Linke Strategien. Reformistische Linke warnen seit jeher vor „revolutionären Abenteuern“ und propagieren den Weg der „vernünftigen, realistischen Politik“. Doch das hat die Reaktion noch nie besänftigen können, erklärt Gernot Trausmuth.
Dies zeigt nicht nur das Scheitern der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit. Der Putsch gegen die linke Volksfrontregierung in Chile im September 1973 ist ein weiteres blutiges Kapitel in der Geschichte des Klassenkampfs. Tsipras und die Führung der SYRIZA zeigen, dass sie daraus nichts gelernt haben, sondern demonstrieren, dass auf sie noch weniger Verlass ist als auf den alten Linksreformismus.
Chile 1973
Die Linke hatte 1970 die Wahlen in Chile gewonnen. Von der ArbeiterInnenklasse wurde dieser Wahlsieg als Auftakt für einen Prozess zur Veränderung der Gesellschaft verstanden. Die Massen pochten auf eine Umsetzung der Reformpläne der linken Regierung unter Präsident Salvador Allende. Da die Linke aber keine absolute Mehrheit hatte, argumentierte die Führung der Volksfront gemäß der stalinistischen Volksfronttheorie, dass man auf die bürgerliche Opposition zugehen müsse und das eigene Programm nicht zu schnell umsetzen dürfe.
Die Volksfront hatte kein Programm, das über den Kapitalismus hinauswies, und lehnte eine offene Konfrontation mit der herrschenden Klasse im eigenen Land sowie mit dem Imperialismus ab. Doch der linke Wahlsieg hatte das Selbstbewusstsein der Massen gestärkt. So forderte eine Schicht nach der anderen Reformen und Veränderungen in ihrem Interesse. Unter diesem Druck von unten ging die Linksregierung dann auch weiter, als sie anfangs beabsichtigt hatte.
Dies galt vor allem für die Verstaatlichungswelle, wo neben den Kupferminen, die von großer strategischer Bedeutung für die chilenische Ökonomie sind, auch die Textilindustrie und weitere Bergbauindustrien in öffentliche Hand überführt wurden. Dazu kamen wichtige Sozialreformen und erste Schritte einer Landreform. Während Allende die Hoffnung hatte, dass die Umwälzung der Gesellschaft auf legalem Weg und in Übereinkunft mit dem bürgerlichen Staatsapparat möglich wäre, sabotierte die herrschende Klasse über die Ministerialbürokratie diese Politik an allen Ecken und Enden. Als die Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse zu einem deutlichen Votum der Zustimmung für die Politik der Linksregierung führte, sah sie den einzigen Ausweg darin, dem Spuk ein Ende zu setzen. Was mit einer brachialen Medienkampagne und Wirtschaftssabotage sowie Erpressung durch den US-Imperialismus über das Kappen jeglicher Finanzhilfen begann, endete schlussendlich mit einem Militärputsch am 11. September 1973.
Zuvor reagierten die ArbeiterInnen mit Streiks und Massenmobilisierungen, dabei forderte vor allem die revolutionäre Jugend die Bewaffnung des Volkes, um die Volksfront gegen Putschpläne verteidigen zu können. So tauchte auf Demonstrationen immer wieder die Parole auf: „Allende gib uns Waffen – wir schützen Dich!“ Doch Allende lehnte dies ab. Er setzte weiter auf einen Ausgleich und auf eine Politik der Zugeständnisse gegenüber der bürgerlichen Opposition sowie der Militärspitze.
Er ging davon aus, die Generäle würden sich loyal zur demokratisch gewählten Regierung verhalten. Für diese Fehleinschätzung musste er teuer bezahlen. Es ist ihm jedoch hoch anzurechnen, dass er in der Stunde der Wahrheit den Massen, die ihn gewählt hatten, treu blieb. Angesichts der anrückenden Militärs, verschanzte er sich mit seinen AnhängerInnen im Präsidentschaftspalast La Moneda und trotzte dem Beschuss durch die Luftwaffe und die heranrückenden Truppen.
In seiner letzten Ansprache sagte Allende: „Mit Sicherheit ist dies die letzte Gelegenheit, mich an Sie zu wenden. (...) Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben! In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. (...) Sie haben die Macht, sie können uns überwältigen, aber sie können die gesellschaftlichen Prozesse nicht durch Verbrechen und nicht durch Gewalt aufhalten.
Die Geschichte gehört uns und sie wird durch die Völker geschrieben. Arbeiter meiner Heimat: Ich möchte Ihnen für Ihre Treue danken. (...) Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird, ich bin sicher, dass es wenigstens ein symbolisches Zeichen ist gegen den Betrug, die Feigheit und den Verrat.“
Erst als die Erstürmung des Palasts nicht mehr zu verhindern war, kam er seinen Schergen zuvor und beging Selbstmord.
Die Kosten der verfehlten Strategie von Allendes Volksfrontregierung waren sehr hoch. Zehntausende Menschen, zum Großteil Mitglieder von Linksparteien und Gewerkschaften, wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. Allein im Fußballstadion von Santiago wurden 40.000 Menschen inhaftiert und teilweise brutal gefoltert. Heute ist gesichert, dass mindestens 3197 Menschen diesem Terrorregime zum Opfer fielen. 20.000 mussten vor der politischen Verfolgung durch die Militärdiktatur ins Ausland flüchten.
Unter General Pinochet wurde Chile zum ersten Testlabor für die Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin mit Privatisierungen, Senkung der Sozialausgaben und einer Liberalisierung der Preise.
Griechenland 2015
Das Vorgehen der Eurogruppe gegenüber der griechischen Linksregierung Anfang Juli ließ nur einen Gedanken zu, der diesen weltweit trendenden Hashtag auslöste: „#ThisIs ACoup!“
Während am Verhandlungstisch jede noch so große Kompromissbereitschaft von Griechenlands Ministerpräsident Tsipras als zu wenig abgetan wurde, wurden im Hintergrund bereits Gespräche mit der Opposition für einen parlamentarischen Coup geführt. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass in Brüssel und Berlin daran gearbeitet wurde, SYRIZA zu stürzen.
Nachdem selbst die größtmögliche Nachgiebigkeit kein Verhandlungsergebnis auf den Weg gebracht hatte, entschied Tsipras, ein Referendum abzuhalten. Dieser Entschluss inspirierte eine ungeahnte Massenmobilisierung. Gegen den geballten Widerstand der EU und ihrer HandlangerInnen in Athen, gegen die Gewerkschaftsführung, gegen die Propaganda der bürgerlichen Medienmaschinerie und trotz offener Erpressung wählten letztlich über 60 Prozent der griechischen Bevölkerung für OXI, also gegen eine Fortsetzung der Austeritätspolitik. Dieses Resultat schickte eine Schockwelle durch ganz Europa und hatte das Potential, das Sparregime, das in der EU vorherrscht, massiv zu erschüttern.
Tsipras ging äußerst gestärkt aus diesem Referendum, obwohl er mit Sicherheit den geringsten Beitrag zu diesem Sieg des OXI geleistet hatte. Denn selbst dann, als klar war, dass er eine Volksabstimmung abhalten würde, lavierte er ständig herum, verunsicherte mit weiteren Kompromissvorschlägen die Menschen und schwächte so die Kampagne für ein OXI.
Doch die Massen, die die Schnauze längst voll haben, führten ihn zum Sieg. In ganz Europa ging die Linke davon aus, dass Tsipras dieses Traumergebnis nutzen würde, um seinerseits in die Offensive zu gehen und einen politischen Kurswechsel zu fordern. Doch anstatt mit diesem Rückenwind die Verhandlungen als Bühne zu nutzen, um vor den Augen der europäischen ArbeiterInnenklasse das notwendige Ende des Spardiktats und eine linke Alternative zu präsentieren, kehrte er an den grünen Tisch zurück und ließ gegenüber Schäuble unaufgefordert die Hosen runter. Das Ergebnis war ein drittes „Hilfsprogramm für Griechenland“, das in Wirklichkeit schlimmere Auflagen beinhaltete, als alles, was die Troika bis dahin gefordert hatte.
Tsipras und seine Anhänger stellten sich nicht hin und sagten wie einst Allende: „Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben!“ Nein, er unterschrieb die Fortsetzung und weitere Verschärfung des Spardiktats. Und er tat das in dem Wissen, dass dies gegen das eigene Parteiprogramm, gegen seinen Wählerauftrag, gegen das demokratische Votum beim Referendum vom 5. Juli sowie gegen die vitalen Interessen der griechischen ArbeiterInnenklasse und Jugend war.
Seither zieht er diesen Kurs ohne Rücksicht auf Verluste durch. Obwohl er in der eigenen Partei nicht mehr die nötige Unterstützung dafür hatte, machte er mit der Troika-hörigen Opposition gemeinsame Sache und boxte so das dritte Memorandum durch das Parlament. Dabei schreckte er auch nicht vor völlig bürokratischen Methoden gegen die parteiinterne Linksopposition zurück.
Es steht außer Frage, dass Tsipras unter enormem Druck stand. Berlin und Brüssel setzten auf eine Taktik der beinharten Erpressung. Es war dies der Moment, als sich all das materialisierte, vor dem die GenossInnen der Kommunistischen Strömung in SYRIZA schon seit Jahren gewarnt hatten.
Neue Qualität der Degeneration
Es war absehbar, dass die Strategie von Tsipras auf falschen Einschätzungen der Kräfteverhältnisse und realen Interessenslagen in diesem Konflikt aufbaute. Wie einst in Chile musste diese Form der reformistischen „Realpolitik“, die dem „revolutionären Abenteurertum“ entgegengestellt wurde, zwangsläufig scheitern. Tsipras & Co. verwarfen aber alle Warnungen, die in den eigenen Parteigremien immer und immer wieder vorgebracht wurden.
Mit dem dritten Memorandum hat sich in Griechenland einmal mehr das Scheitern des Reformismus gezeigt. Doch die Art und Weise, wie Tsipras auf diese Niederlage reagierte, zeugten von einer neuen Qualität der Degeneration des linken Reformismus. Hatten ein Salvador Allende 1973 (oder vor ihm ein Otto Bauer 1934) in der Stunde der Niederlage wenigstens noch Verantwortung übernommen und waren ihrer Bewegung treu geblieben, so machte Tsipras sein Versagen zu einem offenen Verrat, indem er nicht nur kapitulierte, sondern den Kurs des Kapitals aktiv mitumsetzte. Der Dank desselben wird sich in Grenzen halten. Wenn er nicht mehr gebraucht wird, wird er gleich allen anderen linksreformistischen Führern vor ihm wie ein dreckiger Fetzen weggeschmissen werden.
Abseits der Rolle der Persönlichkeit, die in der Geschichte natürlich relevant ist, handelt es sich hier nicht um eine Frage von Individuen, sondern der unvermeidlichen Logik des Reformismus in der Periode der organischen Krise des Kapitalismus, die sich als eine völlig falsche Vernunft erweist. Der Unterschied zwischen rechtem und „linkem“ Reformismus ist dabei mehr ein scheinbarer als ein realer.
Die Sozialdemokratie ist längst offen prokapitalistisch. Doch auch der linke Reformismus, der in immer mehr Ländern in Form von Parteien wie SYRIZA oder Podemos auftritt, sieht keine Alternative zum Kapitalismus und verfolgt im Gegensatz zu seinen Vorgängern aus den 1970er Jahren nicht einmal mehr in Worten die Perspektive einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft. Wo er Regierungsverantwortung übernimmt, ist er daher gezwungen, ebenfalls eine Politik der Konterreformen umzusetzen.
Solange Banken und Konzerne in privaten Händen verbleiben, bleibt jede Regierung ein Spielzeug des Kapitals. Selbst eine moderate Reformpolitik würde sofort mit Sabotage konfrontiert sein.Es ist daher notwendig, den ArbeiterInnen die Wahrheit zu sagen, auch dann, wenn sie unangenehm sein mag. Solange die Macht der KapitalistInnen nicht gebrochen wird, kann es keinen Ausweg aus dieser Krise geben. Dies kann einzig und allein durch eine revolutionäre Bewegung der ArbeiterInnenklasse geschehen. Der Linksreformismus kann diesen Gedanken jedoch nicht akzeptieren, weil er eben einen einfacheren, friedlicheren, ruhigeren Weg gehen will. Würde eine reformistische Regierung ein umfassendes sozialistisches Programm aufstellen, wäre eine friedliche Umwälzung der Gesellschaft absolut möglich. Dazu ist der Linksreformismus aber nicht bereit, was letztlich zu einer Fortsetzung der Diktatur des Kapitals führt und nicht selten auch in offener Reaktion enden kann.
Dieses jüngste Beispiel zeigt einmal mehr, wie notwendig es ist, in der ArbeiterInnenbewegung eine politische und organisatorische Alternative zu den verschiedenen Spielarten des Reformismus aufzubauen.