Heute beginnen wir mit dem ersten Teil einer neuen Serie von Alan Woods, welche eine verständliche Erklärung der marxistischen Methode zur Analyse von Geschichte liefert.
Der erste Artikel bestimmt die wissenschaftliche Basis für den historischen Materialismus. Die eigentliche Ursache für jeden gesellschaftlichen Wandel findet sich nicht im menschlichen Gehirn, sondern bei den Veränderungen in der Produktionsweise. MarxistInnen sehen Geschichte nicht als eine bloße Reihe isolierter Fakten, sondern sie versuchen die allgemeinen Prozesse und Gesetze, welche Natur und Gesellschaft beherrschen, zu entdecken. Die erste Bedingung für die Wissenschaft im Allgemeinen ist, dass wir in der Lage sind über das Einzelne hinwegschauen und beim Allgemeinen angelangen. Die Vorstellung, dass die menschliche Geschichte nicht von Gesetzen bestimmt wird, widerspricht jeglicher Wissenschaft.
Was ist Geschichte?
Warum sollten wir akzeptieren, dass das gesamte Universum, vom kleinsten Partikel bis zu den entferntesten Galaxien, Gesetzmäßigkeiten unterliegt, und dass die Prozesse, welche die Evolution aller Spezies bestimmen, von Gesetzmäßigkeiten beherrscht werden, dies aber für unsere Geschichte aus irgendwelchen seltsamen Gründen nicht gilt? Die marxistische Methode analysiert die verborgenen Triebkräfte, welche die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von den ersten Stammesgesellschaften bis zur heutigen Zeit sind. Die Art und Weise, mit der der Marxismus diese kurvenreiche Straße verfolgt, nennt sich materialistische Geschichtsauffassung.
Diejenigen, die die Existenz jeglicher Gesetze, welche die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit beherrschen, ablehnen, betrachten Geschichte unweigerlich von einem subjektiven und moralistischen Standpunkt aus. Aber über und hinter den isolierten Fakten ist es notwendig, deutliche Tendenzen, die Übergänge von einem Gesellschafssystem zum nächsten, zu erkennen und die grundlegenden Antriebskräfte herauszuarbeiten, die diese Übergänge bestimmen.
Vor Marx und Engels wurde Geschichte von den meisten Menschen als Aneinanderreihung nicht miteinander verknüpfter Ereignisse oder, um einen philosophischen Ausdruck zu benutzen, „Zufälle“ betrachtet. Es gab keine allgemeine Erklärung dafür, Geschichte hatte keine inneren Gesetzmäßigkeiten. Indem Marx und Engels feststellten, dass die gesamte menschliche Entwicklung im Grunde genommen von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängig ist, stellten sie das Studium der Geschichte erstmals auf eine wissenschaftliche Grundlage.
Diese wissenschaftliche Methode ermöglicht uns, Geschichte nicht als Aneinanderreihung unzusammenhängender Ereignisse zu verstehen, sondern vielmehr als Teil eines klar verstandenen und verwobenen Prozesses. Sie besteht aus einer Reihe von Aktionen und Reaktionen, welche die Politik, die Wirtschaft und das gesamte Spektrum der gesellschaftlichen Entwicklung abdeckt. Es ist die Aufgabe des historischen Materialismus, die komplexe dialektische Beziehung zwischen all diesen Phänomenen offen zu legen. Die Menschheit ändert durch Arbeit ständig die Natur und verändert sich dadurch selbst.
Eine Karikatur des Marxismus
Im Kapitalismus neigt die Wissenschaft dazu, immer unwissenschaftlicher zu werden, je mehr sie sich der Analyse der Gesellschaft nähert. Die so genannten Sozialwissenschaften (Soziologie, Ökonomie, Politik) und auch die bürgerliche Philosophie wenden in der Regel keine wirklich wissenschaftlichen Methoden an und enden daher als schlecht versteckte Versuche, den Kapitalismus zu rechtfertigen oder zumindest den Marxismus zu diskreditieren (was auf das Gleiche hinausläuft).
Trotz der “wissenschaftlichen” Ansprüche der bürgerlichen Historiker spiegelt die Geschichtsschreibung zwangsläufig einen Klassenstandpunkt wider. Tatsache ist, dass die Geschichte von Kriegen – auch die von Klassenkriegen – von den Siegern geschrieben wird. Mit anderen Worten, die Auswahl und Interpretation von Ereignissen wird von den Ergebnissen dieser Konflikte selbst geprägt, die den Historiker und seine Vorstellung davon, was der Leser lesen will, beeinflussen. Letztendlich werden diese Vorstellungen immer von den Interessen einer Klasse oder Gruppierung in der Gesellschaft beeinflusst sein.
Wenn MarxistInnen die Gesellschaft betrachten, geben sie nicht vor, neutral zu sein, sondern unterstützen offen die Interessen der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Das schließt jedoch keineswegs eine wissenschaftliche Objektivität aus. Ein Chirurg, der eine komplizierte Operation durchführt, verschreibt sich der Lebensrettung seines Patienten. Er verhält sich keinesfalls neutral zum Ergebnis seiner Handlung. Aber aus eben diesem Grund unterscheidet er ausgesprochen genau zwischen den verschiedenen Schichten des Organismus. Aus dem gleichen Grund sind MarxistInnen bestrebt, eine genaue wissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Prozesse zu erhalten: um in der Lage zu sein, deren Ausgang erfolgreich zu beeinflussen.
Es werden sehr oft Versuche unternommen, den Marxismus zu diskreditieren, indem dessen Methode der historischen Analyse karikiert wird. Nichts ist einfacher als einen Strohmann aufzustellen, um ihn dann wieder umzuhauen. Die übliche Verzerrung lautet, Marx und Engels hätten „alles auf die Ökonomie reduziert“. Diese mechanische Karikatur hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Wenn das tatsächlich der Fall wäre, wären wir von der schmerzhaften Notwendigkeit entbunden, für eine Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen. Der Kapitalismus würde zusammenbrechen und die neue Gesellschaft würde von selbst seinen Platz einnehmen, sowie einem schlafenden Menschen ein reifer Apfel in den Schoß fällt. Aber der historische Materialismus hat nichts mit Fatalismus gemein.
Diese offensichtliche Absurdität wurde im folgenden Auszug aus Engels Brief an Bloch beantwortet:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.” (Engels an Bloch, 21. September 1890, MEW, Bd. 37, S. 463)
In dem Werk ‚Die heilige Familie‘, das vor dem Kommunistischen Manifest geschrieben wurde, straften Marx und Engels die Vorstellung, dass man sich „Geschichte“ unabhängig von einzelnen Menschen vorstellen könne, mit Verachtung und erklärten, dies sei ausschließlich eine leere Abstraktion:
„Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum‘, sie ‚kämpft keine Kämpfe‘! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.” (Marx und Engels, Die heilige Familie, Kapitel VI, MEW Bd. 2, S. 98)
Was der Marxismus erklärt, ist die Rolle des Individuums als Teil einer bestehenden Gesellschaft, in Abhängigkeit von gewissen objektiven Gesetzen und schließlich als Vertreter der Interessen einer bestimmten Klasse. Ideen besitzen keine unabhängige Existenz, noch ihre eigene historische Entwicklung. „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“, schreibt Marx in seinem Werk ‚Die deutsche Ideologie‘ (MEW Bd. 3, S. 27).
Freier Wille?
Die Vorstellungen und Handlungen der Menschen sind durch die sozialen Beziehungen bedingt, deren Entwicklung nicht vom subjektiven Willen von Menschen abhängig ist, sondern nach bestimmten Gesetzen ablaufen. Diese sozialen Beziehungen reflektieren letztendlich die Notwendigkeit der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Wechselbeziehungen zwischen diesen Faktoren bilden ein komplexes Netz, das oft nur schwer erkennbar ist. Das Studium dieser Beziehungen ist die Grundlage der marxistischen Geschichtstheorie.
Aber auch wenn Menschen nicht Marionetten “blinder historischer Kräfte” sind, so sind sie auch nicht vollkommen frei Handelnde, die in der Lage sind, ihr Schicksal ungeachtet der bestehenden Bedingungen zu gestalten, die durch die Stufe der ökonomischen Entwicklung, der Wissenschaft und Technik, vorgegeben sind. Diese Bedingungen entscheiden letztendlich, ob das sozioökonomische System lebensfähig ist oder nicht. Im ‚Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘ schreibt Marx:
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (MEW Bd. 8, S. 115).
Später drückte Engels die gleiche Vorstellung auf eine andere Art aus:
“Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eignen, bewußt gewollten Zwecke verfolgt, und die Resultate dieser vielen in verschiedenen Richtungen agierenden Willen und ihrer mannigfachen Einwirkung auf die Außenwelt ist eben die Geschichte.” (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW Bd. 21, S. 297)
Was der Marxismus damit behauptet, und das ist eine These, die sicherlich niemand leugnet, ist, dass letzten Endes die Lebensfähigkeit eines bestimmten sozioökonomischen Systems durch dessen Fähigkeit zur Entwicklung der Produktionsmittel bestimmt ist, d. h. auf den materiellen Grundlagen, auf denen die Gesellschaft, die Kultur und die Zivilisation aufgebaut sind, begründet ist. Die Vorstellung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grundlage ist, von der jegliche gesellschaftliche Entwicklung abhängt, ist eine derart selbstverständliche Wahrheit, und es überrascht, dass diese von einigen Menschen immer noch in Frage gestellt wird. Es verlangt nicht viel Intelligenz zu verstehen, dass Männer und Frauen, bevor sie Kunst, Wissenschaften, Religion und Philosophie entwickeln können, zuerst einmal Nahrung zum Essen, Kleidung zum Anziehen und Häuser zum Wohnen brauchen. All diese Dinge müssen irgendwie von jemandem produziert werden. Und es ist ebenso offensichtlich, dass die Lebensfähigkeit eines jeden sozioökonomischen Systems durch die Fähigkeit, dies zu tun, bestimmt wird. In der ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ erklärt Marx die Beziehung zwischen den Produktivkräften und dem „Überbau“ wie folgt:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (MEW Bd. 13, S. 8)
Wie Marx und Engels bemüht waren darzustellen, sind sich die Handelnden in der Geschichte nicht immer bewusst, von welchen Motiven sie angetrieben werden. Stattdessen versuchen sie diese auf die eine oder andere Art zu rechtfertigen. Doch diese Motive existieren und haben ihre Grundlage in der realen Welt.
Daran können wir sehen, dass der Verlauf und die Richtung der Geschichte von Kämpfen aufeinanderfolgender sozialer Klassen geprägt wurden und werden, welche die Gesellschaft nach ihren eigenen Interessen und den daraus resultierenden Klassenkonflikten formen. Daran erinnert uns der erste Satz des Kommunistischen Manifests: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Der historische Materialismus erklärt, dass der Klassenkampf die treibende Kraft für die gesellschaftliche Entwicklung ist.
Marx und Darwin
Unsere Gattung ist das Produkt einer langen Evolutionszeit. Natürlich folgt die Evolution keiner Art „Masterplan“, mit dem Ziel, Wesen wie uns zu erschaffen. Es geht nicht darum, einen vorgezeichneten Plan zu akzeptieren, der in Zusammenhang mit einer göttlichen Intervention oder einer Art Teleologie steht, doch es ist klar, dass die Gesetze der Evolution, die Bestandteil der Natur sind, tatsächlich die Entwicklung von den einfachen Formen des Lebens zu den komplexeren bestimmen.
Die frühesten Lebensformen enthalten in sich bereits den Embryo aller zukünftigen Entwicklungen. Es ist möglich, die Entwicklung von Augen, Armen und anderen Organen zu erklären, ohne auf einen vorbestimmten Plan zurückzugreifen. Ab einer gewissen Stufe sehen wir die Entwicklung eines Zentralnervensystems und eines Gehirns. Mit dem Homo sapiens erlangen wir schließlich menschliches Bewusstsein. Die Materie erlangt Bewusstsein über sich selbst. Es hat keine wichtigere Revolution seit der Entwicklung der organischen Materie (das Leben) aus der anorganischen gegeben.
Charles Darwin hat erklärt, dass die Arten veränderlich sind und sie eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft besitzen, sich wandeln und entwickeln. Auf die gleiche Art haben Marx und Engels erklärt, dass Gesellschaftssysteme nichts Ewiges, Starres sind. Die Evolution zeigt, dass verschiedene Lebensformen den Planeten für lange Zeit dominiert haben, aber ausgestorben sind, sobald sich die materiellen Bedingungen, die ihren evolutionären Erfolg bestimmten, änderten. Diese ehemals dominanten Arten wurden durch andere ersetzt, die scheinbar unbedeutend waren oder sogar durch Arten, die keine Überlebensaussichten zu haben schienen.
Heute wird die Idee von der “Evolution” im Allgemeinen, zumindest von gebildeten Menschen, akzeptiert. Die Ideen von Darwin, so revolutionär sie auch zu seiner Zeit waren, werden als Allgemeinplatz anerkannt. Jedoch wird die Evolution gemeinhin als ein langsamer und schrittweiser Prozess ohne Unterbrechungen oder plötzliche Umbrüche verstanden. In der Politik wird diese Art Argument oft zur Rechtfertigung des Reformismus verwendet. Leider ist dies eine missverständliche Auffassung. Der wirkliche Mechanismus der Evolution bleibt sogar heute noch ein Buch mit sieben Siegeln. Das ist kaum überraschend, da Darwin diesen selbst nicht verstanden hat. Erst seit den 1970ern, mit neuen Entdeckungen in der Paläontologie durch Stephen J. Gould, der die Theorie vom „unterbrochenen Gleichgewicht“ (Punktualismus) entdeckte, wurde aufgezeigt, dass die Evolution kein schrittweiser Prozess ist. Es gibt lange Zeiträume, in denen man keine großen Veränderungen beobachten kann, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt wird die Evolutionslinie durch eine Explosion durchbrochen. Dabei handelt es sich um eine wahrhafte biologische Revolution, die durch das massenhafte Aussterben einiger Arten und den schnellen Aufstieg anderer charakterisiert ist.
Wir sehen entsprechende Prozesse beim Aufstieg und Fall verschiedener sozioökonomischer Systeme. Die Analogie zwischen der Gesellschaft und der Natur ist natürlich nur eine Annäherung. Aber selbst die oberflächlichste Untersuchung der Geschichte zeigt, dass ihre schrittweise, allmähliche Interpretation keine Basis hat. Die Gesellschaft kennt, genau wie die Natur, lange Perioden des langsamen und schrittweisen Wandels, aber auch hier wird die Linie durch explosive Entwicklungen, wie Kriege und Revolutionen, unterbrochen, in denen der Veränderungsprozess enorm beschleunigt wird. Diese Ereignisse sind in der Tat die treibende Kraft für eine historische Entwicklung. Und die eigentliche Ursache für eine Revolution ist die Tatsache, dass ein bestimmtes sozioökonomisches System seine Grenzen erreicht hat und nicht mehr in der Lage ist, die Produktivkräfte wie zuvor weiterzuentwickeln.
Die Geschichte liefert Beispiele von scheinbar mächtigen Staaten, die innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen sind. Und sie zeigt auch, wie politische, religiöse und philosophische Anschauungen, die einmütig abgelehnt worden waren, zu akzeptierten Anschauungen der neuen revolutionären Macht wurden, die aufstieg und die alte ersetzte. Die Tatsache, dass die marxistischen Ideen die Anschauungen einer kleinen Minderheit in dieser Gesellschaft sind, ist deshalb kein Grund zur Besorgnis. Jede große Idee hat immer als Ketzerei begonnen, das trifft sowohl auf den Marxismus als auch auf das Christentum vor 2000 Jahren zu.
Die “evolutionären Anpassungen”, die es der Sklavenhaltergesellschaft ermöglichten, die Barbarei, und dem Feudalismus, die Sklavenhaltergesellschaft zu ersetzen, schlugen letztlich in ihr Gegenteil um. Und jetzt sind die Merkmale, die es dem Kapitalismus möglich machten, den Feudalismus abzulösen und ihn zum dominanten sozioökonomischen System zu machen, Ursache für seinen Zerfall. Der Kapitalismus weist alle Symptome eines sozioökonomischen Systems im Zustand des endgültigen Niedergangs auf. In vielerlei Hinsicht ähnelt dies der Periode des Zerfalls des Römischen Reiches, wie sie von Edward Gibbon beschrieben wird. In der Periode, die sich vor uns entfaltet, bewegt sich der Kapitalismus in Richtung seines Untergangs.
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
Wenn man die Methoden des dialektischen Materialismus auf die Geschichte anwendet, wird einem sofort bewusst, dass die menschliche Geschichte ihre eigenen Gesetze hat, und dass es demzufolge möglich ist, sie als einen Prozess zu verstehen. Der Aufstieg und Fall verschiedener sozio-ökonomischer Formationen kann wissenschaftlich deren mit deren Fähigkeit oder Unfähigkeit erklärt werden, die Entwicklung der Produktionsmittel und damit die menschliche Kultur und die zunehmende Beherrschung der Natur durch den Menschen, voranzutreiben.
Aber welches sind die Gesetze, die den historischen Wandel bestimmen? Genau wie die Evolution des Lebens innewohnende Gesetze hat, die erklärt werden können und zuerst von Darwin und in jüngster Zeit durch die schnellen Fortschritte in der Genetik erklärt wurden, so hat auch die Evolution der menschlichen Gesellschaft ihr innewohnende Gesetze, die von Marx und Engels erklärt wurden. In seinem Werk ‚Die deutsche Ideologie‘ erklärte Marx:
„Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. (…) Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“ (MEW Bd. 3, S. 20-21)
In seiner viel später geschriebenen Schrift ‚Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ liefert uns Engels eine weiterentwickelte Formulierung dieser Ideen. Hier haben wir es mit einer brillanten und prägnanten Darstellung der Grundprinzipien des historischen Materialismus zu tun:
„Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in, Veränderungen der Produktions- und Austauschweise (…)“ (MEW Bd. 19, S. 210)
Im Gegensatz zu den utopischen sozialistischen Ideen von Robert Owen, Saint-Simon und Fourier, basiert der Marxismus auf einer wissenschaftlichen Vision des Sozialismus. Der Marxismus erklärt, dass der Schlüssel zur Entwicklung jeder Gesellschaft die Entwicklung der Produktivkräfte ist: Arbeitskraft, Industrie, Landwirtschaft, Technik und Wissenschaften. Jedes neue System – Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus – hat dazu gedient, die menschliche Gesellschaft durch die Entwicklung der Produktivkräfte voranzubringen.
Die grundlegende Prämisse des historischen Materialismus ist, dass die letztendliche Quelle der menschlichen Entwicklung die Entwicklung der Produktivkräfte ist. Dies ist eine sehr wichtige Schlussfolgerung, weil sie es uns ermöglicht, zu einer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung zu gelangen. Der Marxismus verficht die Ansicht, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft über Millionen Jahre einen Fortschritt in dem Sinn darstellt, dass sie die Macht der Menschheit über die Natur erhöht und so die materiellen Bedingungen schafft, wirkliche Freiheit für die Menschen zu erreichen. Dies ist jedoch nie geradlinig abgelaufen, wie es sich die viktorianischen Historiker, die eine vulgäre und undialektische Sichtweise der Evolution hatten, vorstellten. Die Geschichte hat sowohl eine absteigende als auch aufsteigende Linie.
Wenn man einmal den materialistischen Standpunkt leugnet, bleibt die Rolle von Individuen, d. h. großen Männern und Frauen, als einzige treibende Kraft für historische Ereignisse. Mit anderen Worten, uns bleibt eine idealistische und subjektivistische Betrachtungsweise der historischen Prozesse. Dies war der Standpunkt der utopischen Sozialisten, die trotz ihrer brillanten Einsichten und ihrer durchdringenden Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung daran scheiterten, die grundlegenden Gesetze der historischen Entwicklung zu verstehen. Für sie war der Sozialismus nur eine „gute Idee“, etwas, das man sich auch schon vor eintausend Jahren oder morgen früh hätte ausdenken können. Wäre der Sozialismus schon vor eintausend Jahren erfunden worden, hätte das der Menschheit viele Probleme erspart!
Es ist unmöglich, Geschichte zu verstehen, wenn man sich auf die subjektive Interpretation seiner Protagonisten stützt. Lasst uns ein Beispiel anführen. Die frühen Christen, die das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi stündlich erwarteten, glaubten nicht an Privateigentum. In ihren Gemeinden praktizierten sie eine Art Kommunismus (obwohl ihr Kommunismus zur utopischen Art gehörte, basierend auf Konsumtion und nicht Produktion). Ihre frühen kommunistischen Experimente führten zu nichts und konnten zu nichts führen, weil die Entwicklung der Produktivkräfte zur damaligen Zeit nicht die Entwicklung eines echten Kommunismus gestattete.
Zur Zeit der Englischen Revolution glaubte Oliver Cromwell leidenschaftlich, dass er für das Recht des Einzelnen kämpfte, entsprechend seinem Gewissen zu Gott zu beten. Aber der weitere Verlauf der Geschichte bewies, dass die Cromwellsche Revolution das entscheidende Stadium beim unvermeidlichen Aufstieg der englischen Bourgeoisie war. Das konkrete Stadium der Entwicklung der Produktivkräfte im England des 17. Jahrhunderts erlaubte keinen anderen Ausgang.
Die Führer der großen Französischen Revolution von 1789-93 kämpften unter dem Banner von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Sie glaubten, für eine Ordnung zu kämpfen, die sich auf die ewigen Gesetze von Recht und Vernunft stützte. Doch unabhängig von ihren Absichten und Ideen bereiteten die Jakobiner den Weg für die Herrschaft der Bourgeoisie in Frankreich. Auch hier war unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu diesem Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung kein anderes Ergebnis möglich.
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