in Europa. Während der preußische Militärhistoriker Carl von Clausewitz einst den Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bezeichnet hatte, bot sich nun vor allem für die deutschen Kapitalisten die Gelegenheit, ihre alten Kriegsziele mit friedlichen wirtschaftlichen und politischen Mitteln zu verfolgen.
EWG
So wurde die Montanunion zum Vorläufer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 1958 traten die Römischen Verträge zur Bildung der EWG in Kraft. Darin vereinbarten die sechs Mitgliedsstaaten u.a. eine Abschaffung der Zölle, gemeinsame Zölle gegenüber Drittländern, freien Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr, eine gemeinsame Agrarpolitik und Koordinierung der Wirtschaftspolitik.
Mit der EWG wollten die in ihr zusammengeschlossenen kapitalistischen Mächte den aufstrebenden Weltmächten – USA, Japan und Sowjetunion – als ebenbürtiger Partner entgegen treten. In den 1950er und 1960er Jahren bot ein starker Wirtschaftsaufschwung hierfür auch günstige Voraussetzungen. Später wurde aus der EWG die europäische Gemeinschaft (EG). In den 1970er und 1980er Jahren wurde die Gemeinschaft um Länder wie Großbritannien, Irland, Dänemark, Finnland, Österreich, Spanien, Portugal und Griechenland erweitert.
Die 1971 entworfene ehrgeizige Zielsetzung, bis 1980 in der EG stufenweise eine Wirtschafts- und Währungsunion einzuführen, musste jedoch bald wieder begraben werden. Denn mit dem dramatischen Kursverfall des US-Dollar geriet das internationale Währungsgefüge total aus den Fugen. Der 1972 gestartete Versuch, in einer „Währungsschlange“ die verschiedenen europäischen Währungen aneinander zu binden, wurde wieder zu den Akten gelegt. Einzelne Länder scherten eigenmächtig aus der „Schlange“ aus. Regierungen werteten ihre Währungen ab, um dadurch die Konkurrenzfähigkeit ihrer eigenen nationalen Produkte zu steigern. So wurden schon damals tendenziell sichtbar, dass der europäische Integrationsprozess in Krisenzeiten auch durchaus zum Stillstand kommen kann. In wirtschaftlichen Aufschwungsjahren jedoch ging der Prozess mit großen Schritten weiter. Als 1990 die DDR und die anderen ehemals stalinistischen Planwirtschaften in Osteuropa implodierten, bot sich dem europäischen, vor allem aber dem bundesdeutschen Kapital die historische Chance, die 1945 verlorenen Märkte und Einflussbereiche „friedlich“ zurück zu erobern. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD wurde der deutsche Kapitalismus endgültig zur vorherrschenden Wirtschaftsmacht in Europa. In der Achse Berlin-Paris gibt mittlerweile eindeutig Berlin den Ton an.
Europäische Union
Anfang der 1990er Jahre war der Weg frei für die Gründung der Europäischen Union. In den Maastrichter Verträgen wurden eine gemeinsame Währung, die Ost-Erweiterung der EU, eine politische Union und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anvisiert. Für den Beitritt in die EU zahlte die Masse der arbeitenden Bevölkerung in Osteuropa allerdings einen hohen Preis. Denn zu den Aufnahmebedingungen gehörte die Zerschlagung und Privatisierung von öffentlichen Betrieben und Einrichtungen und die völlige Vorherrschaft des „freien Marktes“, spricht der internationalen Großkonzerne. Sozialer Niedergang und Rückschläge etwa im Gesundheitswesen waren die Folge. Osteuropa ist aus kapitalistischer Sicht vor allem ein unendliches Reservoir billiger und hochqualifizierter Arbeitskräfte. Dies diente auch dazu, den Druck auf Löhne und Sozialleistungen in Westeuropa zu verstärken. Seit den 1990er Jahren dienen EU-Richtlinien als Vorwand für die Zerschlagung bis dahin gut funktionierender öffentlicher Betriebe uznd Einrichtungen der Daseinsvorsorge – etwa in den Bereichen Eisenbahn, Flughäfen, Post, Telekom, Gesundheitsvorsorge. Während sich die politischen Entscheidungsträger gerne hinter den Richtlinien der EU-Kommission und Eurokraten verstecken, sind deutsche und internationale Großkonzerne die treibende Kraft hinter dieser Politik. Deutschland exportiert seit der Einführung des Euro nicht nur verstärkt Autos, Maschinen und chemische Produkte in die EU-Länder. Zu den deutschen Exportschlagern gehören inzwischen vor allem auch Angriffe auf Lebensstandard und Lebensqualität der Masse der Bevölkerung wie die Rente erst ab 67 oder die „Schuldenbremse“.