Die Linke in der Türkei hat eine andere Entwicklung durchgemacht, als die europäische ArbeiterInnenbewegung. Wie die aktuelle revolutionäre Debatte im Lichte der Geschichte der Bewegung in der Türkei zu sehen ist, analysieren Kurt Bührle und Elif Buruk.

Während in Europa die Arbeiterklasse, angespornt durch die Oktoberrevolution, drohte die Macht zu übernehmen, gab es in der Türkei gerade mal einige wenige Fabriken, die ArbeiterInnen hatten noch keine eigenständigen Organisationen. Doch auch in der Türkei haben linke und revolutionäre Ideen eine lange Tradition.

Die Ursprünge der heutigen türkischen Linken gehen trotz aller Brüche des 20. Jahrhunderts letztlich auf die Reformbewegungen innerhalb des Osmanischen Reiches zurück. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es in kleinen Zirkeln osmanischer Intellektueller zur ersten Aneignung liberaler, aber auch marxistischer und anarchistischer Ideen aus Europa. Die Einflüsse der europäischen Linken stießen im Osmanischen Reich auf die Bestrebungen der nationalen bzw. religiösen Minderheiten um Anerkennung und eine Verbesserung ihrer materiellen und politischen Situation. So konnten marxistische Einflüsse insbesondere in der armenischen Bevölkerung Fuß fassen. Die nationale Frage stellte sich damit bereits am Beginn der Linken im Osmanischen Reich.

Kemalismus

Nach dem ersten Weltkrieg, der mit dem Sturz der osmanischen Herrschaft endete, ging eine revolutionäre Welle durch das Land, mit der in der jungen türkischen Republik unter Ministerpräsident Mustafa Kemal eine kapitalistische Modernisierung des rückständigen Landes eingeläutet wurde. Diese Reformen wurden von der Mehrheit der frühen türkischen Linken begrüßt.

Insbesondere die Unterstützung seitens der Sowjetunion für den Befreiungskrieg gegen die imperialistischen Besatzungstruppen wurde von vielen Linken als Unterstützung des Kemalismus interpretiert. Dass jedoch eine unkritische Unterstützung dieser bürgerlichen Modernisierung selbst in dieser frühen Phase der Entwicklung falsch war, zeigte sich nur wenig später.

Bereits 1920 schlossen sich drei linke Gruppen zu einer türkischen Kommunistischen Partei zusammen. 1921 wurde sie als „Kommunistische Volkspartei“ legalisiert, jedoch schon wenige Wochen später wieder verboten, wobei über 200 Parteikader verhaftet und viele getötet wurden.

Trotzdem blieben Teile der entstehenden Arbeiterbewegung und insbesondere auch der feministischen Kräfte der Türkei dem Kemalismus verbunden. Das ist nicht zuletzt auf die von den StalinistInnen in den späten 20er Jahren in der kommunistischen Bewegung durchgesetzte „Etappentheorie“ zurückzuführen: Zuerst müsse ein Land durch eine kapitalistische Entwicklung gehen, erst zu einem viel späteren Zeitpunkt sei dann eine sozialistische Revolution denkbar. In der Praxis führte das zu einer Unterstützung von als „progressiv“ wahrgenommenen bürgerlichen Kräften und daraus resultierenden großen Niederlagen revolutionärer Bewegungen. In China etwa massakrierte der „progressive“ Chiang Kai-shek die KommunistInnen und schlug die Revolution nieder. In der Türkei wurde der Kemalismus nicht zuletzt durch die von Stalin durchgesetzte Unterordnung der Arbeiterklasse unter die „progressive“ Bourgeoisie nach dem Abflauen der revolutionären Welle stabilisiert. Deswegen konnte sich auch, spätestens in den 60er Jahren, innerhalb des Kemalismus ein Flügel der „kemalistischen Linken“ entwickeln, der die Radikalisierung der ArbeiterInnen aufnahm und die CHP – die Partei des Kemalismus – der Funktion nach zu einer sozialdemokratischen Partei mit Massenbasis machte.

Selbständige Arbeiterbewegung

Jenseits des Kemalismus konnte sich erst 1961 mit der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) wieder eine legale linke Partei mit einer gewissen Massenbasis bilden. Auch hier war eine erneute revolutionäre Welle, in der die Arbeiterklasse eine zentrale Rolle spielte, ein treibender Faktor. Die Basis dafür war in den 50ern im Zuge des weltweiten Nachkriegsaufschwungs gelegt, als sich die Industrie wesentlich entwickelte und das Proletariat als bedeutsame soziale Kraft hervorbrachte.

Insgesamt gesehen war die Türkei weiterhin ein rückständiges Land: bis zu 70% der Bevölkerung waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch als es schließlich 1961 zu einem durch breite Schichten bejubelten Militärputsch gegen eine tief verhasste islamisch-konservative Regierung kam, wirkte das als Katalysator für die junge Arbeiterbewegung.

1965 konnte die TIP mit drei Prozent 15 Mandate im türkischen Parlament gewinnen und war eng verknüpft mit der Entwicklung der jungen Gewerkschaftsbewegung, welche schließlich in der Gründung der DISK (Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) 1967 mündete. Vor allem unter den städtischen KurdInnen verfügte die Partei über eine breite Basis, bevor sie im Zuge eines weiteren Militärputsches 1971 verboten wurde.

Die Studentenbewegung

Neben der Arbeiterbewegung entwickelte sich ebenfalls in den 60ern sprunghaft eine radikale universitäre Bewegung. Aus dieser entstand die Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei (Dev-Genç), aus der in den 1970er-Jahren eine ganze Reihe linker und linksradikaler Gruppen hervorgingen.

Während die TIP direkt von einigen Gewerkschaften als ihre Partei gegründet wurde, krankte sie jedoch an einer opportunistischen Führung, die die stalinistische Etappentheorie nachvollzog und somit den Kemalismus stabilisierte. Die linken Studierenden nahmen eine ultralinke Haltung ein und denunzierten sie als „sozialdemokratisch“ und „revisionistisch“, verbunden mit einer sektiererischen Abgrenzung. Richtig wäre es gewesen einen revolutionären Flügel in der noch jungen ArbeiterInnenbewegung zu stärken und aufzubauen. Diese Abkoppelung der revolutionären Jugend und der Intelligenz von der tatsächlichen Bewegung ist bis heute eine der bedeutendsten Schwachstellen der türkisch/kurdischen Linken.

Dieser Prozess verstärkte sich in der Phase der repressiven staatlichen Unterdrückung ab den 1970ern. Der Militärputsch 1980 bedeutete das Ende einer vorrevolutionären Periode, atomisierte die Linke weitgehend und verstärkte die Entwicklung in eine ultralinke Richtung. Offene politische Agitation und damit auch politische Debatten waren in der Illegalität nicht möglich, die erfahrenen FührerInnen der Arbeiterklasse und der Jugendbewegung wurden ab den 70ern ins Exil getrieben, verfolgt, eingekerkert und hingerichtet. Das Putsch-Regime verhaftete 650.000 AktivistInnen, die doppelte Zahl wurde polizeilich registriert, 210.000 sind vor Gericht gestellt worden und 517 Todesurteile gegen KommunistInnen wurden verhängt.

Angesichts der massenhaften Verhaftungen, Hinrichtungen und politischen Morde sowie der völligen Unterdrückung der legalen Arbeiterbewegung zog ein großer Teil der radikalen Linken falsche Schlüsse und wandte sich der Sackgasse „bewaffneter Kampf“ durch isolierte Guerillagruppen und Terroranschlägen zu.

In der Türkei gab und gibt es nicht nur die international gängigen Spaltungen zwischen StalinistInnen, MaoistInnen und der Sozialdemokratie. Auch die Frage des Verhältnisses zum Kemalismus, zur kurdischen Frage bzw. zum türkischen Nationalismus, sowie andererseits die strategische Frage einer Orientierung auf die Arbeiterklasse oder auf die verarmten Bauern spielten eine große Rolle.

Wie in anderen kolonialen und halbkolonialen Ländern konnte sich dabei der Maoismus als Hauptströmung der radikalen Linken durchsetzen. Die Guerilla und ein diffuser Volksbegriff spielen bis heute nicht nur im kurdischen Befreiungskampf eine große Rolle.

Unter der türkischen antikemalistischen Linken bildeten sich die maoistischen Gruppen der Devrimci Yol, Devrimci Sol und der TKP/ML als stärkste Gruppierungen heraus, die jeweils eigene Guerillagruppen unterhielten. All diese Gruppen verfügten und verfügen auch über Organisationsstrukturen in Deutschland und Österreich und wurden nach dem Militärputsch von 1980 massiv verfolgt.

Was ihnen allen jedoch gemein war, ist die völlige Hilflosigkeit in der kurdischen Frage. Als Resultat dessen bildete sich als Gegenstück dazu die kurdische Linke, deren Großteil aus der TIP und der Dev-Genç entstand. Unter einer Reihe verschiedener linksnationalistischer kurdischer Gruppen setzte sich nach dem Militärputsch von 1980 die 1978 gegründete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als dominante politische Kraft durch. Ab 1984 verfügte sie mit den „Befreiungskräften Kurdistans“ über eine eigene Guerilla, die gestützt auf einen Volksaufstand in den kurdisch bewohnten Gebieten in den späten 1980er-Jahren eine Reihe militärischer Erfolge verzeichnen konnte. Gleichzeitig isolierte sie sich jedoch durch ihren Nationalismus und terroristische Taktik von der mehrheitlich türkischen Arbeiterklasse und musste eine Reihe von Niederlagen einstecken. 1999 wurde ihr Parteichef Abdullah Öcalan gefasst und ist seither in Isolationshaft.

Nicht nur Geschichte!

Die Türkei hat sich seit den 1990ern wesentlich verändert. Der Kapitalismus hat sich entwickelt, so dass heute die große Mehrheit der Bevölkerung der Türkei ArbeiterInnen sind.

Auch die KurdInnen leben längst mehrheitlich in den städtischen Zentren nicht nur des Ostens, sondern gerade auch des industrialisierten Westens.

Die revolutionäre Bewegung hat wieder einen Aufschwung genommen. Die Jugend und große Teile der Arbeiterklasse haben die Spaltung anhand von Nation und Religion in der Praxis schon überwunden. Bei den Gezi-Park Protesten 2013, an denen Millionen Menschen teilnahmen, waren türkische wie kurdische Flaggen zu sehen. Anhänger aller linken Gruppierungen haben dort gemeinsam gekämpft. Die Gründung der HDP (Demokratische Partei der Völker) mit dem Ziel der Vereinigung der kurdischen Befreiungsbewegung und der türkischen Linken war in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schritt für alle Unterdrückten der Türkei. Doch auch die HDP krankt an den programmatischen Schwächen der Linken in der Türkei, die schon beschrieben wurden : Einem Fokus auf „demokratische“ Forderungen (sowohl hinsichtlich der Kurdenfrage als auch auf die Gesamttürkei bezogen) und damit einhergehend die Suche nach einer Lösung innerhalb des Kapitalismus.

Doch die widersprüchlichen Interessen der ArbeiterInnen zusammen mit allen Unterdrückten auf der einen Seite und den KapitalistInnen und dem Imperialismus auf der anderen Seite sind gerade in der Krise, in der auch die Türkei steckt, nicht miteinander vereinbar.

Hier ist jedoch eine Lösung in Sicht : Es sind die ArbeiterInnen, die in den Fabriken, im Transport usw. an den Schalthebeln der Macht stehen. Sie können das Land nicht nur lahm legen, sondern auch die Gesellschaft durch eine revolutionäre Umgestaltung nachhaltig verändern. Mit der unterdrückerischen Herrschaft Erdogans inmitten einer tiefen wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus haben sie von diesem System nichts zu erwarten. Dieses Potential muss aufgenommen und mit der stürmischen Jugendbewegung und dem Wunsch nach nationaler Befreiung der Kurdinnen und Kurden verbunden werden. Das ist nur mit einem mit einem wirklich revolutionären, einem internationalistischen und sozialistischen Programm zur Überwindung des Kapitalismus möglich. Dafür stehen wir, die Internationale Marxistische Tendenz (IMT).


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