Wir veröffentlichen hier den Text einer Rede auf dem nationalen konföderierten Komitee (CCN) des französischen Gewerkschaftsdachverbandes, CGT, gehalten am 18./19. März 1935 von Alexis Bardin, einem Delegierten der Gewerkschaften des Departements Isere. In Wirklichkeit wurde die ganze Rede von Leo Trotzki geschrieben, der sich zu dem Zeitpunkt als politisch Asylsuchender in Frankreich aufhielt.
In den 30er Jahren wurde Frankreich von einer tiefgreifenden wirtschaftlichen und politischen Krise erfaßt. Seit dem Sieg im Ersten Weltkrieg war Frankreich mit Hilfe von Reparationszahlungen aus Deutschland und der Beute aus den Kolonien das reichste und deshalb auch das stabilste Land Europas. Dennoch konnte auch Frankreich der Weltwirtschaftskrise ab 1929 nicht entkommen. Die Depression hatte verheerende Folgen: Ganze Branchen wurden stillgelegt; Massenentlassungen führten zu Dauerarbeitslosigkeit; unter dem Druck der Banken und der Monopole wurden kleine Firmen in die Pleite getrieben und Selbständige ihrer Existenz beraubt; unzählige Bauern wurden durch den Preisverfall und Rückforderungen der Banken ruiniert, ihre kleinen Landbesitze bedroht. Finanzskandale um Bankiers, Spekulanten und ihre loyalen Vertreter in der Regierung erschütterten den Staat.
Die politische Krise wirkte sich als Erstes auf die politische Mitte aus. In der Polarisierung der Gesellschaft
schmolz die Basis der sogenannten Radikalen hin. Diese größte bürgerliche Partei stellte sich gern als Vertreter der Kleinbürger und Bauern dar, entpuppte sich jedoch im Amt als korrumpierter Agent des Großkapitals, das den „kleinen Mann“ ruiniert hatte.
Nach dem Beispiel der faschistischen Machteroberung in Deutschland 1933 wurden die demokratischen Rechte der Arbeiter und gar die Existenz der Arbeiterbewegung in ganz Europa bedroht, und im Februar 1934 fühlten sich die französischen Faschisten zum Putsch ermutigt. Dieser war zwar verfrüht, verjagte dennoch die Regierung der Radikalen und ebnete den Weg für eine Reihe reaktionärer Regierungen, die zunehmend ihre Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter durch staatliche Verordnungen durchpeitschten - also wie die borrapartistischen Regimes in Deutschland, die den Weg für Hitler bereiteten.
Ab Juli 1935 gestand sich die Regierung Sondervollmachten zu, um harte Sparmaßnahmen durchzuführen. Gleichzeitig wurde der Wehrdienst von einem auf zwei Jahre verlängert und ein Rüstungsprogramm eingeführt.
Der französische Imperialismus bereitete einen neuen Weltkrieg vor. All das führte zu einer Radikalisierung der Arbeiterklasse, die sich in einem explosiven Wachstum und einer Gärung in den traditionellen Organisationen der Klasse ausdrückte. Zwischen Februar 1934 und Ende 1936 wuchsen die Sozialistische und die Kommunistische Partei von 100.000 bzw. 30.000 auf je 200.000 Mitglieder. Es war eine vorrevolutionäre Situation, die sich später zu einer revolutionären Situation entwickelte. Dies drückte sich u.a. auch in den Wahlen mit dem Sieg der Volksfront sowie in einem Generalstreik und einer Welle von Betriebsbesetzungen aus.
Doch die Krise des Kapitalismus wurde zur Krise der reformistischen Führungen der Gewerkschaften, der SP und der KP, denn auf der einen Seite müßten sie eigentlich die Interessen der Arbeiter vertreten und eine Lösung ihrer Probleme finden, doch auf der anderen Seite waren sie nicht bereit, mit dem Kapitalismus zu brechen, der diese Probleme verursachte. Die Arbeiter verlangten klare Antworten, eine Alternative, einen Ausweg aus der Misere. Unter dem wachsenden Druck der Arbeiter und Arbeitslosen wurde es für die Führungen zunehmend schwieriger, den Interessensgegensatz zwischen ihren Mitgliedern und dem Kapital zu verdecken.
Die Antwort von Jouhaux, dem Generalsekretär des linken Gewerkschaftsdachverbandes CGT, war ein „Plan“ für die französische Wirtschaft, nach dem Muster des Plans der belgischen Arbeiterpartei von Hendrick de Man. Was Trotzki davon hielt, schrieb er unverblümt in sein Tagebuch am 10. März 1935: "Habe die Unterlagen des ‚Wirtschaftsplans’ der CGT genau geprüft. Welche Gedankenarmut unter dem Deckmantel bürokratischer Phrasendrescherei! Und was für eine erniedrigende Feigheit dabei gegenüber den Arbeitgebern! Nicht an die Arbeiter wenden sich diese Reformatoren, um den Plan zu verwirklichen, sondern an die Arbeitgeber, um sie zu überzeugen, daß der Plan in seinem Wesen konservativ sei." Am 28. März (aus: "Nochmal, wohin geht Frankreich?") erklärte er weiter: "Jouhaux hat die Idee des Plans von de Man übernommen. Beide haben genau das gleiche Ziel: Den endgültigen Zusammenbruch des Reformismus zu verhüllen und dem Proletariat neue Hoffnung zu machen, in der Absicht, es von der Revolution abzuhalten. Weder de Man noch Jouhaux sind Erfinder ihrer ‚Pläne’. Sie nahmen nur Grundforderungen aus dem marxistischen Programm für die Übergangsperiode - die Nationalisierung der Banken und Schlüsselindustrien – warfen den Klassenkampf über Bord, und ersetzten die revolutionäre Enteignung der Enteigner durch die Finanztransaktion des Aufkaufens."
Es reichte aber nicht, den fehlerhaften Plan einfach abzulehnen und die Führung zu denunzieren, wie manche Mitarbeiter Trotzkis meinten. Man muss an dem Kampf der Partei oder der Gewerkschaft aktiv teilnehmen, das Positive aufgreifen, die Lücken aufzeigen und das Programm ergänzen. Am 2. März schrieb Trotzki an seine Mitarbeiter: "Worin besteht der Betrug des Plans? In der Tatsache, daß die Führung der belgischen Arbeiterpartei, einschließlich de Man, die Massen nicht in den Kampf führen will, und ohne einen Kampf ist selbst dieser unzureichende Plan überhaupt nicht zu verwirklichen. Wenn wir den Massen erklären, daß ein Kampf bis zum Ende nötig ist, um diesen unvollkommenen Plan durchzuführen, dann decken wir den Betrug nicht; im Gegenteil, helfen wir den Massen, durch ihre eigene Erfahrung ihn aufzuzeigen." ... "Die Forderung nach der Machtübernahme der Arbeiterpartei, um ihren eigenen Plan zu verwirklichen, ist die revolutionäre Aufgabe."
Wegen der kapitalistischim Krise war der "praktische" Plan dieser "Realpolitiker" eine Utopie. Deshalb mußte man den zugespitzten Widerspruch. zwischen den Ansprüchen der Arbeiter und den begrenzten Möglichkeiten des Systems aufzeigen und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen: "Aber falls der kapitalistische Niedergang sich fortsetzt? Dann kann der Plan - der das Ziel hat, die Arbeiter von ,üblen Gedanken’ abzuhalten - ein Banner der revolutionären Bewegung werden." (aus: "Nochmal, wohin geht Frankreich?'')
Jouhaux selbst zog eine ganz andere Schlußfolgerung aus dem Widerspruch: Wenn die Durchführung des Plans innerhalb des kapitalistischen Systems nicht möglich ist, dann vergesst halt den Plan! Und so wurde der Plan, den die CGT im Oktober 1934 als große Hoffnung den Arbeitern, Arbeitslosen und Bauern präsentierte, im März 1935 einfach fallen gelassen. Solch eine zynische Vorgangsweise wäre ohne Rückendeckung von den Führungen der SP und KP unmöglich gewesen. Im Januar 1935 hatte die SP der KP einen gemeinsamen Kampf angeboten, dessen Programm die Verstaatlichung der Banken und Schwerindustrie forderte. Der Druck der Basis war so groß, daß die sozialistische Führung "die Notwendigkeit der Zerschlagung der Machtapparate der Bourgeoisie und der Errichtung eines Bauern- und Arbeiterstaates an ihrer Stelle" anerkannte. Doch Stalin war nicht an Sozialismus im Westen interessiert, sondern an einem Militärbündnis mit dem französischen, gegen den deutschen Imperialismus. Der KP wurde befohlen, alle Vorschläge der SP über Verstaatlichung abzulehnen. "Die Reformisten der SP konnten aufatmen - die Gefahr war vorüber. Jouhaux eilte, um die Frage der Propaganda für den Plan von der Tagesordnung zu streichen. Das Proletariat bleibt mitten in einer großen sozialen Krise ohne jegliches Programm." (Trotzki, ibid.) Noch schlimmer: Als die SP und die KP die Volksfront mit der bürgerlichen Mitte bildeten, übernahmen sie im Effekt das Programm der ... Radikalen!
Der folgende Wortbeitrag ist ein Vorbild, wie ein Sozialist in einer Debatte in der Arbeiterbewegung auftreten sollte. Gegen die absichtlich schwammigen Formulierungen und das Ausweichen der CGT-Führung wird eine klare Alternative zur Wirtschaftskrise durch Arbeiterkontrolle, demokratische Planung und Sozialismus angeboten. Aber dabei gibt es keine Spur sektiererischen Verhaltens. Der Beitrag versucht gar nicht besserwisserisch zu "entlarven", so wie viele Sektierer arrogant auftreten, sondern erreicht Klarheit viel effektiver durch nüchterne Fakten, Daten, konkrete Beispiele und überzeugende Argumente. Aus der Logik der Argumentation folgen natürlich die Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge. Trotz des Ausmaßes der politischen Krise und der Dringlichkeit der Mobilisierung der Arbeiterklasse sind die revolutionären Ideen hier nüchtern und mit Bescheidenheit ausgedrückt. Oder vielleicht gerade wegen dem Ernst der Lage, denn Sozialisten, die Vertrauen in ihre Ideen haben, haben Demagogie und Geschrei nicht nötig. Also: Hart in der Sache, verbindlich im Ton.
(Rede gehalten am 18./19. März 1935)
Genossen,
die CGT hat sich die "Intensivierung der Propaganda" zur Unterstützung des Plans zum Ziel gesetzt. Dazu können wir uns selbst nur gratulieren. Der beste Plan ist nur ein Haufen Papier, wenn er nicht die kampfbereiten Massen hinter sich hat. Es ist schade, daß in dem Jahr seit der Annahme des Plans so wenig geschehen ist, um ihn den Massen vorzustellen und ihre Unterstützung zu gewinnen.
Die Kommentare "für die Propagandisten", die wir vor einigen Monaten von der CGT erhielten, betonen die Notwendigkeit einer "lebhaften mündlichen Propaganda, die auch bis in die kleinen, ländlichen Zentren getragen werden muß". Ich bin sicher, daß die regionalen Gewerkschaften genug Kader als loyale Propagandisten mobilisieren könnten. Aber um ihren Einsatz wirklich lebhaft und vor allem effektiv zu gestalten, müssen die Gewerkschaften selbst eine klare Position in dieser Frage beziehen.
Allerdings muß ich einräumen, daß die Diskussionen über den Plan, selbst in ziemlich kleinen Kreisen, eine gewisse Verwirrung offenbaren. Vielleicht sind wir, die wir aus den Provinzen kommen, nicht ausreichend informiert. In diesem Fall muß die Zentrale uns helfen. Ich selbst möchte diese Sitzung der CCN benutzen, um einige Fragen zu stellen, einige Zweifel auszudrücken, auf einige Schwächen hinzuweisen und einige ergänzende Klarstellungen zu fordern.
In den verschiedenen Texten der CGT lesen wir oft, daß der Punkt, um den es geht, eine Erneuerung der Volkswirtschaft ist; manchmal wird dem die "wirtschaftliche und soziale Reorganisation" entgegengestellt, manchmal wird sie aber auch damit gleichgestellt.
Genossen, es ist sehr schwer, den Arbeitern oder Bauern zu sagen, "wir wollen die Volkswirtschaft erneuern", wo zur Zeit jeder diese Redewendung benutzt: die Patriotische Jugend, die Volksdemokraten, die Bauernfront, manchmal sogar die Radikalen, aber vor allem Herr Flandin - sie alle erklären und versprechen die Erneuerung und sogar die Reorganisation der Volkswirtschaft.
Unser Plan muß sich von denen des Klassenfeindes durch eine genaue Definition seines Zieles unterscheiden. All die Erneuerungen und Reorganisationen, die ich gerade angesprochen habe, versuchen auf der Grundlage des Kapitalismus zu bleiben, d.h., sie versuchen das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu sichern. Und der Plan der CGT? Versucht er, die kapitalistische Wirtschaft zu erneuern oder diese Wirtschaftsform durch eine andere zu ersetzen? Ich gebe zu, daß ich auf diese Frage keine genaue Antwort gefunden habe. Manchmal lesen wir, im gleichen Text, daß es nicht um eine Umwandlung des bestehenden Systems geht, sondern nur um Notmaßnahmen zur Abmilderung der Krise. Dann finden wir aber auch die Aussage, daß die Notmaßnahmen den Weg für grundlegendere Veränderungen freimachen müssen.
Vielleicht ist das alles richtig so, aber wir finden nirgendwo die exakte Definition des Systems, das wir erreichen wollen. Von welcher Art sollten die sogenannten grundlegenden Veränderungen sein? Geht es nur - ich rede mal hypothetisch - darum, einen Teil des Privat-Kapitalismus in staatlichen Kapitalismus zu verwandeln? Oder wollen wir das ganze kapitalistische System durch ein anderes soziales Regime ersetzen? Was also? Was ist unser Endziel? Es ist erstaunlich, Genossen, aber all die Thesen und sogar die "Kommentare für die Propagandisten" sagen absolut nichts darüber aus. Wollen wir den Kapitalismus durch den Sozialismus ablösen, durch den Kommunismus oder durch die Anarchie à la Proudhon? Oder wollen wir einfach nur den Kapitalismus durch Reformen und Modernisierung verjüngen? Selbst wenn ich nur ein oder zwei Stationen weit fahren will, muß ich wissen, wohin der Zug geht. Auch für Notmaßnahmen brauchen wir eine allgemeine Richtung. Was ist das soziale Ideal der CGT? Ist es der Sozialismus? Ja oder nein? Das müssen wir schon wissen - andernfalls bleiben wir als Propagandisten den Massen gegenüber völlig unbewaffnet.
Die Schwierigkeiten werden noch dadurch verstärkt, daß wir die Doktrin der CGT und ihr Programm nur teilweise kennen, und die „Kommentare für die Propagandisten“ uns auch keine Literatur nennen, die uns klüger machen könnte. Die einzige theoretische Autorität, die in den Thesen der CGT erwähnt wird, ist Proudhon, der Theoretiker des Anarchismus. Er ist es, der gesagt hat, daß die Arbeitsstätte die Regierung ersetzen muß. Streben wir die Anarchie an? Wollen wir die kapitalistische Anarchie durch reine Anarchie ersetzen? Anscheinend nicht, denn der Plan enthält die Nationalisierung der Schlüsselindustrien. Nationalisierung heißt praktisch Verstaatlichung. Wenn wir also den Staat bei der Zentralisierung und Lenkung der Wirtschaft wollen, wie können wir dann mit Proudhon kommen, der vom Staat nur eines wollte: daß er ihn in Ruhe läßt! Und wirklich, die moderne Industrie, die Trusts, Kartelle, Konsortien, Banken, all das überschreitet völlig die proudhonistische Vision vom gerechten Austausch zwischen unabhängigen Produzenten. Warum also auf Proudhon zurückkommen? Das kann die Verwirrung nur vergrößern.
Dem heutigen kapitalistischen System, das lange Zeit überdauert hat, können wir nur den Sozialismus entgegenstellen. Ich denke, daß ich den Wunsch vieler Kämpfer ausspreche, wenn ich fordere, daß der Plan zur wirtschaftlichen Erneuerung umbenannt wird in Aktionsplan für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus.
Dann wird jeder Arbeiter und Bauer, der in den CGT-Zug einsteigt, wissen wohin die Reise geht. Genossen, um effektive Propaganda machen zu können, ist diese Klarstellung absolut unerläßlich.
Der CGT-Plan betont vor allem, daß der Kredit der Steuerhebel der Wirtschaft ist. Genossen, ich bin wirklich kein Spezialist in Fragen des Bankwesens und des Kredits. Ich möchte mich nur selbst ausbilden, um dieses Thema den Arbeitern erklären zu können. Wiederum habe ich die notwendigen Erläuterungen nicht in den Dokumenten der CGT gefunden. Dort ist die Rede von "Nationalisierung des Kredits'', und "Kontrolle der Banken". Nur ausnahmsweise spricht das Dokument auch von "Nationalisierung der Banken". Kann man den Kredit kontrollieren ohne vorher die Banken zu nationalisieren? Man kann nur das kontrollieren, was man fest in seinen Händen hält. Wollen wir die Banken nationalisieren oder nicht? Ich denke ja. Dann muß das offen und klar gesagt werden. Unglücklicherweise finden wir stattdessen vage Formulierungen wie "Die Bank muß der Wirtschaft dienen, und nicht die Wirtschaft der Bank" (S. 6 des Dokuments). Ein Arbeiter hat mich gebeten, ihm diese nebulöse Phrase zu erklären. Er sah meine Hilflosigkeit und bemerkte: "Die Bank dient doch immer der Wirtschaft, wie die Trusts, die Eisenbahnen und alles ... Sie alle dienen der kapitalistischen Wirtschaft beim Ausrauben der Bevölkerung." Diese schroffe Bemerkung schien mir richtiger zu sein als die Formulierung, die ich vorher zitiert habe. Die kapitalistische Bank dient der kapitalistischen Wirtschaft. Wir sollten daher sagen: Wir wollen jetzt die Bank den Händen der kapitalistischen Ausbeuter entreißen, um sie zu einem Hebel der sozialen Umwandlung zu machen, also zu einem Hebel des sozialistischen Aufbaus. Diese klare Formulierung würde ich sehr gern im Text des Plans sehen. Die Nationalisierung der Banken könnte natürlich nur zu Lasten der Hochfinanz durchgeführt werden. Die kleinen Sparer müssen nicht nur geschont, sondern sogar geschützt werden. Wir müssen wählen zwischen den Interessen der Finanzhaie und den Interessen der Mittelklassen. Unsere Wahl fällt auf die Enteignung der ersteren. Für die letzteren werden wir viel bessere Bedingungen als heute schaffen.
Aber die Nationalisierung der Banken ist nicht genug. Nach der Nationalisierung der Banken müssen wir zu ihrer völligen Vereinigung fortschreiten. Alle einzelnen Banken müssen in Zweigstellen der Nationalbank umgewandelt werden. Nur durch diese Vereinheitlichung kann das nationale Bankensystem in ein System zur Buchhaltung und Steuerung der Volkswirtschaft umgewandelt werden.
In den "Kommentaren für die Propagandisten" finde ich einige sehr wertvolle Statistiken über die Organisation der Diktatur des Finanzkapitals in unserem Land. Gestützt auf eine Untersuchung von 1932, stellen die Kommentare fest: "Praktisch gesehen können wir sagen, daß 90 Personen die Wirtschaft unseres Landes besitzen und kontrollieren." Das ist einmal eine genaue, ja überwältigend genaue Aussage. Das Wohl und Wehe von hundert Millionen Menschen - schließlich können wir nicht unsere unglücklichen Kolonien vergessen, die von den Haien noch mehr ausgeblutet werden als das Kernland - das Schicksal von hundert Millionen Menschen hängt von einem Wink der Hand von 90 allmächtigen Magnaten ab. Sie sind es, die die Volkswirtschaft in den Dreck gezogen haben, um ihre miesen Privilegien und ihre Macht zu erhalten. Leider deutet weder der Text des Plans noch der Kommentar an, was mit diesen 90 Monarchen, die uns beherrschen, geschehen muß. Die Antwort sollte klar sein: wir müssen sie enteignen und hinauswerfen, um den geplünderten Leuten zurückzugeben, was ihnen gehört.
Das wäre ein guter Anfang, um das Planziel zu erreichen. Im Namen der Gewerkschaft des Dept. Isere beantrage ich, diese Maßnahme in den Text des Plans zu schreiben. Unsere Propaganda wird dadurch lebhafter und effektiver werden.
Im Text des Plans finden wir einen wichtigen Abschnitt unter der Überschrift "Industrialisierte Nationalisierungen". Eine sehr merkwürdige Überschrift. Wir wissen, was nationalisierte Industrie bedeutet, aber industrialisierte Nationalisierung ist uns ein Rätsel. Gestattet mir zu sagen, daß solch eine verquere Ausdrucksweise die Arbeit des Propagandisten dadurch erschwert, daß sie die einfachsten Dinge vernebelt. Die "Kommentare für die Propagandisten" erwähnen nicht einmal die Nationalisierung der Industrie. Vielleicht wurden diese Kommentare vor der letzten Überarbeitung der Thesen herausgegeben. Leider finden wir selten eine Datumsangabe auf CGT-Dokumenten; diese entscheidende Schwäche muß überwunden werden, wenn unsere Arbeit erleichtert werden soll.
Wir können uns jedenfalls glücklich schätzen angesichts der Tatsache, daß die neueste Ausgabe des Plans die folgende These aufstellt: die Nationalisierung von bestimmten Schlüsselindustrien. Allerdings scheint hier das Wort "bestimmte" überflüssig zu sein. Natürlich können wir nicht erwarten, daß wir mit einem Streich alle kleinen, mittleren und großen Industrien nationalisieren werden. Im Gegenteil, das Regime, das wir errichten wollen, muß den kleinen Produzenten und Handwerkern sowie den kleinen Händlern und Kleinbauern die größte Nachgiebigkeit entgegenbringen. Aber der Text spricht ausdrücklich von den Schlüsselindustrien, das heißt, von den mächtigen Trusts und Kartellen, den Kombinaten wie dem Comite des Forges (Vereinigte Schwerindustrie), dem Comite des Hotrilleres (Vereinigte Bergbauindustrie), den Compagnies de Chemin de Fer (Eisenbahngesellschaften) usw. usw. Als Schlüsselindustrien müssen sie alle nationalisiert werden, und nicht nur "bestimmte“ davon. Wir in Isere denken sogar, daß wir dem Plan eine Liste dieser Schlüsselindustrien anfügen sollten mit genauen Statistiken über ihre Kapitalausstattung, ihre Dividenden, die Zahl der Arbeiter, die sie ausbeuten und die Zahl der Arbeitslosen, die sie auf den Müllhaufen werfen.
Wenn man mit den Leuten spricht, ist es notwendig, konkret zu sein, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen und exakte Zahlen zu benutzen. Sonst wird der Arbeiter und noch mehr der Bauer sagen, "Das ist kein Plan, sondern der platonische Traum irgendeines Bürokraten".
Unter der Überschrift "Bedingungen der Übernahme" beschreibt der Text des Plans die Bedingungen der Nationalisierung der Schlüsselindustrien und offensichtlich auch der Banken. Wir denken für gewöhnlich, daß die Nationalisierung durch Enteignung der Ausbeuter erfolgen soll. Der Plan spricht aber nicht von Enteignung, sondern von Übernahme. Heißt das, daß der Staat die von Arbeiterhand geschaffenen Firmen einfach von den Kapitalisten kaufen muß? So ist es gemeint. Zu welchem Preis? Der Text antwortet: "Der Preis richtet sich nach dem wahren Wert zum Zeitpunkt der Übernahme." Später lernen wir, daß "die Abschreibung auf einen Zeitraum von 40 oder 50 Jahren berechnet werden wird". Das, Genossen, ist ein finanzieller Schacher, der wohl kaum die Arbeiter und Bauern begeistern wird. Was bedeutet das? Wir wollen die Gesellschaft verändern, und beginnen dann mit dem vollständigen Eingeständnis, daß das kapitalistische Eigentum unantastbar ist!
Der Vorsitzende des Rates, Herr Flandin, hatte recht, als er kürzlich im Parlamemt sagte, "Kapital ist angehäufte Arbeit". Und all die Kapitalisten im Parlament applaudierten dieser Formulierung. Leider ist sie nicht vollständig. Um die Wahrheit zu sagen, wäre es notwendig zu ergänzen: "Kapital ist die Leistung der Arbeiter, die von ihren Ausbeutern angehäuft wird." An dieser Stelle sollte man Proudhon zur Frage des Privateigentums zitieren. Ihr kennt ja den Satz: "Eigentum ist Diebstahl." In diesem Sinne könnte man sagen: "Das Eigentum von 90 Magnaten, die Frankreich beherrschen, ist angehäuftes Diebesgut." Nein, wir wollen nicht zurückkaufen, was den Arbeitern gestohlen wurde, wir wollen nicht, daß das neue Regime vom ersten Tag an mit Schulden belastet ist, während es viele Aufgaben lösen und viele Schwierigkeiten überwinden muß. Der Kapitalismus ist bankrott. Er hat die Nation ruiniert. Die Schulden der Kapitalisten beim Volk übertreffen bei weitem den Zeitwert ihrer Unternehmen. Nein! Kein Rückkauf! Keine neue Sklaverei! Einfache und direkte Enteignung, oder wenn ihr wollt, Konfiszierung.
Ich hoffe wirklich, daß in dieser Versammlung, die die Unterdrückten und die Ausgebeuteten vertritt, niemand eine Sympathieregung für die Industriemagnate empfindet, die von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht wären. Die sind schon weitsichtig genug, sich nach allen Seiten abzusichern. Und wenn wirklich jemand von ihnen mittellos dastände, würde der Staat ihm dieselbe Rente zahlen wie jedem Arbeiter. Es gibt genug kranke und verarmte alte Leute und Jugendliche, Dauerarbeitslose und Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Um all diesem menschlichen Leid ein Ende zu machen, werden wir die Beträge dringend brauchen, die der Plan viel zu großzügig den Ausbeutern und ihren Nachkommen noch für ein halbes Jahrhundert gewähren will. Durch diese Regelung im Plan, Genossen, würden wir dazu kommen, zwei neue Generationen von Faulenzern zu züchten! Nein, allein dieser Absatz reicht schon aus, den ganzen Plan in den Augen der verhungernden Massen unwiederbringlich zu diskreditieren. Genossen, streicht diesen Absatz so schnell wie möglich. Das ist ein weiterer Vorschlag der Gewerkschaft unseres Departements.
Die "Kommentare für die Propagandisten'' erklären uns, daß "Steuerhinterziehung zu einer Dauereinrichtung geworden ist". Sehr schön gesagt. Das ist richtig und klar. Aber es ist nicht nur die Steuerhinterziehung. Die Oustric- und die Stavisky-Affären haben uns erneut gezeigt, daß die ganze kapitalistische Wirtschaft nicht nur auf legalisierter Ausbeutung, sondern auf allgemeiner Täuschung beruht. Um die Täuschungsmanöver vor den Augen der Bevölkerung zu verstecken, gibt es eine wunderbare Methode mit dem Namen Geschäftsgeheimis - notwendig, behaupten sie, im Wettbewerb. Das ist eine gewaltige Lüge. Flandins Gesetz über Absprachen in der Industrie zeigt, daß die Kapitalisten unter sich keine Geheimnisse mehr haben. Sogenannte Geschäftsgeheimnisse sind nichts anderes als eine Verschwörung der Großkapitalisten gegen die Produzenten und Verbraucher. Die Abschaffung der Geschäftsgeheimnisse muß die erste Forderung des Proletariats sein, das sich auf die Leitung der Volkswirtschaft vorbereitet.
Genau genommen ist der Plan der CGT noch kein wirklicher Plan; er enthält nur allgemeine Richtlinien, die nicht mal besonders genau sind. Ein wirklicher Wirtschaftsplan braucht konkrete Statistiken, Zahlen, Diagramme. Natürlich sind wir davon noch weit entfernt. Die erste Vorbedingung für einen ersten Planentwurf besteht aus einer Bestandsaufnahme von allem, was die Nation an materiellen und menschlichen Produktivkräften, Rohstoffen usw. aufbieten kann. Wir müssen uns mit den wirklichen Kosten der Produktion vertraut machen sowie mit den "gelegentlichen Ausgaben" des kapitalistischen Betrugs und dazu müssen wir ein für alle Mal die betrügerischen Machenschaften unter dem Namen Geschäftsgeheimnis abschaffen.
Der Plan spricht, wenn auch ziemlich kurz, von Arbeiterkontrolle (siehe "Administrative Kontrolle"). Wir in Isere sind überzeugte Anhänger der Arbeiterkontrolle. Oft wird uns entgegengehalten: "Kontrolle ist nicht genug. Wir wollen die Nationalisierung und Arbeiterverwaltung." Wir stellen diese beiden Forderungen jedoch keinesfalls gegeneinander. Damit die Arbeiter die Verwaltung der Industrie übernehmen können - was zum Wohle der Zivilisation absolut nötig ist, so schnell wie möglich - müssen wir sofort die Arbeiterkontrolle fordern, sowie die Kontrolle der Bauern über bestimmte Banken, die Düngemittelkonzerne, die Mühlen usw.
Damit die Nationalisierung auf revolutionäre Weise geschieht und nicht bürokratisch, müssen die Arbeiter bei jedem Schritt beteiligt sein. Sie müssen sich darauf vorbereiten, und das ab sofort. Sie müssen ab sofort eingreifen, in die Leitung der Industrie und der ganzen Wirtschaft, in der Form der Arbeiterkontrolle, beginnend mit ihrer eigenen Fabrik. Der Plan sieht diese Kontrolle in der Form von Klassenzusammenarbeit vor, bei der sich die Arbeitervertreter der Mehrheit der Bourgeoisie beugen müssen (siehe Industrie-Räte). Außerdem schlägt er vor, daß die Delegierten aus jeder Schicht von Produzenten durch die "Berufsorganisationen" benannt werden müssen. Diesen Vorschlag können wir nicht annehmen. Unsere Gewerkschaften umfassen leider nur ein Zwölftel bis ein Fünfzehntel der Belegschaften, und die Gewerkschaft ist schließlich kein Selbstzweck; sondern ihre Aufgabe ist es, die Masse der Arbeiter in die Lenkung des öffentlichen Lebens einzubeziehen.
Ein Streik nützt den Arbeitern, ob sie organisiert sind oder nicht, nur dann, wenn die fortschrittlichsten Gewerkschafter die ganze Masse in die Bewegung ziehen. Für das gute Funktionieren der Arbeiterkontrolle gilt dieselbe Bedingung. Deshalb darf das Kontroll-Komitee in jeder Fabrik nicht nur aus Delegierten der Gewerkschaften bestehen, also von einem Fünfzehntel der Arbeiter. Nein, es muß von allen Arbeitern der Fabrik gewählt werden, unter Führung der Gewerkschaft. Das wäre wirklich der Anfang einer freien und ehrlichen Arbeiterdemokratie, im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie, die korrupt bis auf die Knochen ist.
Der Plan verlangt die Einführung der 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Diese Forderung steht außer Frage. Aber wir wissen nur zu gut, daß sich die herrschende Klasse mit ihrem Staat in die andere Richtung bewegt, d.h. sie wollen niedrigere Löhne ohne Verkürzung der Arbeitszeit. Welche Mittel können wir also einsetzen, um die 40-Stunden-Woche zu erreichen? Die "Kommentare für die Propagandisten" informieren uns, daß "eine Anstrengung zur Verwirklichnung eines internationalen Abkommens unternommen wurde“, und fahren fort: "Es könnte bald verwirklicht werden." Es könnte ... das ist nicht sehr genau, und vor dem Hintergrund der internationalen wirtschaftlichen und politischen Situation sollen wir wohl eher schließen: Es könnte auch nicht. Wenn wir hier falsch liegen, wird unser Vertreter in Genf unseren Pessimismus korrigieren. Wenn nicht etwas Neues passiert, werden die Arbeitslosen in Grenoble - davon haben wir eine Menge - nicht viel von den Genfer Abkommen halten.
Und was schlägt man uns noch vor, außer auf eine frühe Verwirklichung eines diplomatischen Abkommens zu warten? Die „Kommentare“ fahren fort: „Es muß im ganzen Land Propaganda gemacht werden, um die soziale Bedeutung dieser Forderung der Arbeiter zu erklären.“ Nur zu "erklären"? Aber alle Arbeiter, selbst die einfachsten, verstehen den Vorteil der 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sehr gut. Was sie von der CGT erwarten ist, daß sie die Methode zeigt, mit der dieses Motto in die Tat umgesetzt werden kann. Aber genau hier beginnt die große Schwäche des Plans: Er macht Vorschläge, er bietet Lösungen an, er formuliert Losungen, aber er schweigt sich völlig über die Mittel zu ihrer Erfüllung aus.
Bevor wir uns jedoch der Frage zuwenden, wie man den Plan ausführen kann, müssen wir kurz bei einer besonders wichtigen Frage verweilen: der Bauernfrage. Jeder spricht darüber, jeder betont, wie wichtig die Verbesserung der Lage der Bauern ist, aber es gibt da eine Menge Köche, die den Bauern ein Omelett braten wollen, ohne dabei die Eier des Großkapitals zu zerbrechen. Unsere Methode kann das nicht sein.
Die "Kommentare für die Propagandisten" sagen über den Plan: "Die Bauern müssen aus der doppelten Umklammerung der Düngemittelkonzerne in der Produktion und des Kartells der großen Mühlen und des Getreidehandels im Vertrieb befreit werden."
Es ist natürlich sehr gut zu sagen, "die Bauern müssen befreit werden", aber ihr wißt ganz genau, daß der Bauer keine vagen und platonischen Formulierungen mag. Und er hat verdammt recht damit. ,,Müssen befreit werden." Aber wie? Hier ist die einzig mögliche Antwort: Wir müssen die Düngemittel- und Mühlenkonzerne enteignen und nationalisieren, um sie wirklich in den Dienst der Bauern und der Verbraucher zu stellen. Den Bauern kann nicht geholfen werden, ohne gegen die Interessen des Großkapitals zu handeln.
Der Plan spricht von der ,,allgemeinen Umorganisierung der landwirtschaftlichen Produktion", gibt aber nicht die Richtung oder die Methoden dieser Umorganisierung an. Die Vorstellung, etwa die Bauern zu enteignen oder mit Gewalt zur Einführung sozialistischer Produktionsmethoden zu zwingen, ist so absurd, daß es kaum lohnt, sie zu kritisieren; außderdem befürwortet niemand solche Methoden. Die Bauern müssen den Weg zu ihrer Erlösung selbst wählen. Wie auch immer die Bauern sich entscheiden, das Proletariat wird ernsthafte und wirksame Unterstützung versprechen. Bauern-Kooperativen sind das wichtigste Mittel die Landwirtschaft von äußerster Zerstückelung zu befreien. Die Kommentare zum Plan sagen: "Bauern-Kooperativen in Produktion, Lagerung und Vertrieb müssen ermutigt und unterstützt werden." Leider wird uns nicht mitgeteilt, von wem und wie sie ermutigt und unterstützt werden müssen. An allen Ecken finden wir dieselbe Schwäche. Die Forderungen des Plans haben oft den Charakter von Worthülsen.
Wer soll denn die Banken und Schlüsselindustrien nationalisieren? Wer wird den Bauern zu Hilfe kommen und die 40-Stunden-Woche einführen? Mit einem Wort, wer wird das Programm der CGT umsetzen? Wer und wie? Diese Frage, Genossen, ist entscheidend. Bleibt sie unbeantwortet, hängt der ganze Plan in der Luft.
In dem Abschnitt "Industrialisierte Nationalisierung" finden wir ganz nebenbei eine indirekte und absolut erstaunliche Antwort auf die gestellte Frage. Das eigentliche Ziel des Plans ist dort nämlich so beschrieben: "Es geht darum, die technischen Details eines Programms zu entwickeln, daß unabhängig vom politischen Regime angewendet werden kann." Da muß man sich schon ein oder zweimal die Augen reiben angesichts solch einer unrealistischen Formulierung. Also, der Plan, der sich gegen die Banker richtet, gegen die Magnaten der Trusts, gegen die neunzig Diktatoren Frankreichs und der Kolonien - der Plan, der die Arbeiter, Bauern, Handwerker, kleinen Händler, Angestellten und Beamten retten soll - dieser Plan soll also unabhängig vom politischen Regime sein? Anders gesagt, das Ruder des Staates kann da bleiben, wo es jetzt ist, in den Händen der Ausbeuter, der Unterdrücker, die das Volk verhungern lassen - das macht alles nichts, die CGT legt dieser Regierung ihren Plan zur wirtschaftlichen Erneuerung vor? Laßt es uns frank und frei aussprechen, diese vermeintliche Unabhängigkeit des Plans vom politischen Regime zerstört seinen realen Wert völlig und stellt ihn außerhalb der sozialen Wirklichkeit.
Natürlich beschäftigen wir uns in diesem Moment nicht mit den verfassungsmäßigen oder bürokratischen Formen der Staatsherrschaft. Aber eine Frage bestimmt alle anderen: Welche Klasse hat die Macht? Um die Feudalgesellschaft in eine kapitalistische zu verwandeln, mußte die Bourgeoisie die Macht gewaltsam der Monarchie, dem Adel und dem Klerus entreißen. Der Dritte Stand wußte sehr wohl, daß sein Plan zur "wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung" eine entsprechende Herrschaftsform benötigte. Und genauso wenig wie die klassenbewußte Bourgeoisie Louis Capet mit der Aufgabe betraute, die mittelalterliche Herrschaft abzuschaffen, kann das Proletariat etwa Flandin oder Herriot oder andere Führer der Bourgeoisie daran setzen, den Plan zu Enteignung der Bourgeoisie selbst durchzuführen. Wer die Macht hat, bestimmt die Form des Eigentums, und alle Reformen bestehen letztlich in der Abschaffung des Privateigentums und der Einführung von kollektivem oder sozialistischem Eigentum an den Produktionsmitteln. Wer glaubt, daß die Bourgeoisie sich selbst enteignen kann, ist vielleicht ein ausgezeichneter Dichter. Aber ich jedenfalls würde ihm nicht einmal die Kasse auch nur der kleinsten Gewerkschaft anvertrauen, weil er in einer Traumwelt lebt und wir in der wirklichen Welt bleiben wollen.
Es muß unmißverständlich gesagt werden: Nur eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, bereit zum kompromißlosen Kampf gegen alle Ausbeuter, kann den Plan anwenden, ihn vervollständigen, entwickeln und über ihn hinaus den Weg des Sozialismus gehen. Für das Proletariat heißt das, die Macht zu erobern.
An wen wendet sich der Plan? An die Herrschenden, um sie zu erweichen, oder an die Besitzlosen, um sie gegen ihre Unterdrückung aufstehen zu lassen? Wir Propagandisten müssen wissen, wen wir ansprechen und in welchem Ton. Weder der Plan noch die Kommentare lehren uns irgendetwas in dieser Richtung. Die offizielle Erklärung sagt uns, daß der von der CGT aufgestellte Plan "von der allgemeinen Öffentlichkeit zustimmend aufgenommen werden muß.“ Ich frage euch, Genossen, und ich frage mich: Was heißt das, die allgemeine Öffentlichkeit? Das ist wohl nicht die Öffentlichkeit der großen Boulevards, nehme ich an. In der Gewerkschaftsbewegung und im Klassenkampf unterscheiden wir für gewöhnlich zuerst nach Klassen: das Proletariat, die Bourgeosie, die verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums. Wir hoffen sicher, daß das Proletariat und die unteren Schichten des Kleinbürgertums den Plan zustimmend aufnehmen werden, wenn er sorgfältig ausgearbeitet worden ist, von Gemeinplätzen gereinigt und den Massen als ein Kampfprogramm vorgestellt worden ist. Aber die Arbeiter und die armen Bauern sind nicht die allgemeine Öffentlichkeit. Denken wir etwa, daß z.B. die Großbourgeoisie den Plan der CGT akzeptieren muß? Offensichtlich nicht, wir wollen uns nicht lächerlich machen. Fragt „Le Temps“! Vor einigen Wochen hat diese Zeitung, die die neunzig Wirtschaftsmagnaten, also die herrschende Oligarchie, ganz gut vertritt, heftig gegen die Teilnahme der Gewerkschaften an den Tarifkommissionen protestiert. Ich zitiere euch zwei Sätze, die Bände sprechen: "Das Verbot aller Arbeiterorganisationen war der Preis für die Herstellung des sozialen Friedens unter dem ancien regime." Da seht ihr, wie die Großbourgeoisie mit dem Rücken zur Wand steht und ihre Anregungen aus dem ancien regime bezieht! Und darin sagt derselbe Artikel: "Korporationen [besondere wirtschaftliche Interessengruppen] bedeuten hier Gewerkschaften." „Le Temps“ zeigt uns so jeden Tag, daß die herrschende Klasse nicht nur Konzessionen an den Plan der CGT ablehnt, sondern im Gegenteil sogar die Zerschlagung der CGT selbst ins Auge faßt.
Jaures hat zu Recht gesagt, daß „Le Temps“ die Bourgeoisie in Form einer Zeitung ist. Ist eine Zusammenarbeit möglich mit dieser Bourgeoisie, die heute, inspiriert durch das ancien regime, die Kriminalisierung jeglicher Arbeiterorganisationen vorbereitet? Diese Frage zu stellen, heißt schon sie zu beantworten. Es kann dagegen nur kompromißlosen Kampf geben, bis zum bitteren Ende.
Die Anmerkungen, Kritik und Vorschläge, die ich hier im Namen der Gewerkschaft unseres Departements vortrage, sind bereits ziemlich ausführlich, und ich habe nicht einmal die wichtigsten Fragen erschöpfend behandelt. Deshalb ist es umso mehr nötig, auf den grundlegenden Fehler des Plans hinzuweisen: Seine Autoren möchten sich über die Klassen erheben, das heißt, außerhalb der Realität bewegen. Wo sie es jedem recht machen wollen, sprechen sie von der allgemeinen Öffentlichkeit. Sie wollen die Banken nationalisieren, aber ohne die Hochfinanz zu benachteiligen, und die Trusts nationalisieren, während sie verschwenderischerweise die Großbourgeoisie noch drei weitere Generationen als Parasiten leben lassen wollen. Sie wollen den Bauern zu Hilfe kommen, ohne den Interessen der Großgrundbesitzer, der Düngemittelkonzerne und der großen Mühlengesellschaften zu schaden. Nachweisbar wollen sie auch alle möglichen politischen Regimes für sich gewinnen, da sie angeben, daß ihr Plan in Bezug auf politische Parteien und sogar Regimes neutral ist. Mir scheint sogar, daß solch geschraubte und unverständliche Ausdrücke wie "industrialisierte Nationalisierung" gewählt wurden, um nicht die empfindlichen Ohren der Trust-Magnaten zu schockieren.
Ein solches Vorgehen ist nicht nur sinnlos, es ist gefährlich; es ist nicht nur gefährlich, es ist schädlich. Wer versucht, zuviel zu umfassen, hat es schlecht im Griff oder trägt nur wenig davon. Wir werden die Bourgeoisie nicht für uns gewinnen - sie hat ein unerschütterliches Klassenbewußtsein; sie macht sich lustig über unsere Ratschläge; sie bereitet unsere Zerschlagung vor. Je freundlicher, versöhnlicher und dienstbarer wir der Bourgeoisie gegenüber sind, desto weniger respektiert sie uns und umso kompromißloser und arroganter wird sie. Diese Lektion, so scheint mir, fließt aus der ganzen Geschichte des Klassenkampfs. Wenn wir, andererseits, hinter der vermeintlichen allgemeinen Öffentlichkeit mit unseren Bitten herlaufen und eine Konzession nach der anderen machen, um dem kapitalistischen Idol näher zu kommen, riskieren wir, die Unterprivilegierten zu verärgern, die sich schon langsam sagen: "Das sind Ratgeber der herrschenden Klasse und nicht Führer der unterdrückten Klassen." Wir werden niemals die Sympathie des Klassenfeindes gewinnen, aber wir riskieren, für immer das Vertrauen unserer eigenen Klasse zu verlieren. Daß diese Grundregel nicht verstanden wird, ist die Hauptschwäche des Plans. Wir müssen ihn umformen. Wir müssen uns direkt an die Lohnempfänger und die Ausgebeuteten wenden. Wir müssen eine klare und bestimmte Sprache sprechen. Wir müssen den Plan in ein Aktionsprogramm für das ganze Proletariat verwandeln.
Die "Kommentare für die Propagandisten" raten uns, "alle heraus zu kristallisieren, die guten Willens sind". Das ist vage. Wo sind sie zu finden? Wir kennen Klassen und Klassenorganisationen, aber vor allem kennen wir die üblen Absichten der Bourgeoisie. Um sie zu zerschlagen, müssen wir ihr den revolutionären Willen der Arbeiterklasse entgegenstellen. Und die Mittelklassen werden nur dann dem Proletariat vertrauen, wenn das letztere in der Aktion Selbstvertrauen zeigt.
Es ist absurd und sogar kriminell, das Wohlwollen der Bourgeoisie zu suchen, indem man das revolutionäre
Wohlwollen des Proletariats betäubt und zerbricht. Die Einheitsfront unserer Klasse ist notwendig um jeden Preis: Einheitliche Aktion aller Arbeiter, gewerkschaftlichen, politischen, kooperativen, Bildungs-und Sportorganisationen und, vor allem, Gewerkschaftseinheit; mit dem konkreten Ziel - die Anwendung des Plans zur Nationalisierung und Sozialisierung durch die Eroberung der Macht.
Wir müssen jeden richtigen kämpferischen Arbeiter für eine mächtige Kampagne im ganzen Land mobilisieren. Die Bauern in den hintersten Dörfern müssen überzeugt werden, daß das Proletariat dieses Mal ernsthaft daran geht, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen um unser Land zu verwandeln, um es zumindest für das arbeitende Volk bewohnbar zu machen.
Entweder der Plan wird umgewandelt in einen Plan zur Machtübernahme durch das Proletariat, für die Bildung einer Arbeiter- und Bauemregierung, oder das Volk wird ihn als nichtig und undurchführbar wegwerfen. Die Gewerkschaft aus Isere ist für revolutionäres Handeln. Wenn ihr uns dazu aufruft, werden wir antworten: Wir sind bereit!
Übersetzt von Arnd Kranefeld, bearbeitete Übersetzung durch die Funke-Redaktion;
Quelle: Marxistische Hefte, Nr. 2, August 1991, Hrsg: Redaktion Voran