Es wird immer offensichtlicher, dass der Krieg in der Ukraine in letzter Instanz ein Konflikt zwischen Russland und einer von den USA geführten westlichen Allianz ist. Er ist ein Ausdruck des Kapitalismus auf seiner höchsten und zugleich letzten Stufe – des Imperialismus. Emanuel Tomaselli über die Aktualität von Lenins Imperialismus-Analyse.

Als Weltsystem dominant wurde der Imperialismus in den zwei Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg. „Syndikate“, „Trusts“ und „Monopole“, also marktbeherrschende Großunternehmen, die wechselseitig untereinander verschränkt waren und Absprachen trafen, lösten damals den bis dahin vorherrschenden Kapitalismus der freien Konkurrenz ab. Das weltweit expandierende Eisenbahnwesen und die damit verbundene Güterindustrie (Kohle, Stahl, …) waren die ersten Branchen, die diesen Konzentrationsprozess vollzogen. Auch heute spielen Zusammenschlüsse von Kapitalgruppen weiter eine Rolle in der Wirtschaft (Erdölkartell OPEC oder ARGEn von Baufirmen). Allerdings setzt sich der Konzentrationsprozess von Kapital in den vergangenen Jahrzehnten auf höherer Ebene fort, indem er sich insbesondere als Herausbildung von global marktbeherrschenden multinationalen Konzernen vollzogen hat.

Die TOP-500-Konzerne der Welt (gelistet im Forbes Fortune 500 Index) erwirtschafteten im Jahr 2020 gemeinsam einen Umsatz von 33.300 Mrd. US-$, was einem Anteil von 28,6 % der weltweiten Wirtschaftsleistung entspricht. Die Aktionäre dieser Konzerne konnten dabei einen Profit von 1.800 Mrd. US-$ erzielen.

Unter den TOP-10 sind fünf US-amerikanische Konzerne (u.a. Walmart und Amazon), drei chinesische, ein japanischer (Toyota) und ein deutscher (Volkswagen). Die Mehrheit der Multis ist in den USA beheimatet (121), doch China (119) folgt bereits auf den Fuß. Dies ist ein Indikator für die Verschiebung der globalen ökonomischen Schwergewichte.

Das Finanzkapital

Neben der Integration der gesamten Produktionskette in einem Konzern ist nach Lenin ein weiteres wichtiges Merkmal des Imperialismus, dass der Kapitalgeber (die Bank) in den Konzern hinüberwächst. Banken wandeln sich von reinen Kreditgebern (indem sie die Produktion bis zum Verkauf der Produkte vorfinanzieren) zu Anteilseignern und schließlich bestimmenden Faktoren der wirtschaftlichen, technischen und geographischen Ausrichtung der Konzerne. Es bildet sich das sogenannte Finanzkapital, was zunächst einmal nur eine Machtverschiebung innerhalb der herrschenden Klasse bedeutet: der von der Bank entsendete Aufsichtsrat im Konzern hat ein stärkeres Gewicht in Unternehmensentscheidungen als der technische Leiter der Produktionsabteilung. Der Geldgeber entscheidet.

Konzerne kontrollieren die profitabelsten Bereiche der Wirtschaft. Dabei sind sie in der Regel nicht die innovativsten Firmen. Ein Beispiel ist die Energiewirtschaft und die Autohersteller, die ein Jahrhundert lang jede Innovation in der Energiegewinnung und Antriebstechnik (Stichwort Verbrennung fossiler Energien) aktiv bekämpften. Mit ihrer geballten gesellschaftlichen Macht dominieren sie nicht nur die Produktionsketten, sondern auch die Forschung, die Wissenschaft, das Patentwesen, die Geldpolitik der Zentralbanken, die öffentliche Meinung und die gesetzlichen Regelwerke und Normen.

Doch auch dabei bleibt es nicht. In weiterer Folge tritt das ökonomisch dominante Finanzkapital in einen Fusionsprozess mit dem Staatsapparat ein, das Finanzkapital verschmilzt mit dem Herrschaftsapparat der herrschenden Klasse. Diese Verbindungen werden so eng, dass der Staat gerade in Zeiten der existentiellen Bedrohung auch zum direkten Instrument des Finanzkapitals wird.

Kapitalexport und Aufteilung der Welt

Der Konzentrationsprozess des Kapitals verlangt also nach einem zentralen Instrument der Interessensdurchsetzung der Konzerne nach innen, v.a. aber in der Außenpolitik. Dies ist der (imperialistische) Staat. Die marxistische Analyse, dass der Staatsapparat letztendlich ein Instrument der herrschenden Klasse zur Durchsetzung ihrer Interessen ist, wurde mit der Konzentration des Kapitals immer eindeutiger: Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft, wie Lenin festhielt.

Die Phase des Kolonialismus, also der formalen Herrschaft der imperialistischen Staaten über abhängige Gebiete in Übersee (oder im Fall von Österreich am Balkan), war mit der weitgehenden Entkolonialisierung Afrikas in den späten 1960er Jahren zu Ende. Doch bereits vorher waren die Kolonien nicht nur durch Armeen und Flotten abhängig gehalten, sondern vor allem durch den Export von Kapital (in Form von Krediten, später auch durch sogenannte „Direktinvestitionen“, die Gründung von Produktionsniederlassungen der imperialistischen Konzerne in den abhängigen Ländern).

Der Export von Kapital ist weitaus profitabler als der Export von Waren und tödlicher als viele Kriege. Denn mittels Zinsen und Unternehmensgewinnen fließt ein Mehrfaches der investierten Summe in das imperialistische Ursprungsland zurück. Dieser „Extraprofit“ wird über eine Vielzahl von Mechanismen aus den dominierten, in Abhängigkeit gehaltenen Ländern gesaugt: Kredite müssen aufgenommen werden, damit Waren aus den imperialistischen Ländern importiert werden können, diese gewinnen durch Investitionen Rohstoffe für die eigene Industrie und sichern politischen Einfluss im Empfängerland, auch militärisch durch „Kooperationsabkommen“, „Bündnisse“ oder die Finanzierung von „Rebellengruppen“.

Das Kapital der imperialistischen Länder teilt sich dabei die Welt in unterschiedliche Einflusszonen auf, was der politischen Sicherung und Steigerung des Extraprofites dient. Die Einteilung in imperialistische und abhängige Nationen ist aber niemals statisch oder stabil.

Die Verschiebung der Einflusszonen (oder der Versuch dies zu verhindern) werden oft mit offener Gewalt durchgesetzt. Natürlich finden sich dafür immer ehrenhafte Anlässe und Gründe, die aktuell gängigsten lauten: Bekämpfung des Terrors, Verteidigung der Demokratie, Verteidigung des Rechtes auf Selbstbestimmung einer unterdrückten Nation… Der Imperialismus muss seine Einflusspolitik in salbungsvolle Worte kleiden, um die Unterstützung der heimischen Arbeiterklasse für den Krieg zu sichern.

Imperialismus und Arbeiterbewegung

Der letzte wichtige Aspekt, den wir nennen wollen, ist die Auswirkung des Imperialismus auf die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft in den imperialistischen Nationen. Der Extraprofit des Kapitalexports ermöglicht gewisse Zugeständnisse an die Arbeiterklasse im Allgemeinen und die Besserstellung von gewissen Schichten im Besonderen. Der klassische „Betriebsratskaiser“ eines jedweden österreichischen Aktienkonzerns ist die typische Erscheinung dafür. Es kostet den Aktionären einen Pappenstiel, alle Betriebsräte zu umschmeicheln, den Wahlsieg der genehmen Fraktion sicherzustellen und notfalls einen „unangenehmen“ Arbeitervertreter loszuwerden. Eine gute Investition im Sinne der Aufrechterhaltung des „sozialen Friedens“!

Der Extraprofit ist so die Basis für die zeitweilige Dominanz des Reformismus in der Arbeiterbewegung, der sich vor allem auf die bessergestellten Schichten der Klasse stützen kann. Das drückt sich plastisch darin aus, dass die Führung der Arbeiterbewegung nicht etwa den Fokus darauf legt, die besonders ausgebeuteten Teile der Arbeiterklasse (oft MigrantInnen aus den abhängigen Ländern) zu organisieren und etwa für ihr Wahlrecht zu kämpfen, sondern stattdessen alle Kraft darauf verwendet, die „Sozialpartnerschaft“ mit den eigenen, imperialistischen Herrschenden aufrecht zu erhalten.

Der politische Opportunismus gegenüber dem Imperialismus kennzeichnet sich in jedem Fall darin, dass der Imperialismus nicht als eine dem Kapitalismus inhärente parasitäre Niedergangsepoche der Weltgeschichte gesehen wird, sondere als eine politisch korrigierbare „Phase“. Von Hilferding über Kautsky bis Toni Negri besteht hier eine durchgehende historische Tendenz in der nicht-revolutionären linken Imperialismusdiskussion.

Denn würde man den parasitären Niedergangscharakter dieser Epoche anerkennen, müsste man sich Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Lenin anschließen, die die Konsequenz dieser vollständigen Analyse knallhart zogen: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“

Nicht-revolutionäre Kritik am Imperialismus zieht diese Konsequenz niemals. Bestenfalls kritisiert sie eine „falsche imperialistische Politik“ (wobei der Hauptfehler meist in der Politik des offenen Gegners der eigenen herrschenden Klasse genannt wird). Die „Gegenvorschläge“ laufen so letztendlich oft auf eine „friedliche imperialistische Politik“, einen „Frieden unter den Räubern“ hinaus – etwa die Verteidigung der Neutralität oder der Betonung der Rolle der UNO.

Einmal Krieg, dann wieder Frieden – der Imperialismus ist hier nicht wählerisch, sondern sucht sich ganz pragmatisch das geeignete Mittel seine Interessen durchzusetzen. Erst die Enteignung der Konzerne und die politische Machteroberung durch die Arbeiterklasse, die objektiv ein Interesse an weltweiter Kooperation hat, werden eine harmonische Entwicklung der Menschheit ermöglichen. Die Verwerfungen, die imperialistische Kriege und Krisen hervorrufen, waren und werden erneut die Startrampe für die soziale Revolution sein.

(Funke Nr. 204/31.5.2022)



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