Der folgende Text von Alan Woods befasst sich mit der Haltung von Marxisten und Marxistinnen zu Religon.
Das Ziel von MarxistInnen ist der Kampf für die sozialistische Veränderung der Gesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene. Wir glauben, dass das kapitalistische System schon seit Langem seine historische Nützlichkeit überlebt hat und sich in ein monströs unterdrückerisches, ungerechtes und unmenschliches System verwandelt hat. Die Beendigung von Ausbeutung und die Schaffung einer harmonischen sozialistischen Weltordnung, die auf einem rationalen und demokratischen Produktionsplan beruht, wird der erste Schritt in der Schöpfung einer neuen und höheren Gesellschaftsform sein, in der sich alle Männer und Frauen als Menschen verstehen werden.
Wir glauben, dass es die Pflicht jeden menschlichen Wesens ist, den Kampf gegen ein System, das unglaubliches Elend und Unterdrückung für Millionen auf der Welt bedeutet, zu unterstützen. Wir begrüßen aus ganzem Herzen die Teilnahme jeder fortschrittlich gesinnten Person an diesem Kampf, unabhängig von Nationalität, Hautfarbe oder religiöser Zugehörigkeit. Wir heißen auch die Gelegenheit zum Dialog zwischen MarxistInnen und ChristInnen, MuslimInnen und anderen religiösen Gruppen willkommen.
Um jedoch wirksam zu kämpfen, ist es notwendig, ein ernsthaftes Programm zu erarbeiten, sowie eine Politik und Perspektiven, die Erfolg gewährleisten. Wir glauben, dass nur der Marxismus (wissenschaftlicher Sozialismus) eine solche Perspektive bereitzustellen vermag.
Die Frage der Religion ist eine komplexe und kann von einer Vielzahl verschiedener Standpunkte aus betrachtet werden: historisch, philosophisch, politisch etc. Der Marxismus begann als Philosophie: als dialektischer Materialismus. Eine sehr gute Erklärung dieser Philosophie kann in Werken wie Engels' Anti-Dühring und Ludwig Feuerbach gefunden werden. Unser Buch Aufstand der Vernunft, marxistische Philosophie und moderne Naturwissenschaften bietet den Versuch die Aktualität dieser Ideen zu beweisen. Das ist der Ausgangspunkt für eine Klärung der philosophischen Position des Marxismus zur Religion.
Philosophischer Materialismus und Wissenschaft
MarxistInnen stehen auf der Grundlage des philosophischen Materialismus, der die Existenz jedweden übernatürlichen Wesens oder irgendetwas „außerhalb“ oder „über“ der Natur Stehenden ausschließt. Es gibt tatsächlich keine Notwendigkeit für eine derartige Erklärung des Lebens und des Universums – heute weniger denn je. Die Natur bietet ihre eigenen Erklärungen und sie bietet sie in großer Fülle.
Die Wissenschaft hat bewiesen, dass sich die Menschheit – wie jede andere Spezies – über Jahrmillionen entwickelt hat und dass das Leben selbst aus anorganischer Materie hervorgegangen ist. Es kann kein Gehirn ohne ein Zentralnervensystem geben, und es kann kein Zentralnervensystem ohne einen materiellen Körper, Blut, Knochen, Muskeln etc. geben. Dieser Körper muss wiederum durch Nahrung, die aus der materiellen Umwelt gewonnen wird, erhalten werden. Die neuesten Entdeckungen der Genetik im Zuge des Human Genome Project haben unwiderlegbaren Beweis für den materialistischen Standpunkt erbracht.
Die Enthüllung der langen und komplexen, lange uneinsehbaren Geschichte des Genoms hat Diskussionen über die Natur der Menschheit und den Prozess ihrer Entstehung hervorgerufen. Unglaublicherweise werden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Ideen Darwins durch die sogenannte kreationistische Bewegung in den USA in Frage gestellt – diese strebt an, dass amerikanische Schulkinder gelehrt werden, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hätte, dass der Mann aus Staub entstanden und die erste Frau aus einer seiner Rippen geschaffen worden wäre.
Die jüngsten Entdeckungen haben den Unsinn der KreationistInnen endgültig widerlegt. Sie haben die Annahme, dass jede Spezies eigenständig und der Mensch mit seiner ewigen Seele eigens zur Lobpreisung des Herrn erschaffen worden wäre, umfassend entkräftet. Es ist nun klar bewiesen, dass die Menschen überhaupt keine einzigartigen Kreaturen sind. Die Ergebnisse des Human Genome Projects zeigen schlüssig, dass wir unsere Gene mit anderen Arten teilen – dass alte Gene dazu beitrugen, uns zu dem zu machen, was wir sind. Menschen teilen ihre Gene mit anderen Arten bis weit zurück in die Nebel der Zeit. Tatsächlich kann ein kleiner Teil dieses gemeinsamen genetischen Erbes bis zu primitiven Organismen wie Bakterien zurückverfolgt werden. Menschen haben eine Vielzahl von Genen, die auch bei Ratten, Mäusen, Katzen, Hunden und sogar Fruchtfliegen nachgewiesen werden konnten. Tatsächlich haben WissenschaftlerInnen etwa 200 Gene gefunden, die Menschen mit Bakterien gemeinsam haben. Somit wurde der endgültige Beweis für die Evolution erbracht. Auf grundlegende Weise. Kein göttliches Eingreifen ist dazu erforderlich.
Leben nach dem Tod?
Also warum hat die Religion trotz aller wissenschaftlichen Entwicklung immer noch Einfluss auf das Bewusstsein von Millionen? Die Religion verspricht Männern und Frauen den Trost eines Lebens nach dem Tod. Der philosophische Materialismus weist die Möglichkeit dessen zurück. Geist, Ideen, die Seele – alle diese Dinge sind das Produkt von einer auf bestimmte Weise organisierter Materie. Das organische Leben geht ab einer gewissen Stufe aus anorganischer Materie hervor, genauso wie einfache Lebensformen – Bakterien, Einzeller etc. – zu komplexeren Formen mit einem Rückgrat, einem Zentralnervensystem und einem Gehirn werden.
Der Wunsch nach ewigem Leben ist zumindest so alt wie die Zivilisation – wahrscheinlich noch älter. Es gibt etwas in unserem Dasein, das der Vorstellung, dass das „Ich“ zu bestehen aufhöre, widerstrebt. Tatsächlich ist es schwer zu akzeptieren oder auch nur zu verstehen, dass diese wunderbare Welt voll Sonnenschein und Blumenpracht, mit dem Wind im Gesicht, dem Spiel des Wassers, dem Beisammensein mit FreundInnen für das Eingehen in ein endloses Reich des Nichts aufgegeben werden muss. Daher haben die Menschen bereits früh die fantasierte Gemeinschaft mit einer nicht-materiellen Welt, in der – wie man meint – ein Teil von mir weiterleben wird, gesucht. Das war auch eine der kraftvollsten und dauerhaftesten Botschaften des Christentums: „Ich kann nach dem Tod leben.“
Das Problem ist, dass das Leben, das die meisten Männer und Frauen heute führen, so hart, so unerträglich oder jedenfalls so bedeutungslos ist, dass die Idee des Lebens nach dem Tod das einzige Mittel zu sein scheint, ihm irgendeine Bedeutung zu geben. Wir werden auf diese äußerst wichtige Frage später zurückkommen. Doch davor wollen wir die genaue Bedeutung der Idee des Lebens nach dem Tod analysieren. Und in dem Moment, in dem sie einer ernsthaften Analyse unterworfen ist, zerfällt sie zu Staub.
Diese Problematik wurde schon vor langer Zeit erkannt, unter anderem vom griechischen neo-platonistischen Philosophen Plotin, der über die Unsterblichkeit sagte: „Es ist unaussprechlich, denn wenn man etwas dazu sagt, macht man es zu etwas Besonderem.“ Dieselbe Idee findet sich in indischen Schriften über die Seele: „Das Selbst muss durch Nein, Nein (Neti, neti) beschrieben werden. Es ist unbegreifbar, denn es kann nicht begriffen werden.“ (siehe A.C. Bouquet: Comparative Religion. S. 162). Die Seele ist also für PhilosophInnen und TheologInnen nur eine „Nacht, in der alle Katzen schwarz sind“, wie Hegel es gesagt hätte. Und doch sprechen alltäglich Menschen ohne jede Bildung ganz selbstverständlich über die Seele und das Leben nach dem Tod. Sie stellen sich vor, dass es wie das Aufwachen nach dem Schlaf wäre, nach dem sie mit den vor langem verlorenen Liebsten glücklich vereint wären und fröhlich immer weiter bestehen würden.
Die Seele wird als immateriell verstanden. Doch was ist das Leben ohne Materie? Die Zerstörung des physischen Körpers bedeutet das Ende des Lebens des Einzelnen. Tatsächlich verschwinden die Trillionen Atome, die den Körper zusammensetzen, nicht, sondern tauchen in neuen Kombinationen wieder auf. In diesem Sinn sind wir alle unsterblich, denn Materie kann nicht geschaffen oder zerstört werden. Zugegebenerweise gibt es SpiritualistInnen, die darauf bestehen, dass sie Stimmen hören, obwohl kein physisches Wesen zugegen ist. Die Antwort darauf ist ziemlich einfach: wenn es eine Stimme gibt, muss es Stimmbänder geben – oder wir wissen nicht, was eine Stimme ist! Wie man es dreht und wendet, keine einzige Erscheinung unserer menschlichen Lebenstätigkeit kann vom materiellen Körper getrennt werden.
Die allgemeine Vorstellung des „Lebens nach dem Tode“ ist mehr oder weniger die einer Fortsetzung des Lebens, das wir auf Erden geführt haben (ein anderes kennen wir auch nicht). Nachdem die Seele den Körper verlassen hat, „erwacht“ sie offenbar in einem schönen Land, in dem wir auf wundervolle Weise mit unseren Liebsten vereint sind, um ein Leben ewiger Freude zu führen, in dem Krankheit und Alter nicht existieren. Es ist wesentlich, die Frage richtig zu stellen, um zu erkennen, dass das unmöglich ist. Wenn man sich überlegt, worin die Dinge bestehen, die das Leben lebenswert machen - gutes Essen, feine Weine (oder für Anglophile eine nette Tasse Tee), Gesang, Tanz, Nähe, Liebe und Sex etc. –, wird sofort klar, dass all diese Aktivitäten untrennbar mit dem Körper und seinen physischen Eigenheiten verbunden sind. Stärker geistige Zeitvertreibe wie Plaudern, Lesen, Schreiben oder Denken sind genauso an unsere körperlichen Organe gebunden. Dasselbe gilt für das Atmen oder jede andere Tätigkeit, die wir alles in allem Leben nennen.
Tatsächlich wäre eine Existenz ohne jeden Schmerz und jedes Leid für Menschen unerträglich. Eine Welt, in der alles weiß wäre, könnte genauso gut völlig schwarz sein. Aus einem streng medizinischen Blickwinkel hat der Schmerz eine wichtige Funktion. Er ist nicht nur Übel, sondern ein Warnsignal des Körpers, dass etwas nicht in Ordnung ist. Schmerz ist Teil des menschlichen Bestehens. Außerdem stehen Schmerz und Lust in einem dialektischen Verhältnis. Ohne Schmerz könnte Lust nicht existieren. Don Quijote erklärte Sancho Pansa, dass Hunger der beste Koch ist. Genauso ruhen wir um einiges besser nach einer Zeit intensiver Anstrengung.
Ebenso ist der Tod ein integraler Bestandteil des Lebens. Das Leben ist ohne den Tod nicht vorstellbar. Wir beginnen mit dem Moment der Geburt zu sterben, denn in Wirklichkeit ist es nur der Tod von Trillionen von Zellen und ihre Ersetzung durch Trillionen neuer Zellen, was das Leben und die menschliche Entwicklung ausmacht. Ohne den Tod könnte es kein Leben, kein Wachstum, keine Veränderung, keine Entwicklung geben. Somit ist der Versuch, den Tod aus dem Leben zu verbannen – als ob diese beiden voneinander getrennt werden könnten - , gleichbedeutend mit der Erreichung eines Zustands völliger Unbeweglichkeit, Unveränderlichkeit, ein statisches Gleichgewicht. Das aber ist nur ein anderer Name für – Tod. Es kann nämlich kein Leben ohne Änderung und Bewegung geben.
Was ist so schlimm daran, an ein weiteres Leben zu glauben? Nichts, so scheint es. Und doch - ist es wünschenswert, Männer und Frauen irrezuführen und sie zu ermutigen, ihr Leben auf eine Illusion zu gründen? In dem Maß, in dem wir alle Illusionen hinter uns lassen und die Welt so erkennen, wie sie wirklich ist und uns selbst, wie wir wirklich sind, können wir das nötige Wissen erwerben, die Welt und uns selbst zu ändern.
Was uns als individuelle Persönlichkeiten ausmacht, ist aufs Engste mit unseren materiellen Körpern verbunden und hat von ihnen abgehoben und getrennt keine eigenständige Existenz. Wir werden geboren, wir leben und sterben wie alle anderen lebenden Organismen im Universum. Jede Generation muss ihr Leben leben und dann den Weg für die neuen Generationen freigeben, die dazu bestimmt sind, unseren Platz einzunehmen. Das Streben nach Unsterblichkeit, das eingebildete Recht ewig zu leben ist von Grund auf egoistisch und unrealistisch. Anstatt die Zeit damit zu verschwenden, nach einer nicht existenten „anderen Welt“ Ausschau zu halten, ist es nötig, diese Welt zu einem Ort zu machen, in dem man leben kann. Denn für die große Mehrheit der Männer und Frauen, die auf dieser Welt geboren werden, liegt die Frage nicht darin, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, sondern ob es eines davor gibt.
Das Wissen, dass dieses Leben flüchtig ist, dass wir und unsere Liebsten nicht immer da sein werden, sollte uns – weit davon entfernt, Bestürzung hervorzurufen – mit leidenschaftlicher Lebensfreude erfüllen und dem brennenden Wunsch, das Beste daraus zu machen. Wir wissen, dass jede Blume nur blüht, um zu vergehen und in gewisser Weise verleiht ihr das Verblühen eine tragische Schönheit. Aber wir wissen auch, dass die Blüte der Natur sich jedes Frühjahr erneuert und dass der ewige Kreislauf des Lebens und Todes, der die Essenz jeden Lebens darstellt, es ist, was dem Leben seinen bittersüßen Geschmack verleiht und dass Komödie und Tragödie, Lachen und Weinen dazu beitragen, das Leben zu dem reichhaltigen Mosaik menschlicher Erfahrungen zu machen, das es ist.
Das ist unser unausweichliches Schicksal als Menschen. Denn wir sind Menschen, keine Götter, und müssen unsere menschliche Verfasstheit annehmen. Wir haben gegenüber den Göttern den Nachteil, sterblich zu sein. Aber wir haben ihnen gegenüber auch den großen Vorteil, dass wir tatsächlich in Fleisch und Blut existieren, wohingegen sie nur körperlose Hirngespinste der Phantasie sind.
Pessimistische Schlussfolgerung?
Der Materialismus als Philosophie hat eine lange und ehrenwerte Geschichte. Die frühen griechischen Philosophen Ioniens waren alle Materialisten. Laut Plato wurde Anaxagoras, einer der bemerkenswertesten unter ihnen und Tutor des Perikles, des Atheismus beschuldigt. Protagoras (ca. 415 v. Chr.) meint mit der den Sophisten eigenen Ironie: „Was die Götter betrifft, ist es mir nicht gelungen, Wissen über ihre Existenz oder Nichtexistenz oder die Form ihres Daseins zu erlangen; denn viele Dinge behindern die Erlangung dieses Wissens, darunter die Unkenntlichkeit des Subjekts und die Kürze des menschlichen Lebens.“ (zitiert nach A.C. Bouquet: Comparative Religion. S. 105f). Diagoras, ein Zeitgenosse, ging noch weiter. Als jemand seine Aufmerksamkeit auf die Votivtafeln in einem Tempel lenkte, die von dankbaren Überlebenden eines Schiffbruchs geopfert worden waren, antwortete er: „Jene, die ertrunken sind, haben keine Votivgaben gestiftet.“
Kennzeichnet ein materialistisches Verständnis eine pessimistische oder nihilistische Sichtweise des Lebens? Im Gegenteil. Die erste Bedingung für ein volles und befriedigendes Leben auf Erden ist, dass wir eine wahrhafte Sicht der Dinge annehmen. Eine der erhabensten und menschlichsten Sichtweisen des Lebens, die je dargelegt worden sind, ist die Philosophie des Epikur – jenes Genie der Antike, das gemeinsam mit Demokrit und Leukipp entdeckte, dass die Welt aus Atomen besteht. Epikur (341 – 270 v. Chr.), dessen Andenken Jahrhunderte lang von der Kirche verleumdet worden ist, wollte die Menschheit von der Qual der Angst und insbesondere der Todesangst befreien. Ein heiterer und optimistischer Blick auf das Leben war ihm eigen. Am Tag seines eigenen Todes soll er gesagt haben: „Es ist ein guter Tag zu sterben.“
Die Stoiker verkündeten eine Art universeller Bruderschaft, in der alle Mitglieder des großen Gemeinsamen wären und glaubten, dass, nachdem das Universum unzerstörbar ist, die Seelen aller Menschen gemeinsam, aber nicht als Individuen den Tod überdauern würden. Da uns nichts geschehen kann als was im Verlauf und in der Beschaffenheit der Natur liegt, braucht der Tod nicht gefürchtet zu werden. Es war ein Stoiker, der erstmals „Alle Menschen sind frei“ aussprach. Der Stoizismus hatte über die Schriften Epiktets und Marc Aurels auf das Christentum einen großen Einfluss. Doch die Stoiker glaubten überhaupt nicht an Gott (sie benutzten das Wort theos, aber in einem völlig anderen Sinn als beim christlichen Begriff Gott ) und vertraten, dass weise Menschen Zeus gleichgestellt sind. Ihr Anliegen lag nicht darin, in den Himmel zu gelangen, sondern ein gutes Leben zu führen, das sie apatheia nannten, was aber nicht Apathie bedeutete, sondern Kontrolle über die Gefühle.
In Wirklichkeit standen die meisten Menschen der Antike der Frage, was mit ihnen nach ihrem Tod geschehen würde, offenbar ziemlich gleichgültig gegenüber. Das „Leben“ nach dem Tod war für die Griechen ein besonders wenig einladender Ort, eine graue, düstere Welt plappernder Geister. Die Ägypter hatten ein freundlicheres Bild der Nachwelt, in der es Essen und Wein, Musik und Tanz geben sollte und in der die Bedürfnisse eines jeden von einem Heer von Sklaven erfüllt würden. Jedoch war die Nachwelt für die Ägypter ein Monopol der herrschenden Klasse, deren monumentale Gräber denselben schaustellerischen Reichtum und Luxus zeigen, den sie im Leben genossen hatten. Auch in China und allen anderen frühen Klassengesellschaften war die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod auf die Aristokratie, die Häuptlinge, die Könige, die Krieger beschränkt. Sie war nur ein weiteres Privileg, das die herrschende Schicht genoss, eine Fortsetzung jener Vorrechte, die ihnen während ihres Lebens zugestanden hatten – Privilegien, von denen die Massen strikt ausgeschlossen waren.
Unter dem Christentum wird der Himmel endlich demokratisiert – alle werden zugelassen, allerdings gegen Entgelt. Dieses Entgelt liegt mehr oder weniger darin, das eigene Leben auf dieser Welt in Erwartung einer besseren Welt zu opfern. Die Reichen dieser Welt werden mit furchtbaren Strafen für ihre Sünden bedroht. Das mag so manchen beunruhigt haben. Aber im Allgemeinen betrachtet die herrschende Klasse die Möglichkeit künftigen Höllenfeuers mit überraschendem Gleichmut und zieht es vor, sich dem beruhigenden Genuss ihrer Reichtümer und der guten Dinge im Leben zu widmen und die Zukunft sich selbst zu überlassen. Für die Besitzlosen ist die passive Akzeptanz einer Welt voller Schmerz und Leid in diesem Tal der Tränen der Preis für das Versprechen künftiger Glückseligkeit über den Tod hinaus. Dieses Versprechen ließ unzählige Millionen von Männern und Frauen der Vergessenheit anheim fallen, nachdem sie sich in einem Leben endloser harter Arbeit und geistiger Qualen erschöpft hatten.
Einigen Menschen mag das gerecht erscheinen. Uns erscheint es mehr als unverhüllter Betrug. „Nehmt dem gemeinen Volk diese Hoffnung, was bliebe ihnen übrig?“ So argumentieren die wohlgenährten Sophisten. Die Antwort lautet: sie hätten die Wahrheit - und die Bibel lehrt uns, dass die Wahrheit frei macht. So lange die Augen der Menschen himmelwärts gerichtet sind, werden sie außerstande sein, ihren Blick den wahren Problemen und ihren wahren Feinden, die sie quälen, zuzuwenden. Sie werden die Aussicht auf wahres Glück und die Erfüllung ihres menschlichen Potenzials für die falsche Perspektive eines nicht existenten Lebens nach dem Tod aufgeben. Das heißt, sie werden sich als Menschen genauso opfern wie die heiligen Blutopfer der alten Religionen aus ferner Vergangenheit. Echtes Leben wird für den Segen einer Illusion zerstört.
Die Lebensfreude, die das wahre Kennzeichen des philosophischen Materialismus ist, muss den leidenschaftlichen Wunsch mit sich tragen, die Welt, in der wir leben, zu verändern und das Leben unserer Mitmenschen zu verbessern. Wo uns die Religion lehrt, den Blick zum Himmel zu heben, lehrt uns der Marxismus, für ein besseres Leben auf Erden zu kämpfen. MarxistInnen glauben, dass Menschen dafür eintreten sollen, ihr Leben zu verändern und eine wahrhaft menschliche Gesellschaft, in der die Menschheit zu ihrer wahren Gestalt gelangen kann, zu errichten. Wir glauben, dass die Menschen nur ein Leben haben und sich in diesem schön einrichten und es der Selbstverwirklichung widmen sollten. Man kann sagen, dass wir für ein Paradies in diesem Leben kämpfen, denn wir wissen, dass es kein anderes gibt. In dem Ausmaß, in dem wir für eine lebenswerte Welt leben und kämpfen, bereiten wir eine bessere Zukunft für unsere Kinder und Enkelkinder vor. Wenngleich jedes Individuum nur eine begrenzte Lebensspanne hat, besteht die Menschheit weiterhin und unser individueller Beitrag zur Sache der Menschheit kann somit fortdauern, auch wenn wir nicht mehr sind. Wir können Unsterblichkeit anstreben, nicht indem wir die Naturgesetze leugnen, sondern in der Erinnerung künftiger Generationen – die einzige Unsterblichkeit, nach der Sterbliche streben dürfen.
Es gibt also einen tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Marxismus und allen Formen von Religion. Bedeutet das, dass wir einem gemeinsamen Kampf und gemeinsamer Arbeit für eine bessere Welt nicht zustimmen können? Überhaupt nicht. Jeder hat das Recht, an seiner Meinung über das Schicksal, das uns erwartet, nachdem wir „den Geist aufgegeben haben“, festzuhalten. Diese Meinungsverschiedenheit – so wichtig sie aus einem philosophischen Blickwinkel auch ist – soll uns in keiner Weise davon abhalten, im Kampf gegen irdische Unterdrückung und Ungerechtigkeit vereint aufzutreten. Es ist nur eine Frage der Übereinstimmung hinsichtlich der Grundlage der sozialistischen Transformation der Gesellschaft und der Mittel, mit denen das in die Praxis umgesetzt werden kann. Wir werden genug Zeit haben, die übrigen Angelegenheiten zu diskutieren.
Die Welt der Religion ist eine mystifizierte Welt, ein verzerrter Abdruck der Wirklichkeit. Aber wie alle Ideen hat auch diese ihren Ursprung in der realen Welt. Mehr noch, sie ist Ausdruck der Widersprüche der Klassengesellschaft. Diese Tatsache ist am Beispiel der meisten antiken Klassengesellschaften sehr deutlich nachzuweisen.
Der babylonische Gott Marduk begründete die Schaffung des Menschen zum Dienste an den Göttern mit der Absicht ihrer „Befreiung“ – das heißt, zum Vollzug der niederen Dienste des Tempelrituals und der Versorgung der Götter mit Nahrung. Hier finden wir in der Religion die Widerspiegelung der Realität der Klassengesellschaft, in der die Menschheit in zwei Klassen getrennt ist; die unberührbaren Götter in der Höhe (die herrschende Klasse) und die „Holzschläger und Wasserträger“ (die arbeitenden Klassen). Ihre Absicht liegt darin, eine ideologische (religiöse) Rechtfertigung der Versklavung der Mehrheit durch die Minderheit bereitzustellen. Es war ein sehr realer Bestandteil des Lebens aller antiken (und modernen) Gesellschaften, dass die Priesterkaste von der Notwendigkeit zur Arbeit befreit war und als physische Repräsentanten der Götter auf Erden tatsächlich sehr reale Privilegien genossen.
S.H. Hooke, der über die babylonischen Schöpfungsmythen (von denen sich das Erste Buch Genesis ableitet) schreibt, bemerkt:
„Wir haben schon gesehen, dass der Mythos von Lahar und Ahnan mit der Erschaffung des Menschen zum Dienste Gottes endet. Ein anderer Mythos (...) beschreibt die Art und Weise, wie der Mensch geschaffen worden ist. Obwohl die sumerischen Mythen beträchtlich vom Gehalt der babylonischen Schöpfungsmythen abweichen, stimmen beide Versionen darin überein, wofür der Mensch geschaffen wurde, nämlich für den Dienst an Gott, um den Boden zu bestellen und die Götter davon zu befreien, für ihr Dasein arbeiten zu müssen.“ (S.H. Hooke: Middle Eastern Mythology. S. 29).
Somit entsteht Religion im engeren Sinn (also anders als Magie, Totemismus und Animismus der früheren, klassenlosen Gesellschaften) aus der Teilung der Gesellschaft in antagonistische Klassen und ist Ausdruck der unlösbaren Widersprüche, die daraus erwachsen. In der ersten Periode blieb eine schwache Erinnerung an eine frühere Zeit, in der alle gleich waren, erhalten. Das tritt in der Mythologie in der Idee des „Goldenen Zeitalters“ hervor und erscheint in der Bibel in Gestalt des Garten Eden. Diese Ideen drücken einen gewissen Verlust und eine Sehnsucht nach einer verlorenen Welt der Glückseligkeit aus. Die Religion versucht diesen Widerspruch zu überwinden, seinen Stachel zu mildern, Männer und Frauen mit der Realität des Leids und der Ausbeutung zu versöhnen, indem sie sie als Willen Gottes darstellt oder als Ergebnis des Versagens des Menschen im Gehorsam gegen Gott oder beides. Unterordnung! Gehorsam! Opfer! Dann ist alles in Ordnung. Die gewaltsame Spaltung der Menschheit durch sie selbst – diese Entfremdung des Menschengeschlechts kann nur durch die Abschaffung der Klassengesellschaft und die Wiedererrichtung wahrhaft menschlicher Bindungen zwischen den Menschen überwunden werden.
Diese psychologische Beziehung zwischen Menschen und den Gottheiten, die sie selbst geschaffen haben, erzählt uns viel über die wahren Umstände der Menschheit. Es ist kein Geheimnis, dass die Gottheiten einer Gesellschaft eine bloße Reflexion dieser ihrer Gesellschaft, ihrer Produktionsweise, ihrer sozialen Beziehungen, ihrer Moral und Vorurteile sind. Wie wir in „Aufstand der Vernunft“ schreiben: „Nicht Gott war es, der den Menschen nach seinem Ebenbild schuf, sondern im Gegenteil waren es Männer und Frauen, die Götter nach ihrem Ab- und Ebenbild erschufen. Ludwig Feuerbach meinte einmal: Hätten Vögel eine Religion, würden ihre Götter Flügel tragen.“ (S. 49)
Die Religion ist ein Traum, in dem unsere eigenen Vorstellungen und Gefühle uns als eigenständige Existenzen, Wesen außerhalb unserer selbst erscheinen. Das religiöse Bewusstsein unterscheidet nicht zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven – es hat keine Zweifel; es hat die Möglichkeit, nicht andere Dinge als sich selbst zu erkennen, sondern seine eigenen Konzepte außerhalb seiner selbst wahrzunehmen.
Das wurde schon von Leuten wie Xenophanes von Kolophon (565 – 470 v. Chr.) verstanden, der schrieb „Homer und Hesiod haben den Göttern alles zugeschrieben, was bei Menschen schändlich ist und getadelt wird: zu stehlen, die Ehe zu brechen und sich gegenseitig zu betrügen. ... Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare. Aber wenn Rinder und Pferde ... malen und Bildwerke vollenden könnten, wie das die Menschen tun, dann würden die Pferde die Göttergestalten den Pferden und die Rinder den Rindern ähnlich malen...“ (zit. in: ebd., S. 49)
Aber diese Götter sind nicht wirklich Kopien der Realität, sondern einer Realität, die durch die Brille der Religion gesehen wird – eine entfremdete, mystische, verkehrte Welt, in der alles auf dem Kopf steht. Sie sind alles, was der Mensch gern wäre und nicht ist. Sie besitzen alle Eigenschaften, die der Mensch gern hätte und nach denen er strebt, aber bei deren Erlangung er unweigerlich scheitern muss. In diesem Sinn repräsentiert Religion eine Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Aber dieses religiöse Gefühl beinhaltet noch ein anderes Element: eine tiefe Sehnsucht nach einer besseren Welt und einem besseren Leben. Wenn der hungrige und unterdrückte Bauer seinen Gott anruft, ruft er nach Gerechtigkeit und wendet sich somit gegen die Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Unmenschlichkeit dieser Welt.
Der Glaube an die Gleichheit und Gemeinschaft der Gläubigen wird oft in Form des primitiven Kommunismus ausgedrückt, wie bei den frühen ChristInnen, die wir zuvor erwähnten. Die Massenbewegungen, die vom Christentum und dem Islam in ihrer jeweiligen Frühphase ausgingen, erschütterten die Welt. Doch mangels der notwendigen Entwicklung der Produktivkräfte war die Menschheit dazu gezwungen, weitere zweitausend Jahre unter der Klassensklaverei zu schuften und zu leiden. Der Traum von Gleichheit und Brüderlichkeit war zerbrochen. Hinter den Gutsbesitzenden – und später den Bourgeois – stand nicht nur der irdische Monarch mit seinen Soldaten, der Polizei und den Gefängniswärtern, sondern auch die geistigen Wächter. Widerstand gegen den Status quo wurde nicht nur mit Feuer und Schwert bestraft, sondern auch mit Exkommunikation und ewiger Folter. Verzweifelt über die Unmöglichkeit, Gerechtigkeit in der realen Welt der Menschen zu erfahren, flüchtet man sich in den Gedanken, dass Gerechtigkeit auf der anderen Seite des Grabes gefunden werden könnte.
Wir sprechen hier von Männern, weil in der großen Mehrheit der geschriebenen Geschichte die Gesellschaft von Männern dominiert worden ist und Frauen auf die Rolle von Sklavinnen der Sklaven reduziert worden sind. Der Mann war also der Diener seines Herrn, seines Königs und seines Gottes, und die Frau war die Dienerin ihres Gemahls – ihres Herrn und Meisters. Für viele Frauen war der Trost der Religion der einzige Weg, das aus ihrer Sklaverei erwachsende Leid zu lindern. Das erklärt, warum in so vielen Gesellschaften die Frauen von Religion angezogen werden. Ohne sie wäre ihr Leben äußerst unerträglich. Sie ist wie eine Droge, die die Sinne betäubt und sie gegenüber Schmerz unempfindlich macht. Aber sie entfernt nicht die Ursache des Schmerzes oder verbessert das Los der Frauen. Im Gegenteil. Obwohl das Christentum in seinen Anfängen den Frauen neue Hoffnung gab und von seinen römischen Feinden verächtlich als „Religion der Sklaven und Frauen“ tituliert wurde, ist es in der Praxis von einem beträchtlichen Frauenhass geprägt. Die ursprüngliche Sünde des Menschen war – wie man sagt - von einer Frau, Eva, verursacht worden.
Die natürlichsten Beziehungen zwischen Männern und Frauen wurden unterdrückt und als Todsünde verflucht. Der Hl. Augustinus beschreibt den Sexualakt als Messe der Verderbnis. Der geeignete Platz einer Frau ist das Leid im Dienst eines Mannes, was bildlich von der kummervollen Jungfrau untermalt wird. Auf dieser Erde ist kein Glück zu erwarten.
Über Generationen hat die Religion dem unglücklichen Schicksal der Frauen ihren Stempel aufgedrückt. Was für das Christentum gilt, ist für andere Religionen mindestens genauso wahr. Es gibt ein altes jüdisches Gebet: „Gesegnet seiest Du, o Herr, der du mich nicht als Frau geschaffen hast.“ In einigen muslimischen Ländern hat die Unterdrückung der Frauen eine extreme Form angenommen – etwa im Iran oder noch schlimmer in Afghanistan. In Indien hat die Hindu-Tradition Jahrhunderte lang Witwen dazu verurteilt, sich auf dem Begräbnisscheiterhaufen ihrer Ehemänner zu opfern. Die Emanzipation der Frauen von uralter Sklaverei steht somit im direkten Gegensatz zur Religion.
In den meisten großen Weltreligionen, Christentum, Islam, Buddhismus, Sikhismus gab es – zumindest in ihren Ursprüngen - ein Element der Kritik an der Welt und ihren Werken, in Verbindung mit einem Traum von einer besseren Welt, in der es keine Reichen oder Armen gäbe, keine Unterdrückenden oder Unterdrückten, in der alle Männer und Frauen Brüder und Schwestern wären. Sowohl in christlichen Kirchen als auch in islamischen Moscheen wird die Illusion einer „Gemeinschaft“ und Brüderlichkeit aller Gläubigen, dass alle „gleich vor Gott“ wären usw. aufrecht erhalten. Doch am nächsten Tag widmen sich reiche ChristInnen oder islamische Bosse unverändert der Ausbeutung ihrer werktätigen Mitgläubigen. Wird dieser offene Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis der Religion angesprochen, schütteln sie traurig ihre Köpfe und murmeln etwas über die Unvollkommenheit der Menschen in dieser sündhaften Welt, was für die Arbeitenden nur wenig Trost beinhaltet.
Ursprünge des Christentums
Die Rolle der Religion in der Gesellschaft hat sich über die Jahrhunderte und Jahrtausende mehrere Male geändert. Es ist wichtig, dass wir den Ursprung und die historische Entwicklung der großen Religionen verstehen. Ursprünglich waren sowohl das Christentum wie auch der Islam revolutionäre Bewegungen der Armen und Unterdrückten. Zum Beispiel das Christentum: Etwa vor 2000 Jahren organisierten die frühen ChristInnen eine Massenbewegung der ärmsten und geknechtetsten Teile der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass die Römer die ChristInnen als „Bewegung der Sklaven und Frauen“ bezeichneten. Wie Engels schrieb: „Die Geschichte des Urchristentums bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt, ihre Anhänger geächtet, unter Ausnahmegesetze gestellt, die einen als Feinde des Menschengeschlechts, die andern als Reichsfeinde, Feinde der Religion, der Familie, der gesellschaftlichen Ordnung. Und trotz aller Verfolgungen, ja sogar direkt gefördert durch sie, dringen beide siegreich, unaufhaltsam vor.“ (Friedrich Engels, Zur Geschichte des Urchristentums)
Dass die frühen ChristInnen auch KommunistInnen waren, wird beim Lesen der Schriften der Apostel deutlich. Jesus selbst bewegte sich unter den Besitzlosen und Enteigneten und griff oft die Reichen an. Es ist kein Zufall, dass seine erste Handlung beim Einzug in Jerusalem darin bestand, die Geldwechsler aus dem Tempel zu vertreiben. Er sagte auch, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge als dass ein Reicher das Himmelreich Gottes sähe (Lukas, 18:24). Die frühen ChristInnen waren auf Seiten der Armen und ergriffen Partei gegen die Reichen und Mächtigen.
Im Brief des Jakobus lesen wir:
„Ihr aber, ihr Reichen, weint nur und klagt über das Elend, das euch treffen wird. Euer Reichtum verfault und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber verrostet; ihr Rost wird als Zeuge gegen euch auftreten und euer Fleisch verzehren wie Feuer. Noch in den letzten Tagen sammelt ihr Schätze. Aber der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere. Ihr habt auf Erden ein üppiges und ausschweifendes Leben geführt und noch am Schlachttag habt ihr euer Herz gemästet. Ihr habt den Gerechten verurteilt und umgebracht, er aber leistete euch keinen Widerstand. Darum Brüder, haltet geduldig aus bis zur Ankunft des Herrn!“ (Jakobus 5:1-7).
Das ist die Stimme des Klassenkampfes, ohne wenn und aber. Es gibt viele solche Stellen in der Bibel.
Der Kommunismus der frühen ChristInnen zeigt sich auch in der Tatsache, dass in ihren Kreisen aller Reichtum gemeinschaftlich verwaltet wurde. Jeder, der sich anschließen wollte, hatte zuerst seine oder ihre weltlichen Güter abzugeben. In der Apostelgeschichte lesen wir: „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft („koinonia“ – d.h. Kommunismus, Anm.), am Brechen des Brotes und an den Gebeten (...) Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel wie er nötig hatte.“ (Apostelgeschichte 2:42-45)
Und noch einmal: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. (...) Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, brachten den Erlös und legten ihn den Aposteln zu Füßen. Jedem wurde davon so viel zugeteilt, wie er nötig hatte.“ (Apostelgeschichte 4:32-35)
Natürlich hatte dieser Kommunismus einen etwas naiven Charakter. Das gilt nicht für die Männer und Frauen dieser Zeit, die sehr mutige Menschen waren, die sich nicht davor fürchteten, ihr Leben im Kampf gegen den monströsen römischen SklavInnenstaat zu opfern. Doch die wahre Errungenschaft des Kommunismus (also die klassenlose Gesellschaft) war zu dieser Zeit unmöglich, weil die materiellen Bedingungen dafür fehlten. Marx und Engels verliehen dem Kommunismus erstmals einen wissenschaftlichen Charakter. Sie erklärten, dass die wahre Emanzipation der Massen vom Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte (Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und Technologie) abhängt, das die nötigen Bedingungen für eine allgemeine Verringerung des Arbeitstags und den Zugang zur Kultur für alle mit sich bringt, was den einzigen Weg zur Veränderung des Denkens und Verhaltens der Menschen über- und zueinander darstellt.
Die materiellen Bedingungen zur Zeit des frühen Christentums waren nicht ausreichend fortgeschritten, um eine solche Entwicklung zu erlauben und daher verblieb der Kommunismus der frühen ChristInnen auf einem primitiven Niveau – dem Niveau der Konsumption (das Teilen von Nahrung, Kleidung etc.), während der echte Kommunismus auf dem kollektiven Eigentum der Produktionsmittel beruht. Mangels eines wissenschaftlichen Verständnisses für die Entwicklung der Gesellschaft waren die frühen ChristInnen trotz ihres enormen revolutionären Geistes und Heldentums nicht im Stande, ihre Ideale umzusetzen. Ihr Kommunismus hatte utopischen Charakter und war zum Scheitern verurteilt.
Christentum und Kommunismus
In den ersten Jahren der Kirche wurden die ursprünglichen – d.h. die kommunistischen – Anteile der Bewegung durch ihre RepräsentantInnen fortgesetzt wiedergegeben. Der Hl. Clemens schrieb: „Der Gebrauch aller Dinge, die auf dieser Welt bestehen, soll für alle gemeinschaftlich erfolgen. Nur die deutliche Ungleichheit führt dazu zu sagen ‚Das gehört mir, das dir’. Hier liegt der Ursprung des Streits unter den Menschen.“
Das ist eine richtige Beobachtung und stellt klar fest, dass der Ursprung des Klassenkampfes („Streit unter den Menschen“) das Bestehen des Privateigentums ist. Die Abschaffung des Streits unter den Menschen setzt somit die Auflösung des Privateigentums voraus. Eine ähnliche Idee wurde vom Hl. Basilius dem Großen ausgedrückt: „Was nennt ihr ‚euer’? Wovon könnt ihr sagen, dass es euch gehört? Von wem habt ihr es erhalten? Ihr sprecht und handelt wie jemand, der frühzeitig ins Theater geht und sich ohne Hindernis die für die Öffentlichkeit bestimmten Sitzplätze aneignet und sich deren Eintritt zur üblichen Zeit entgegenstellt und sie davon abhält, selbst Platz zu nehmen und so das Gut zu seinem alleinigen Nutzen fordert, das in Wirklichkeit zum gemeinsamen Gebrauch bestimmt ist. Und in genau dieser Weise handeln die Reichen.“
Ähnlich der Hl. Gregor: „Wenn also jemand sich zum Herrn über allen Wohlstand machen will, um ihn zu besitzen und seine Brüder bis ins dritte oder vierte Glied davon ausschließen will, dann ist solch ein Elender kein Bruder mehr, sondern ein unmenschlicher Tyrann, ein grausamer Barbar oder eher noch eine wilde Bestie, deren Maul immer geöffnet ist, um zur eigenen Sättigung die Nahrung seiner Gefährten zu verschlingen.“
Und der Hl. Ambrosius: „Die Natur stellt ihren Reichtum für alle gleichermaßen zur Verfügung. Gott hat in seiner Gnade alle Dinge geschaffen, damit alle Lebewesen sie gemeinsam genießen können und damit die Erde zum gemeinsamen Besitz aller wird. Es ist die Natur selbst, die das Recht der Gemeinschaft hervorgebracht hat, wohingegen es nur ungerechte Usurpation ist, die das Recht des Privateigentums geschaffen hat.“
Und der Hl. Gregor der Große: „Die Erde, die sie hervorgebracht hat, ist allen gemein und daher gehört die Frucht, die die Erde hervorbringt, unterschiedslos allen.“ – der Hl. Chrysostomos fügte hinzu: „Der reiche Mann ist ein Dieb.“
Diese Zeile sollten ausreichen, um die revolutionären Wurzeln des Christentums in seinen Anfängen zu illustrieren. Diese frühen ChristInnen waren bereit, die grässlichsten Qualen zur Verteidigung ihres Glaubens auf sich zu nehmen und widersetzten sich dem Staat und der herrschenden Klasse und kamen in der Arena um. Der Grund für diese wütende Verfolgung lag darin, dass diese Bewegung der Armen und Enteigneten eine Bedrohung für die bestehende Ordnung darstellte. Doch keine dieser Methoden konnte die Bewegung zerstören, die aus dem Blut ihrer MärtyrerInnen neue Stärke erlangte.
Doch mangels einer materiellen Basis für die Einführung einer klassenlosen Gesellschaft wandelte sich allmählich alles in sein Gegenteil. Unter den vorherrschenden Bedingungen geriet die Führung der Kirche - beginnend bei den Bischöfen, die die Schatzmeister waren - unter den Druck der herrschenden Klasse und des Staats und bewegte sich immer mehr vom ursprünglichen kommunistischen Glauben der Bewegung weg. Nachdem die herrschende Klasse die Unmöglichkeit der Niederschlagung der Christenheit durch Unterdrückung erkannt hatte, änderte sie ihre Taktik. Wie die oberen Schichten der Kirche von Kaiser Konstantin korrumpiert wurden, kann aus den folgenden Worten des Historikers der frühen Kirche, Eusebius, ersehen werden, der das Konzil von Nizäa 325 n. Chr., dem der Kaiser selbst „wie ein Botschafter Gottes“ vorstand, schildert:
„Die Umstände des Banketts übertreffen in ihrer Herrlichkeit jede Beschreibung. Abteilungen von Leibwächtern und anderen Truppen umstellten den Palasteingang mit gezückten Schwertern und mitten durch diese schritten die Männer Gottes ohne Angst bis ins Innerste der kaiserlichen Gemächer. Einige waren die Tischgefährten des Kaisers, andere lagen auf Liegen an der Seite. Man hätte denken können, dass das ein Bild des Königreichs Christi war, mehr ein Traum als Wirklichkeit.“ (T. Ware: Die Orthodoxe Kirche. S. 27)
Diese Methoden sind SozialistInnen und GewerkschafterInnen von heute nur allzu bekannt. Es sind genau dieselben Methoden, mit denen GewerkschaftsführerInnen unter den Einfluss bürgerlicher Ideen gebracht, korrumpiert und ins System absorbiert werden. Die Spitzen der Bewegung werden zu teuren Diners und Partys eingeladen, wo sie Kontakt mit den Reichen und Berühmten aufnehmen. Seit dem Konzil von Nizäa war die Kirche der stärkste Förderer von Reichtum, Privilegien und Unterdrückung.
Die Gewinne für das Reich aus diesem Ausverkauf waren offenkundig. Die frühen ChristInnen weigerten sich, den Staat anzuerkennen oder in der Armee zu dienen. Das hatte sich nun geändert. Die Kirche wurde einer der Hauptpfeiler des Staates und verfolgte aufs Schärfste jedeN, der/die die neuen Lehren in Frage stellte. Als Arius von Alexandria den Nizäa-Glauben zurückwies, fielen seine Gefolgsleute, die ArianerInnen, dem Schwert zum Opfer. Über 3.000 ChristInnen wurden von MitchristInnen getötet – mehr als in drei Jahrhunderten römischer Verfolgung. Mit solchen Mitteln wurde aus der Kirche der Armen und Unterdrückten die Haupttriebkraft für deren Versklavung.
Wie man Sünden vergibt... und Geld macht
Mit der Zeit wurde die christliche Kirche über ihre Führungsschicht in den Staat absorbiert. Während der gesamten folgenden Geschichte zog die Kirche Vorteil aus menschlicher Schwäche und der Angst vor dem Tod, indem sie das Bewusstsein der Menschen versklavte und allmählich enorme Macht und großen Reichtum gewann, sehr im Widerspruch zu den Lehren des armen galileischen Rebellen, in dessen Namen sie zu sprechen behauptet. Von einer revolutionären Bewegung der Armen und Unterdrückten wurde sie zu einem Bollwerk der Reaktion und das Sprachrohr der Reichen und Mächtigen – eine Situation, die bis heute anhält.
Die Geschichte der Kirche ist die völlige und absolute Negation ihrer frühen Ideen, Glaubenssätze und Traditionen. Über die Geschichte des Papsttums im Mittelalter und in der Renaissance – eine den Vergleich suchende Chronik der Infamie und des Verbrechens – sind unzählige Bände geschrieben worden. Wir beschränken uns hier auf nur ein Beispiel, das die wahre Lage zusammenfasst und den Abgrund zeigt, der die reale Situation von den scheinheiligen Mythen trennt. Im Jahr 1517 führte Papst Leo X. die Taxa Camerae ein, um Vergebung zu verkaufen, wobei man die eigene Seele um einen bescheidenen Geldbetrag retten konnte. Es gab kein noch so verwerfliches Verbrechen, von dem man nicht durch dieses einfache Mittel losgesprochen werden konnte. In seinen 35 Artikeln ist zu lesen:
„1. Kirchenangehörige, die fleischlich Sünden begehen, sei es mit Nonnen, mit Kusinen, Nichten oder Töchtern (sic!) oder, mit einem Wort, sonst einer Frau, sollen durch die Zahlung von 67 Pfund und 12 Schillingen Vergebung finden.
2. Wenn ein Kirchenangehöriger zusätzlich zur Sünde der Unzucht auch Absolution von Sünden gegen die Natur oder der Barbarei sucht, muss er 219 Pfund und 15 Schillinge bezahlen. Wenn er nur unnatürliche Sünden mit Knaben und Tieren, aber nicht mit Frauen getrieben hat, soll er nur 131 Pfund und 15 Schillinge bezahlen.
3. Der Priester, der eine Jungfrau defloriert, soll 2 Pfund und 8 Schillinge zahlen.
4. Die Nonne, die die Würde der Äbtissin zu erhalten wünscht und sich einem oder mehreren Männern gleichzeitig oder in Folge hingegeben hat, sei es in ihrem Kloster oder außerhalb, soll 131 Pfund und 15 Schillinge zahlen. [...]
7. Die ehebrecherische Frau, die Absolution sucht, um von allen Verfahren befreit zu werden und umfassende Gewährung zur Fortsetzung ihrer verbotenen Beziehungen zu haben, soll dem Papst 87 Pfund und 3 Schillinge zahlen. Genauso soll der Ehemann dieselbe Summe zahlen, wenn er mit seinen Kindern Inzest begangen hat, soll er eine zusätzliche Gewissenszahlung von 6 Pfund leisten.
8. Absolution und Sicherheit vor Verfolgung für die Verbrechen der Vergewaltigung, Räuberei oder Brandstiftung soll den Schuldigen 131 Pfund und 7 Schillinge kosten.
9. Absolution für einfachen Mord, der durch einen Laien begangen worden ist, soll mit 15 Pfund und 3 Pence festgesetzt werden.
10. Wenn der Mörder den Tod von zwei oder mehr Männern am selben Tag verursacht hat, soll er zahlen, als hätte er nur einen getötet.
11. Der Ehemann, der seine Frau misshandelt, soll der Truhe des Altarraums 3 Pfund und 4 Schillinge bezahlen; wenn er sie getötet hat, soll er 17 Pfund und 15 Schillinge zahlen und wenn er sie getötet hat, um eine andere zu ehelichen, soll er zusätzlich 32 Pfund und 9 Schillinge zahlen. Jene, die dem Ehemann geholfen haben, das Verbrechen zu begehen, soll durch die Zahlung von je 2 Pfund Vergebung finden.
12. Wer sein Kind ertränkt hat, soll 17 Pfund und 15 Schillinge zahlen [was nur zwei Pfund mehr sind als für die Tötung eines Fremden], und wenn der Vater es mit dem Einverständnis der Mutter getötet hat, sollen sie 27 Pfund und 1 Schilling für die Absolution zahlen.“
Auch Abtreibung konnte leicht vergeben werden:
„13. Die Mutter, die ihr eigenes Kind zerstört, indem sie es aus ihrem Leib entfernt, und der Ehemann, der zu diesem Verbrechen beigetragen hat, sollen jeweils 17 Pfund und 15 Schillinge zahlen. Wer Abtreibung eines Kindes, das nicht sein eigenes ist, ermöglicht, soll 1 Pfund weniger zahlen.
14. Für den Mord an einem Bruder oder einer Schwester, Mutter oder Vater, sollen 17 Pfund und 5 Schillinge bezahlt werden.“
Wenn ein Bischof oder Prälat der höheren Ränge ermordet wird, steigt der Preis drastisch – auf 131 Pfund und 14 Schillingen für den ersten Anschlag, die Hälfte dieses Betrags für die weiteren (15). Wenn der Mörder „viele Priester bei verschiedenen Gelegenheiten getötet hat, soll er 137 Pfund und 6 Schillinge für den ersten Mord und die Hälfte für die weiteren zahlen“ (16)
Aber weit schwerwiegender als Mord, Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch war das ruchlose Verbrechen der Gotteslästerung – d.h. der Vertretung von Ideen, die sich von jenen der offiziellen Kirche unterschieden. Sogar wenn sich einE HäretikerIn bekehrt, muss er oder sie noch die Summe von 269 Pfund zahlen, „der Sohn eines Gotteslästerers, der verbrannt oder erhängt oder auf andere Weise exekutiert worden ist, kann nur durch die Zahlung von 218 Pfund, 16 Schillingen und 9 Pence rehabilitiert werden.“ (19)
Die Liste setzt sich fort mit Betrug, Schmuggel, Nichtbezahlung von Schulden, Genuss von Fleisch an Feiertagen, unehelichen Söhnen von Priestern, die die heiligen Weihen empfangen möchten und sogar Eunuchen, die Priester werden wollen (die gemäß Punkt 33 nicht weniger als 310 Pfund und 16 Schillinge zu zahlen hatten).
Trotz dieser zynischen Liste der Infamie wird Papst Leo X. von katholischen HistorikerInnen als Protagonist der „brillantesten und vielleicht gefährlichsten Periode des Pontifikats in der Geschichte der Kirche“ beschrieben. (siehe P. Rodriguez: Mentiras fundamentales de la Iglesia catolica. Barcelona 1997: Ediciones B., Anhang S. 397ff)
Religion und Revolution
In jedem Land hat sich die Kirche über die Jahrhunderte auf die Seite der Unterdrückenden gegen die Unterdrückten geschlagen. Die englischen Landbesitzenden handelten in enger Zusammenarbeit mit den Predigenden der Protestantischen Kirche. In Frankreich, Spanien und Italien waren die Priester die demütigen Diener der Grundbesitzenden und später der KapitalistInnen. Die Klassenwidersprüche in der Gesellschaft treten oft in religiöser Gestalt auf, was niemanden, der mit historischem Materialismus vertraut ist, überraschen kann.
Über dieses Thema schrieb Trotzki: „Religiöse wie auch alle anderen Ideen, die aus dem Boden der materiellen Bedingungen des Lebens und vor allem auf dem Boden der Klassenwidersprüche geboren werden, erlöschen nur allmählich von selbst und leben durch die Kraft des Konservativismus länger als die Notwendigkeiten, die ihnen zum Leben verhalfen und verschwinden erst völlig nach den Auswirkungen ernsthafter gesellschaftlicher Schocks und Krisen.“ (Trotzki: Brailsford and Marxism, On Britain. Band 2, S. 167)
Zu verschiedenen Zeiten haben verschiedene Religionen, Kirchen und Sekten verschiedene Rollen gespielt, die in letzter Analyse verschiedene und sogar gegensätzliche Klasseninteressen widerspiegelten. Die ersten Vorbeben der großen Revolte gegen den Feudalismus waren die Herausforderung der Macht und Autorität der römisch-katholischen Kirche, die bereits ein Echo in den Massen fand. Ein katholischer Historiker meint, dass „ein revolutionärer Geist des Hasses auf die Kirche und den Klerus von den Massen in mehreren Teilen Deutschlands Besitz ergriffen hat ... der Ruf ‚Tod den Priestern!’, der lang im Geheimen geflüstert worden war, war nun die Parole des Tages.“ (zit. in W. Manchester: A World Lit only by Flame. S. 161)
Frühe Ausbrüche wie jener der Lollards in England und der Hussiten in Deutschland bereiteten den Boden für Luthers Reformation. In all diesen Bewegungen gab es eine kommunistische Tendenz, die auf die frühen Traditionen der Kirche zurückgeht und in jedem Fall brutal unterdrückt worden war. Der Chronist Froissart berichtet von Aktivitäten einer Bewegung von abweichlerischen Heckenpriestern (hedge priests) während der von John Ball geführten englischen Bauernaufstände 1381, der kommunistische Ideen in biblischer Gestalt mit seiner gefeierten Losung vorbrachte:
„when Adam delved and Eve span,
who was then the Gentleman?“„als Adam ackerte und Eva spann,
war da der Gentleman?“
(die sexuelle Konnotation des Originals geht in der Übersetzung verloren, Anm.)
In der Periode des Aufstiegs der Bourgeoisie spiegelte die protestantische Religion die Revolte des jungen Bürgertums gegen den krisenhaften Feudalismus wider. Darin spielte sie zweifelsohne eine fortschrittliche Rolle. Der Protestantismus war von seiner Entstehung im 16. Jahrhundert an gespalten. Im Ferment dieser turbulenten Zeiten entstand eine ganze Reihe neuer Sekten, die die Ideen und Bestrebungen der verschiedenen Klassen und Unterklassen repräsentierten: AnabaptistInnen, MennonitInnen, Böhmische Brüder, KongregationalistInnen, PresbyterianerInnen, UnitarierInnen. Der linke Flügel vertrat mit Thomas Müntzer und den AnabaptistInnen (WiedertäuferInnen) in Deutschland eine klar kommunistische Tendenz. Müntzer, früher Lutheraner, brach mit Luther und rief die Bauernschaft zum Aufstand auf. Trotz des revolutionären Einflusses seiner Aktivitäten stand Luther der revolutionären Bewegung der deutschen Bauernschaft, die seine Lehren zur Tat angespornt hatten, erbittert feindlich gegenüber. Er drängte den Adel mit der gewalttätigsten Sprache, die Bewegung zu zerstören. Das geschah. Allein in Sachsen kamen fünftausend Bauern unters Schwert. Etwa 300 wurden verschont, weil ihre Frauen zugestimmt hatten, zwei Priestern, die der Anstiftung der Rebellion beschuldigt wurden, die Köpfe einzuschlagen. Müntzer selbst wurde bis zum Tod gefoltert und enthauptet.
Die Handlungen der Heiligen Inquisition – die Gestapo der Gegenreformation – sind gut genug bekannt, und entbehren daher großem Kommentar. In den spanisch besetzten Niederlanden wurde es zum Schwerverbrechen erklärt, wenn man eine Bibel im Hause hatte. Verurteilte GotteslästerInnen wurden lebendig verbrannt, wenn sie gestanden und widerriefen, zeigte die Inquisition Gnade: die Männer wurden enthauptet und die Frauen lebendig begraben. Weniger bekannt sind die Aktivitäten des Protestantismus, was die Unterdrückung von Abweichung betrifft. Calvin, der eine theokratische Diktatur in Genf führte, verbrannte Michael Servetus lebendig, als dieser den Blutkreislauf entdeckte. Servetus flehte um Gnade – nicht um sein Leben, sondern dafür, enthauptet zu werden. Die Bitte wurde verweigert und er wurde eine halbe Stunde lang gebraten.
Die Englische und Französische Revolution
In der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts fand der revolutionärste Flügel, der die Bestrebungen der unteren Schichten der Gesellschaft, der KünstlerInnen, ArbeiterInnen, des im Entstehen begriffenen Proletariats reflektierte, seinen Ausdruck in einer religiösen Form. Der linke Flügel der Bewegung war in einer Reihe radikaler und demokratischer protestantischer Sekten wie den Männern der Fünften Monarchie, den Ranters („Wütenden“) und den AnabaptistInnen organisiert.
Im gegebenen historischen Kontext hatten diese Bewegungen einen fortschrittlichen und revolutionären Charakter. Sie spiegelten die ersten verwirrten Aufregungen des Bewusstseins einer Klasse, die sich noch nicht voll ausgeformt hatte, wider. Nach der Restauration erschienen diese radikalen plebejischen Tendenzen in einer verwandelten Form als religiöse AbweichlerInnen wieder. Mit enthusiastischer Unterstützung der Anglikanischen Kirche von der Monarchie verfolgt emigrierten viele von ihnen nach Amerika, wo ihre revolutionären Energien durch die Aufgabe der Öffnung eines neuen Kontinents sublimiert wurden. Über die Jahre gingen ihre revolutionären und radikalen Wurzeln völlig verloren. Einige, wie die QuäkerInnen, enthalten noch verblichene Elemente der alten Ideen, wenngleich in einer sehr verwässerten Form, die nicht mit der erfolgreichen Verfolgung von Geschäftsinteressen im Widerspruch steht. Doch die meisten sind zu einem Bollwerk der Reaktion und einer grimmigen Verteidigung der Sache des rechten Flügels geworden. In Lateinamerika wurden die evangelischen Sekten durch eine eigenartigen Laune des Schicksals zu den Stoßtruppen der Reaktion und der Verteidigung der Militärdiktatur, wohingegen in einem gewissen Ausmaß zumindest die Basis der römisch-katholischen Kirche sich der Sache der Armen und Unterdrückten annimmt, was vom römischen Papsttum heftig bekämpft wird.
Zur Zeit der Französischen Revolution ein Jahrhundert später hatte das Bewusstsein der Massen einen Punkt erreicht, an dem Religion überhaupt keine Rolle mehr in ihrem Denken spielte. Die enge Verbindung zwischen der Kirche und dem absolutistischen Staat war für alle offensichtlich. In der Periode, die zum Sturm auf die Bastille führte, trugen die materialistischen Philosophen Diderot und Holbach viel dazu bei, die spirituelle Festung der Religion abzutragen. Die Französische Revolution erschütterte die Kirche bis ins Innerste. Der Jakobinische Staat war offiziell atheistisch, wenngleich Robespierre diese Tatsache mit dem Feigenblatt des „Höchsten Wesens“ zu verhüllen versuchte, was niemanden außer vielleicht Robespierre selbst überzeugte. Obwohl das französische Volk als glühende KatholikInnen galt, verschwand die Religion in der Praxis nach der Revolution (außer in den rückständigsten und reaktionärsten Bezirken wie der Vendée). Tatsächlich hassten die meisten Menschen Priester, die sie richtigerweise als Agenten der herrschenden Klasse betrachteten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, v.a. nach der Pariser Commune, als die französische Bourgeoisie unter Schock stand, unternahm diese Schritte zur Förderung einer reaktionären religiösen Wiederbelebung, indem sie Tricks wie das fabrizierte „Wunder“ in Lourdes für ihre Absicht verwendeten.
In der Russischen Revolution war die Sache noch klarer. Obwohl die russische ArbeiterInnenklasse zu Beginn im Jänner 1905 mit einem ikonentragenden Priester an der Spitze die Bühne der Geschichte betrat, war davon nach dem Massaker des 9. Jänner, als der überaus christliche Zar seinen Kosaken den Befehl zum Feuer auf unbewaffnete Leute gab, die ihm eine Petition überbringen wollten, nichts mehr übrig. Danach spielte die Religion keine Rolle mehr in der Bewegung, die von MarxistInnen organisiert und geführt wurde. Nach dem Sieg in der Oktoberrevolution erfolgte der Zusammenbruch des Einflusses der Kirche sogar noch rascher und vollständiger als es in Frankreich der Fall gewesen war.
„Die orthodoxe Kirche,“ schrieb Trotzki, „hat nie die primitive Bauernmythologie überwunden, gelangte aber in den Apparat des Zarismus. Priester gingen Seite an Seite mit der Polizei, jeder Entwicklung sektiererischer Abweichung wurde mit Repression begegnet. Deswegen erwiesen sich die Wurzeln der orthodoxen Kirche im allgemeinen Bewusstsein und v.a. in den Industriezentren als so schwach. Beim Abschütteln des bürokratischen Kirchenapparats schüttelte der russische Arbeiter in der überwältigenden Masse und mit ihm gemeinsam das bäuerliche Milchmädchen gleich die gesamte Religion ab.“ (Ebd., S. 164)
Es ist ein verheerenden Kommentar für den Stalinismus, und die Art und Weise wie er das Bewusstsein der Massen zurückgeworfen hat, dass unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR aller alter Dreck wieder aufgetaucht ist: Nationalismus, Antisemitismus, Faschismus, Monarchismus – und zusammen mit all dieser Glorie des Zarismus – Religion und Aberglaube. Diese Überbleibsel mittelalterlicher Barbarei verbreiteten sich wie eine Seuche über den kranken und zerschlagenen Körper Russlands und zeigten der ganzen Welt die wahre Natur des „Markts“ und die Tatsache, dass die Bourgeoisie in Russland nichts als die Aussicht auf wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verfall anzubieten hat.
Die Kirche und der Sozialismus
Der Aufstieg der modernen ArbeiterInnenbewegung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stellten das religiöse Establishment vor eine Herausforderung. Ohne Ausnahme stellte sich die Kirche auf Seite der Ausbeutenden und in Opposition zu Sozialismus und ArbeiterInnenbewegung. Um die Verbreitung sozialistischer Ideen in der ArbeiterInnenklasse zu verhindern, unternahm die katholische Kirche Schritte, die ArbeiterInnenbewegung zu spalten, indem sie eigene katholische Gewerkschaften, Frauen- und Jugendorganisationen in Konkurrenz zur Sozialdemokratie schuf. Tatsächlich kopierte die Kirche die organisatorischen Methoden von der Sozialdemokratie.
Die Kirchenhierarchie – immer den Reichen und Mächtigen verpflichtet – blickte auf den Sozialismus und die ArbeiterInnenbewegung mit unverhülltem Misstrauen und Feindseligkeit. Papst Leo XIII. strich in seiner Enzyklika zur Arbeit die Feindlichkeit des Vatikans gegenüber dem Sozialismus heraus:
„Zur Hebung dieses Übels verbreiten die Sozialisten, indem sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln, die Behauptung, der private Besitz müsse aufhören, um einer Gemeinschaft der Güter Platz zu machen, welche mittels der Vertreter der städtischen Gemeinwesen oder durch die Regierungen selbst einzuführen wäre. Sie wähnen, durch eine solche Übertragung alles Besitzes von den Individuen an die Gesamtheit die Mißstände heben zu können, es müßten nur einmal das Vermögen und dessen Vorteile gleichmäßig unter den Staatsangehörigen verteilt sein.
Indessen dieses Programm ist weit entfernt, etwas zur Lösung der Frage beizutragen; es schädigt vielmehr die arbeitenden Klassen selbst; es ist ferner sehr ungerecht, indem es die rechtmäßigen Besitzer vergewaltigt, es ist endlich der staatlichen Aufgabe zuwider, ja führt die Staaten in völlige Auflösung. (...)
Gesetzt, er habe durch Einschränkung Ersparnisse gemacht und sie der Sicherung halber zum Ankauf eines Grundstücks verwendet, so ist das Grundstück eben der ihm gehörige Arbeitslohn, nur in anderer Form; (...)
Aber, was schwerer wiegt, das von den Sozialisten empfohlene Heilmittel der Gesellschaft ist offenbar der Gerechtigkeit zuwider, denn das Recht zum Besitze privaten Eigentums hat der Mensch von der Natur erhalten. (...)
Eben weil er aber mit Vernunft ausgestattet ist, sind ihm irdische Güter nicht zum bloßen Gebrauche anheimgegeben, wie dem Tiere, sondern er hat persönliches Besitzrecht, Besitzrecht nicht bloß auf Dinge, die beim Gebrauche verzehrt werden, sondern auch auf solche, welche in und nach dem Gebrauche bestehen bleiben. (...)Wenn nun jedem Menschen, wie gezeigt, als Einzelwesen die Natur das Recht, Eigentum zu besitzen, verliehen hat, so muß sich dieses Recht auch im Menschen, insofern er Haupt einer Familie ist, finden; ja das Recht besitzt im Familienhaupte noch mehr Energie, weit der Mensch sich im häuslichen Kreise gleichsam ausdehnt. (...)
Vor allem ist also von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung an.“ (Zitiert aus: Enzyklika Rerum Novarum)
Papst Leo XIII. schrieb auch: „Christliche Demokratie muss, weil sie christlich ist, auf den Prinzipien des Göttlichen Glaubens an seine Anstrengungen zur Verbesserung der Massen beruhen. Daher ist für die Christdemokratie Gerechtigkeit heilig. Sie muss darauf bestehen, dass das Recht des Erwerbs und des Besitzes von Eigentum nicht abgestritten werden kann und muss die diversen Unterschiede und Ausmaße, die in jeder wohlgeordneten Gemeinschaft unentbehrlich sind, absichern. Es ist daher klar, dass es nichts Gemeinsames zwischen Sozial- und Christdemokratie gibt. Sie unterscheiden sich voneinander so sehr wie sich die Sekte des Sozialismus von der Kirche Christi unterscheidet.“
James Conolly, der große irische Marxist und revolutionäre Märtyrer, dessen Polemik zur katholischen Kirche klassische Stellungnahmen des Sozialismus darstellen, bemerkte: „Als ob einer der Jungs in der Schule es nicht völlig logisch fände, dass er für den Rest seiner Schultage die Eselsmütze tragen müsste. Stellt euch einen Priester vor, der das Gutsbesitzwesen wie Pater Kane verteidigt und der Papst sagt nichts dazu. ‚Der Mann, der ein Feld über Winter und Frühling bestellt, hat ein Recht, die Ernte, die er eingefahren hat, zu seinem Eigentum zu behalten’; und stellt euch vor, dass er damit ein Argument gegen den Sozialismus vorbringt. Sozialisten beabsichtigen nicht, sich dem Recht des Mannes, ‚als Eigentum zu behalten, was er verdient’ entgegenzustellen; aber sie bestehen vehement darauf, dass ein solcher Mann, Bauer oder Arbeiter, nicht gezwungen werden soll, den größeren Teil dessen ‚was er verdient hat’ an eine untätige Klasse abzugeben, deren Mitglieder ‚weder arbeiten noch Neues schaffen’, sondern ihren Zugriff auf das Eigentum des Volks durch brutale Gewalt, Plünderung und Betrug legitimieren.“ (J. Conolly: Selected Writings. S. 78f)
Am 21. September 1958 schrieb Papst Pius XII.: „Die Vielfalt der Klassen entspricht völlig der Vorsehung des Schöpfers“. Also betrachtet die Kirche Klassengesellschaft als festgeschrieben, ewig und göttlichen Ursprungs. Vergleichen wir das mit der Stellungnahme des Hl. Clemes (schon oben erwähnt): „Der Gebrauch aller Dinge, die auf dieser Welt bestehen, soll für alle gemeinschaftlich erfolgen. Nur die deutliche Ungleichheit führt dazu zu sagen ‚Das gehört mir, das dir’. Hier liegt der Ursprung der Streits unter den Menschen.“
Die Position von Pius XII ist dieselbe wie die Zeile des alten anglikanischen Hymnus All Things Bright and Beautiful, der den bekannten Vers beinhaltet:
„Der reiche Mann in seinem Schloss, der arme Mann vor seinem Tor:
Er (Gott) machte den Hohen und den Niederen und ordnete ihr Gut“
Das ist absolut typisch für die Haltung der Kirche über Jahrhunderte: eine offene Verteidigung des Status quo und der Spaltung der Gesellschaft in Klassen.
Folglich war die katholische Kirche als Resultat des Wachstums der ArbeiterInnenbewegung und der unwiderstehlichen Bewegung in Richtung Sozialismus gezwungen, ihren Standpunkt abzuändern. Papst Johannes XXIII. – der intelligenteste Papst im 20. Jahrhundert – nahm eine fortschrittlichere Position ein. Doch unter dem Papst Johannes Paul II. wurde alles zurückgenommen.
Die Kirche heute
„Straft nicht jeder Augenblick eures praktischen Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für Unrecht, die Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet? Aber der Apostel schreibt, daß es Unrecht sei. Haltet ihr euren rechten Backen dar, wenn man euch auf den linken schlägt, oder macht ihr nicht einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium verbietet es. (...) Aber es ist euch gesagt, daß dieser Zeit Leiden der künftigen Herrlichkeit nicht wert sei, daß die Passivität des Ertragens und die Seligkeit in der Hoffnung die Kardinaltugenden sind. (...)Handelt der größte Teil eurer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, daß eure Schätze nicht von dieser Welt sind.“ (Karl Marx, Soll die Philosophie die religiösen Anliegenheiten auch in Zeitungsartikeln besprechen?, Rheinische Zeitung 195, Juli 1842)
Die Aktivitäten der Kirche in der modernen Gesellschaft ruhen auf den grellsten Widersprüchen und Heuchelei, wie Marx in der oben zitierten Passage herausstreicht. Die revolutionären Traditionen des frühen Christentums weisen absolut keinen Bezug zur gegenwärtigen Situation auf. Schon seit dem 4. Jahrhundert n.Chr., als die christliche Bewegung durch den Staat in seine Gewalt gebracht und zu einem Instrument der Unterdrückenden gemacht worden war, war die christliche Kirche auf Seiten der Reichen und Mächtigen und gegen die Armen. Heute sind die Großkirchen extrem reiche Institutionen, eng mit dem Big Business verbunden und erhalten außerdem große Summen vom Staat, sowohl in muslimischen wie in christlichen Ländern.
In Spanien wurde die katholische Kirche zusätzlich zu ihren immensen Reichtümern in Land, Immobilien und Bankkonten regelmäßig vom Staat durch von allen eingehobene Steuern, egal ob religiös oder nicht, subventioniert, obwohl das spanische Volk nie zu dieser auferlegten Zahlung befragt wurde. Dasselbe passiert in anderen Ländern, wo die Kirche einen Handel mit dem Staat durchgesetzt und eine privilegierte und lukrative Position erreicht hat. Was immer man von Religion denkt, ein solcher Zustand ist klar eine nicht zu tolerierende Verletzung der Demokratie. Und obwohl jetzt den spanischen Steuerzahlenden freigestellt wird, ob sie Geld an die Kirche abgeben wollen oder nicht, bleibt die Tatsache aufrecht, dass letztere weiterhin einen privilegierten Zugang zu öffentlichen Geldern hat.
Im Mittelalter erklärte die katholische Kirche Wucher (Geldverleih gegen Zinsen) zu einer Todsünde, jetzt besitzt der Vatikan eine große Bank und enormen Reichtum und Macht. Die Kirche von England ist neben anderen zahlreichen Geschäftstätigkeiten auch einer der größten Grundbesitzenden Britanniens. Es wäre leicht zu zeigen, dass derselbe Zustand auch sonst überall besteht. Auch ist dieses Phänomen nicht auf die christliche Religion beschränkt. Der Koran verbietet gleichfalls Wucher und doch sieht man in allen sogenannten islamischen Ländern große Banken, die Moslems gehören. Natürlich greifen sie zu allen möglichen Tricks, um die Tatsache zu verschleiern, doch die Zinsen werden weiterhin aus den Leuten herausgepresst.
Politisch haben die Kirchen systematisch die Reaktion gestützt. In den 1930ern haben katholische Bischöfe die Armeen Francos auf ihrem Feldzug gegen die spanischen ArbeiterInnen und Bauern gesegnet. Die spanischen FaschistInnen drucken oft Fotos von Prälaten ab, die den Hitlergruß vollziehen. Papst Pius XII. unterstützte Hitler und Mussolini. Der Papst behielt Stillschweigen über die Millionen, die in den Nazi-Todeslagern ausgelöscht worden sind und obwohl der Vatikan im Zweiten Weltkrieg offiziell neutral war, sind seine Sympathien für die Nazis gut dokumentiert. G. Lewy schreibt:
„Von Anfang bis zum Ende der Herrschaft Hitlers wurden es die Bischöfe nicht müde, die Gläubigen zu ermahnen, seine Regierung als legitime Autorität zu akzeptieren, der man Gehorsam schuldig war (...) Nach dem erfolglosen Attentat auf Hitler in München am 8. November 1939 schickten ihm Kardinal Bertram im Namen des Deutschen Episkopats und Kardinal Faulhaber für die bayrischen Bischöfe Glückwunschtelegramme. Die katholische Presse in ganz Deutschland sprach, den Instruktionen der Reichspresskammer folgend, von der wunderbaren Wirkung der Vorsehung, die den Führer beschützt hatte.“ (G. Lewy: The Catholic Church and Nazi Germany. NY 1965, S. 310f)
„An zwei wichtigen Punkten zeigen die deutschen Dokumente beeindruckende Übereinstimmung,” schreibt Saul Friedhandler, „einerseits schien der Papst eine Vorliebe für Deutschland gehabt zu haben, die durch das Wesen des Naziregimes keinen Einbruch erlitten zu haben scheint und bis 1944 nicht bestritten wurde; andererseits fürchtete Pius XII. eine Bolschewisierung Europas mehr als alles andere und hoffte offenbar, dass Hitlerdeutschland, wenn es mit seinen westlichen Verbündeten versöhnt wäre, die wesentliche Wehr gegen jeden Vorstoß der Sowjetunion gegen den Westen würde.“ (S. Friedhandler: Pius XII. and the Third Reich. A Documentation. NY 1958, S. 236; Hervorhebung durch A.W.)
In der Geschichte der Ideen hat die Kirche immer eine sehr reaktionäre Rolle gespielt. Galileo Galilei wurde gezwungen, seine Ideen unter Androhung der Folter durch die Heilige Inquisition zu widerrufen. Giordano Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Charles Darwin wurde gnadenlos vom religiösen Establishment in England gejagt, weil er die anerkannte Idee, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hätte, herauszufordern gewagt hatte.
Bis heute steht die Evolutionstheorie unter den Angriffen der religiösen Rechten in den USA, die in den amerikanischen Schulen das erste Buch Genesis als Unterrichtsmittel anstelle der Evolutionstheorie durchgesetzt sehen wollen. In den USA ist die religiöse Rechte eine wohlhabende Bewegung, die reaktionäre Dinge predigt. Vor einigen Jahren versprach der texanische Ölmagnat Nelson Bunker Hunt mehr als 10 Millionen Dollar für den sogenannten „1 Milliarden-Dollar Fonds des Kreuzzugs für Christus“. Die christliche Freiheitsstiftung, eine „erzieherische Lobby“, wurde von J. Howard Pew, dem Gründer der Sun Oil Company, und „anderen Geschäftsleuten, die für das freie Unternehmertum eintreten“ ins Leben gerufen. Es gibt viele andere Beispiele, die die enge Verbindung zwischen der religiösen Rechten und dem Big Business aufzeigen. Diese reichen Leute investieren solche Summen nicht für nichts. Religion wird hier explizit als Waffe der Reaktion genutzt.
Die kreationistische Bewegung in den USA umfasst Millionen von Menschen und wird – unglaublicherweise –von WissenschafterInnen, einschließlich GenetikerInnen angeführt. Das ist deutlicher Ausdruck der intellektuellen Konsequenzen des Niedergangs des Kapitalismus.
Es ist ein besonders schlagendes Beispiel des dialektischen Widerspruchs des Zurückbleibens des menschlichen Bewusstseins. In den technologisch am meisten fortgeschrittenen Ländern der Welt versinkt der Verstand von Millionen Männern und Frauen in Barbarei. Das Niveau ihres Bewusstseins ist nicht viel höher als damals, als Menschen Kriegsgefangene ihren Göttern opferten, sich vor geschnitzten Idolen zu Boden warfen und Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Dies ist eine Bewegung zurück ins Mittelalter.
Auf dem Feld gesellschaftlicher Gesetzgebung und v.a. in Bezug auf Frauenrechte hat die katholische Kirche immer eine reaktionäre Rolle gespielt. Sie verweigert Frauen immer noch das Recht, ihren eigenen Körper zu kontrollieren und lehnt das Recht auf Scheidung, Verhütung und Abtreibung ab. Papst Karol Wojtyla war in dieser Frage sehr freimütig. Die dauerhafte Gegnerschaft der Kirche bezüglich künstlicher Verhütungsmittel erweist sich als besonders verheerend hinsichtlich AIDS. Eine Gallup-Umfrage unter Amerikanischen KatholikInnen zeigte 1999, dass 80% der Laien und 50% der Priester sich für künstliche Verhütung aussprachen, während eine Umfrage an der Universität von Maryland festhält, dass zwei Drittel der KatholikInnen zustimmten, dass sie ihrem Gewissen folgen sollten, auch wenn es nicht mit dem Papst übereinstimmt. Ähnliche Aussagen können für andere entwickelte Länder gefunden werden.
Im Reich der Politik ist der gegenwärtige Papst und sein Vorgänger ein freimütiger Reaktionär und Feind des Marxismus und Sozialismus. Er kam über das Opus Dei an die Macht – jener notorischen katholischen Mafia, die ihre Tentakel in jeder Ecke des politischen Lebens in Italien, Spanien und anderen Ländern hat.
Lenin über Religion
Engels strich in seinem Vorwort zum Bürgerkrieg in Frankreich heraus, dass „im Vergleich zum Staat die Religion eine Privatsache“ ist. Sich darauf beziehend, schrieb Lenin 1905: „Den Staat soll die Religion nichts angehen, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem muss es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen, d.h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist.“ (Lenin: Sozialismus und Religion. In: Lenin-Werke Bd. 10; S.71)
In Bezug auf die Partei betonte Lenin auch, dass Engels empfahl, dass die revolutionäre Partei einen Kampf gegen die Religion führen sollte: „Die Partei des Proletariats verlangt, dass der Staat Religion zur Privatsache erklären soll, aber sie betrachtet die Frage des Kampfes gegen das Opium des Volkes – den Kampf gegen religiösen Aberglauben etc. - nicht einen Moment lang als Privatsache. Die Opportunisten haben die Frage so verzerrt, dass es scheint , dass die Sozialdemokratische Partei Religion als Privatangelegenheit betrachtet.“ (Lenin: On Religion. S. 18)
Und er fügte hinzu, dass „die Wurzeln der modernen Religion tief in die soziale Unterdrückung der arbeitenden Massen eingebunden sind und in ihre offensichtlich völlige Hoffnungslosigkeit gegenüber den blinden Kräften des Kapitalismus (...) keine Lektüre, wie erleuchtend auch immer, wird die Religion (aus dem Bewusstsein der Massen) auslöschen, bis die Massen selbst lernen, gegen die gesellschaftlichen Gegebenheiten, aus denen Religion erwächst, vereint, diszipliniert, geplant und bewusst zu kämpfen – bis sie gegen die Herrschaft der Kapitalisten in all ihren Formen zu kämpfen lernen.“ (ebd., S. 14f)
MarxistInnen müssen alles mögliche tun, um alle ArbeiterInnen in den Kampf gegen den Kapitalismus einzubinden, einschließlich der religiös Glaubenden. Wir dürfen keine Barrieren zwischen uns und diesen ArbeiterInnen errichten, sondern müssen sie ermutigen, sich aktiv am Klassenkampf zu beteiligen.
Wie wir schon sahen, betrat 1905 die russische ArbeiterInnenklasse die Bühne der Geschichte mit einem Priester an ihrer Spitze und trug religiöse Ikonen in Händen und eine Petition zum Zar – dem „Väterchen“. Sie misstrauten den RevolutionärInnen und manchmal kam es zu Schlägereien gegen sie. Doch das änderte sich 24 Stunden nach dem Massaker des 9. Jänner. Dieselben ArbeiterInnen kamen in der Nacht des 9. zu den RevolutionärInnen und verlangten Waffen. So schnell kann sich das Bewusstsein in der Hitze der Ereignisse ändern!
Übrigens machte Pater Gapon, der die Petition und die friedliche Demonstration organisiert und für die zaristische Polizei gearbeitet hatte, selbst eine plötzliche Veränderung nach dem Blutigen Sonntag durch. Er rief zum revolutionären Sturz des Zaren auf und kam auch den Bolschewiki recht nahe. Lenin stieß ihn nicht zurück, sondern versuchte ihn zu gewinnen, obwohl Gapon religiös blieb.
Lenins flexible Haltung zeigte sich in seiner Einstellung zu Streiks. Er warnte vor einer sektiererischen Haltung gegenüber ArbeiterInnen, die religiös waren, aber an Streiks teilnahmen: „Zu einer solchen Zeit und unter solchen Umständen (d.h. während eines Streiks) den Atheismus zu predigen, hieße nur der Kirche und den Priestern in die Hände zu spielen, die sich nichts mehr wünschen als die am Streik beteiligten Werktätigen entlang religiöser Zugehörigkeit gespalten zu sehen.“ (ebd., S. 16)
Das ist der Kern der Sache. Wir kämpfen für die Einheit der ArbeiterInnenorganisation über alle Trennungslinien hinweg: religiös, national, sprachlich oder rassisch. Unsere Aufgabe ist es, alle Unterdrückten und Ausgebeuteten in einer Armee gegen die Bourgeoisie zu vereinen.
MarxistInnen haben die Annahme des Atheismus nie zu einem Teil des Parteiprogramms gemacht. Dieser Nonsens war immer Kennzeichen des Anarchismus. Sehr oft nähern sich ArbeiterInnen, die noch gläubig sind, der Bewegung an, lassen sich von ihrem allgemeinen Programm überzeugen und kämpfen eifrig für den Sozialismus, wollen auf die Religion aber nicht verzichten. Welche Haltung sollen wir einnehmen? Sicher nicht die, sie wegzustoßen. Solche ArbeiterInnen schließen sich nicht der Bewegung an, um Bekehrte für ihre Religion zu finden, sondern um den Kapitalismus zu bekämpfen. Wahrscheinlich sehen sie in gewisser Zeit den Widerspruch zwischen ihren politischen und ihren religiösen Überzeugungen und wenden sich allmählich von der Religion ab. Aber die Frage ist eine heikle und sollte nicht überstürzt oder dränglerisch behandelt werden. Wie Lenin erklärte, sind MarxistInnen „gegen jeden noch so leisen Angriff auf diese religiösen Überzeugungen der Arbeiter“. (ebd., S. 17)
Eine völlig andere Sache ist es, wenn Intellektuelle der Mittelklasse Verwirrung in die Ideologie der Bewegung bringen möchten, wie es der Fall war, als Lenin über Religion schrieb. Eine Gruppe ultralinker Bolschewiki (Bogdanow, Lunatscharski, etc.) versuchten, den Marxismus über die Einführung mystischer philosophischer Bemerkungen zu revidieren. Lenin hatte recht, als er gegen diese Tendenz ankämpfte.
Die Zukunft der Religion
Wie wird die Zukunft der Religion aussehen? Zu dieser Frage gibt es natürlich tiefe Meinungsdifferenzen zwischen MarxistInnen und den christlichen und anderen Religionen. Es ist selbstverständlich nicht möglich, wie mit einer Kristallkugel die Zukunft zu erkennen, aber Folgendes kann gesagt werden. Wenngleich der Marxismus von einem philosophischen Standpunkt aus mit Religion unvereinbar ist, ist es überflüssige zu betonen, dass wir gegen Verbot oder Unterdrückung von Religion sind. Wir stehen für die völlige Freiheit des/der Einzelnen, religiösen Glauben oder eben keinen zu pflegen.
Was wir sagen, ist, dass es eine radikale Trennung zwischen Staat und Kirche geben soll. Die Kirche darf weder direkt noch indirekt über Steuern unterstützt werden, noch soll Religion in den staatlichen Schulen unterrichtet werden. Wenn Menschen Religion wollen, sollen sie ihre Kirche selbst über einen Beitrag für ihre Glaubensrichtung erhalten und ihre Lehre in ihrer Freizeit predigen. Dasselbe gilt für den Islam oder jede andere Religion.
So weit es uns betrifft, wird der Dialog über Religion erhalten werden, aber er darf nicht das grundlegende Problem unserer Zeit überschatten. Unsere erste und herausragende Aufgabe ist die Vereinigung im Kampf mit all jenen, die der Diktatur des Kapitals, die die Menschheit in einem Zustand der Sklaverei hält, ein Ende setzen wollen. Der Sozialismus wird die freie Entwicklung der Menschen zulassen, ohne die heutigen Einschränkungen der materieller Bedürfnissen.
Jahrhunderte lang wurde die organisierte Religion von Ausbeutenden dazu verwendet, die Massen zu täuschen und zu versklaven. Immer wieder gab es Aufstände gegen diese Situation. Vom Mittelalter bis zum heutigen Tag wurden Stimmen des Protests gegen die Unterordnung der Kirche unter die Reichen und Mächtigen laut. So auch heute. Die Leiden der ArbeiterInnen und der Bauernschaft, das Martyrium der Menschheit unter dem infamen Despotismus des Kapitals lässt die Entrüstung breiter Bevölkerungsschichten wachsen, darunter viele, die mit der Philosophie des Marxismus nicht vertraut sind, aber gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung kämpfen wollen. Hier gibt es viele redliche ChristInnen und sogar Angehörige des niederen Klerus, die täglich das Leid der Massen bezeugen können.
Die Befreiungstheologie ist ein Ausdruck des revolutionären Ferments in Zentral- und Lateinamerika. Die niederen Ränge der Priesterschaft fühlen sich vom Leid der unterdrückten Massen aufgerufen und nehmen ihren Platz im Kampf um ein besseres Leben ein. Die Kirchenhierarchie, die über die Jahrhunderte eine komfortable Beziehung zu reichen Landbesitzenden, Bankiers und KapitalistInnen geschaffen hat, bekämpft diesen Trend oder toleriert ihn widerwillig. Der Klassenkampf hat somit auch die Reihen der römisch-katholischen Kirche selbst durchdrungen.
Ähnlich haben die Ideen des Marxismus auch unter MuslimInnen einen Widerhall hervorgerufen; die unterdrückten Massen des Nahen Osten, Irans, Pakistans und Indonesiens beginnen, zur Tat überzugehen, um ihr Leben zu verbessern und suchen nach einem Kampfprogramm zum Sturz ihrer Unterdrückender.
Erforderlich ist der Sturz des Kapitalismus, Feudalismus und Imperialismus. Ohne dies wird kein Weg vorwärts möglich sein. Das einzige Programm, das den Sieg in diesem Kampf gewährleisten kann, ist jenes des revolutionären Marxismus. Eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen MarxistInnen und ChristInnen (und MuslimInnen, Hindus, BuddhistInnen, JüdInnen und AnhängerInnen anderer Religionen) im Kampf zur Veränderung der Gesellschaft ist durchaus möglich und nötig, trotz der philosophischen Differenzen, die uns trennen. Redliche ChristInnen fühlen sich von der furchtbaren Unterdrückung, der die Mehrheit der Menschheit ausgesetzt ist, tief getroffen. Camillo Torres, früher ein kolumbianischer Priester, erklärte einmal: „Ich habe den Priesterhabit abgelegt, um ein wirklicher Priester zu werden. Es ist die Pflicht jedes Katholiken, revolutionär zu sein; es ist die Pflicht jeden Revolutionärs, die Revolution durchzuführen. Der Katholik, der kein Revolutionär ist, lebt in Todsünde.“
Das sind die würdigen NachfolgerInnen jener frühen christlichen RevolutionärInnen, die für die Sache der Armen auf dieser Erde standen, für die SünderInnen und die Unterdrückten, und die sich nicht davor fürchteten, ihr Leben im Kampf gegen die Unterdrückung zu geben. Sie sind die modernen MärtyrerInnen, deren Angedenken von allen, denen die Sache der Freiheit und Gerechtigkeit ein Anliegen ist, in Ehren gehalten werden soll. Zwischen 1968 und 1978 wurden über 850 Priester, Nonnen und Bischöfe in Lateinamerika eingesperrt, gefoltert und ermordet. Der salvadorianische Jesuit Rutilio Grande sagte, bevor er getötet wurde: „Heute ist es gefährlich (...) und praktisch ungesetzlich, in Lateinamerika ein tatsächlicher Christ zu sein.“ Die Betonung liegt auf „tatsächlich“.
Ein alternatives Leben?
Obwohl organisierte Religion in den letzten Jahren an Boden verloren hat, schmücken religiöse Ideen verwirrend und oberflächlich Sekten und Kulte, die einen „alternativen Lebensstil“ anbieten. In dem Ausmaß, in dem das manchmal eine wachsende Unzufriedenheit einer Schicht von Jugendlichen mit dem kapitalistischen System, seinem unmenschlichen, seelenlosen Blick auf das Leben, der leeren Kommerzialisierung aller Aspekte des Daseins, dem kruden Materialismus, dem endlosen und alles durchdringenden Geldmachen, der Vergewaltigung der Umwelt etc. widerspiegelt, kann das den ersten Schritt ins Bewusstsein repräsentieren. Aber dann beginnt das Problem. Es ist nicht genug, den Kapitalismus zurückzuweisen. Es ist notwendig, konkrete Schritte zu seiner Abschaffung zu unternehmen.
Das gemeinsame Merkmal all dieser „alternativen“ Bewegungen – New Age, Esoterik etc. – ist, dass sie sich auf einer rein individuellen Weise der Erlösung begründen. Auf diesem Weg ist kein Ausweg möglich. Und in letzter Analyse bieten die VertreterInnen der sogenannten Alternativen keine wie auch immer geartete Alternative. Der Kapitalismus kann gut mit ein paar Leuten leben, die sich dazu entschlossen haben auszusteigen. Das bedeutet für ihn keine Bedrohung, zumal die Machthabenden weiterhin die Kontrolle über die Gesellschaft halten.
Sogar jene, die ihren Ausstieg bekunden, werden in der Realität herausfinden, dass sie nicht aussteigen können. Sie sind gezwungen, Geld zu verwenden, die Mittel für den Lebensunterhalt in Geschäften zu kaufen, ihre alten Autos an modernen Tankstellen zu befüllen, womit sie Produkte großer Ölkonzerne erwerben, die die Umwelt vernichten und verschmutzen und werden von der Polizei von einem Gebiet ins nächste abgeschoben – wie wir alle.
Die Vorstellung, dass es möglich ist, der Gesellschaft und der Politik den Rücken zuzukehren, ist eine Illusion. Versucht es nur! Ihr werdet feststellen, dass die Politik eines Tages zu euch kommt und an der Tür klopft (wenn sie nicht sogar selbst eintritt).
Der Versuch, eine individuelle Lösung zu finden, ist extrem reaktionär, denn der einzige Weg, gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu kämpfen, ist die Vereinigung der ArbeiterInnenklasse und ihre Organisierung in einer revolutionären Bewegung. Dabei nicht mitzumachen, heißt so oder so, sich der Gnade des Kapitals auszusetzen und die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zu fördern.
Um ihre Nacktheit zu bedecken, behaupten die VertreterInnen der Esoterik, für besondere spirituelle Werte zu stehen, die - wie sie meinen – sie von den „gewöhnlichen“ Sterblichen abheben und ihnen einen direkten Zugang zu übernatürlichen Dingen, die alles Verstehen übersteigen, ermöglichen. Sie fühlen sich damit dem Rest der Menschheit, der nicht in diese großen Mysterien eingeweiht ist, überlegen.
In Wirklichkeit sind diese Ideen dem Denken gewöhnlicher Sterblicher nicht überlegen, sondern eher weit davon entfernt. Die erste Regel für jemanden, der die Gesellschaft verändern will, lautet, sie zu verstehen und darin zu leben. Der Versuch, der Gesellschaft den Rücken zuzukehren, wird nur dazu führen, völlig machtlos angesichts der bestehenden Gesellschaft zu sein und auf ewig, hoffnungslos, unwiderruflich auf jede Chance der Veränderung zu verzichten. Auf diesem Weg liegt keine Alternative, sondern nur mehr desselben – für immer.
Religion und die Krise des Kapitalismus
MarxistInnen würden Religion als falsches Bewusstsein bezeichnen, weil es unser Verständnis weg von der Welt und hin zu einem Anderen führt, über das wir nichts wissen können und worüber es sinnlos ist, Fragen zu stellen. Die gesamte Geschichte der Wissenschaft legt zwei grundlegende Annahmen dar: a) die Welt besteht außerhalb meiner selbst und b) ich kann diese Welt verstehen, und wenn es Dinge gibt, die ich derzeit nicht verstehe, kann ich sie zumindest in der Zukunft wissen. Die Errichtung einer Grenze, über die hinaus menschliches Wissen nicht reichen soll, besteht in der Öffnung für alle Arten von Mystizismus und Aberglauben. Über 2000 Jahre kämpft die Menschheit dafür, Wissen über sich selbst und die Welt, in der sie lebt, zu erlangen. Während dieser Zeit war die Religion der Feind des wissenschaftlichen Fortschritts und das nicht zufällig. In dem Ausmaß, in dem das Voranschreiten wissenschaftlichen Verständnisses uns befähigt, Dinge zu begreifen, die uns früher als „geheimnisvoll“ erschienen sind, wird die Religion zurückgedrängt und findet sich nun in einem verzweifelten Rückzugsgefecht, um sich selbst zu retten.
Im Kampf der Wissenschaft gegen die Religion – also im Kampf des rationalen Denkens gegen die Irrationalität – stellt sich der Marxismus überzeugt auf die Seite der Wissenschaft. Aber es steht mehr dahinter. Die Absicht des Wissenserwerbs über die Welt liegt darin, sie zu verändern. Die innere Bedeutung der gesamten menschlichen Geschichte der letzten 100.000 Jahre – und mehr – liegt im unaufhörlichen Ringen der Menschheit um den Sieg im Kampf mit der Natur, um das eigene Schicksal kontrollieren und so frei werden zu können. Die Wurzeln der Religion liegen in der entfernten Vergangenheit, in der Menschen darum kämpften, sich aus der tierischen Welt, aus der wir entstammen, zu befreien. Um natürlichen Erscheinungen, die sich ihrer Kontrolle entzogen, Sinn zu entnehmen, fanden die Menschen Zuflucht in Magie und Animismus – die frühesten Formen der Religion. Dieses kindliche Stadium des Bewusstseins sollte schon lang überwunden sein, doch der menschliche Geist ist unendlich konservativ und hängt an Vorstellungen und Vorurteilen, die längst jede Existenzberechtigung verloren haben.
In der Klassengesellschaft trägt das Paradigma „Liebe deinen Nächsten“ einen Heiligenschein. Die Marktwirtschaft mit ihrer Moral „Hl. St. Florian, verschon mein Haus, zünd’s andere an“ usw. erscheint das als schwierig, nein, sogar unmöglich. Um das Verhalten und die Psychologie von Männern und Frauen zu verändern, ist es nötig, ihre Lebensweise zu verändern. In Marxens Worten : „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“. Die ganze Welt wird von einer handvoll gigantischer Monopole dominiert, die den Erdball ausplündern, den Planeten schänden, die Umwelt zerstören und zahllose Millionen zu einem Leben unerträglichen Elends und Leids verurteilen.
Die Damen und Herren, die in den Vorständen dieser multinationalen Konzerne sitzen, sind meist praktizierende ChristInnen, weniger JüdInnen, MuslimInnen, Hindus und andere Gläubige. Keine davon ist aber die tatsächliche Religion des Kapitalismus. Diese ist vielmehr die Verehrung des Mammon, des Gottes des Reichtums. Der Kapitalismus dreht die menschlichen Beziehungen auf den Kopf. So verdreht und entstellt ist alles geworden, dass wir einen Menschen als „eine Million Dollar schwer“ bezeichnen – als ob wir über einen Handelsartikel sprächen. Das Fernsehen redet über die Börse, den Markt, den Dollar und das Pfund, als ob es lebende Wesen wären („Der Euro hat sich heute etwas erholt“). Das ist es, was Entfremdung bezeichnet: tote Dinge (Kapital) werden als lebend und Angelegenheiten des Lebens (Menschen, Arbeit) werden als tot, trivial und bedeutungslos betrachtet.
Die menschliche Entwicklung beinhaltet eine absteigende Linie genauso wie eine aufsteigende. Die Schicht moderner Kultur und Zivilisation, die über Jahrtausende aufgebaut worden ist, ist noch sehr dünn. Darunter liegen alle Bestandteile der Barbarei. Wer das bezweifelt, soll die Geschichte Nazi-Deutschlands oder die aktuelleren Ereignisse am Balkan nachlesen. In der Zeit ihres Aufstiegs stand die Bourgeoisie auf dem Boden der Rationalität – ja, selbst des Atheismus. Jetzt in der Periode des kapitalistischen Niedergangs tauchen überall irrationale Züge auf – sogar in den fortgeschrittensten und „kultivierten“ Staaten. Wenn es der ArbeiterInnenklasse nicht gelingt, die Gesellschaft zu ändern, sind alle Errungenschaften der Vergangenheit bedroht und selbst die Zukunft menschlicher Zivilisation ist nicht gewährleistet.
Die vom Kapitalismus vollführte Verwüstung auf der ganzen Welt hat zahllose Monstrositäten hervorgebracht. In der Periode des altersschwachen Abstiegs verleiht er religiösen und mystischen Tendenzen der rückständigsten Art Aufschwung. Die reaktionäre Rolle der Religion kann heute auf der ganzen Welt gesehen werden, von Afghanistan bis Nordirland. Auf allen Seiten sehen wir die hässlichen Monster des Fundamentalismus: nicht nur des islamischen Fundamentalismus, auch des christlichen, jüdischen und hinduistischen Fundamentalismus. Die Botschaft geschwisterlicher Liebe und Hoffnung verwandelte sich in die Flamme der Verzweiflung, des Hasses und des gegenseitigen Totschlags. Auf diesem Weg ist außer Barbarei und der Auslöschung der Kultur und der menschlichen Zivilisation nichts möglich.
Die Ursache dieses Horrors liegt nicht so sehr in der Religion selbst, wie oberflächliche Beobachtende behaupten, sondern in den Verbrechen des Kapitalismus und Imperialismus, die ganze Länder und Gemeinschaften verheeren und das Gewebe von Gesellschaft und Familie zerstören, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen. Voll Angst vor der Zukunft und verzweifelt über die Gegenwart suchten Menschen Trost in den angeblichen „ewigen Wahrheiten“ einer nichtexistenten Vergangenheit. Der Aufstieg des sogenannten religiösen Fundamentalismus ist nur ein deutlicher Ausdruck der Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft, die die Menschen zur Verzweiflung und in den Irrsinn bringt. Wie wir im Iran und in Afghanistan sehen, sind die Versprechen eines religiösen Himmels auf Erden nur ein leerer Traum, der in einen Alptraum mündet.
Die Religion kann nichts von dem, was auf der Welt heute geschieht, erklären. Ihre Rolle ist es auch nicht zu erklären, sondern die Massen mit Träumen zu trösten und auf ihre Wunden den Balsam falscher Versprechen zu schmieren. Aber man erwacht immer aus Träumen und die Wirkung selbst des süßesten Balsams schwindet und lässt den Schmerz umso schärfer fühlen. Religion ist ein falsches Bewusstsein, wo wahres Bewusstsein nötig ist – eine wissenschaftliche Sichtweise des Universums und unseres Platzes darin. Die Vorbedingung für die Gewinnung unserer Freiheit als Menschen liegt im radikalen Bruch mit Träumen und im Willen, die Welt so wie sie ist und uns selbst so wie wir sind, zu sehen: sterbliche Männer und Frauen, die nach einer Existenz streben, die des Menschen auf dieser Erde würdig ist.
Selbstentfremdete Menschheit
Seit undenklichen Zeiten wurden Männer (und noch mehr Frauen) in einem Geist der Unterwürfigkeit erzogen. Wir wurden gelehrt zu denken, dass wir schwach seien, ohnmächtig, dass es keinen Unterschied macht, egal was wir tun, dass „der Mensch denkt, aber Gott lenkt“. Die vorherrschende Idee war eine des Fatalismus. Gegen die anstehenden Probleme kann nichts unternommen werden. Diese Art fatalistischer Akzeptanz, unterwürfiger Verehrung etablierter Fakten liegt in allen Religionen tief verwurzelt. ChristInnen wird gesagt, dass sie die andere Backe hinhalten sollen, wenn ihnen jemand ins Gesicht schlüge, das Wort Islam bedeutet „Unterwerfung“ und die Propheten des Alten Testaments versichern uns, „alles ist Eitelkeit“. Aus diesem Gefühl der Ohnmacht kommt das Bedürfnis nach einem Höheren Wesen, das alles das ist, was wir nicht sind. Der Mensch ist sterblich; Gott ist unsterblich. Der Mensch ist schwach; Gott ist stark. Der Mensch ist unwissend vor den Geheimnissen des Universums; Gott ist allwissend, usw.
Der Glaube, dass Menschen für ihre Erlösung zum Himmel blicken müssen, bestärkt den Glauben an Wunder. Das ist durchaus nicht nur auf die ungebildeten Massen beschränkt. Man findet ähnlich abergläubische Geistesentwürfe unter WirtschaftsprognostikerInnen und BörsenmaklerInnen, die bloß auf einer höheren Ebene die Mentalität eines Spielers wiedergeben, der eine Hasenpfote in der Hand hält, während er die Würfel wirft. In der Bibel werden die Hungrigen gefüttert, die Blinden sehen, die Lahmen gehen... – alles mittels des Wirkens göttlicher Wunder. Heute brauchen wir die Einwirkung übernatürlicher Kräfte nicht mehr, um solche Wunder zu vollführen. Die Errungenschaften moderner Wissenschaft und Technologie erlauben uns, diese Dinge selbst zu tun. Es sind nur die künstlichen Beschränkungen, die vom Privateigentum an Produktionsmitteln und dem Profitsystem auferlegt werden, die die Ausbreitung dieser Wohltaten auf alle Männer, Frauen und Kinder auf diesem Planeten verhindern.
In dem Ausmaß, in dem Männer und Frauen fähig sind, ihr Leben zu kontrollieren und sich als freie Menschen zu entwickeln, wird das Interesse an Religion – d.h. die Suche nach Trost in einem Leben danach – von selbst schwinden, wie MarxistInnen glauben. Natürlich widersprechen Gläubige dieser Prognose. Die Zeit wird zeigen, wer Recht hat. In der Zwischenzeit sollten Unstimmigkeiten bezüglich solcher Dinge alle redlichen ChristInnen, Hindus, JüdInnen oder MuslimInnen, die am Kampf gegen Ungerechtigkeit teilnehmen wollen, nicht davon abhalten, MarxistInnen im Kampf für eine neue und bessere Welt die Hand zu reichen.
Für ein Paradies in dieser Welt!
„Wenn ich von vorn beginnen müsste, würde ich (...) versuchen, diesen oder jenen Fehler zu vermeiden, aber der Verlauf meines Lebens wäre im Großen und Ganzen derselbe. Ich stürbe als proletarischer Revolutionär, als Marxist, als dialektischer Materialist und konsequenterweise als unbekehrbarer Atheist. Mein Glaube an die kommunistische Zukunft der Menschheit ist nicht weniger brennend, vielmehr ist er heute noch stärker als er in den Tagen meiner Jugend war. Der Glaube an den Menschen und seine Zukunft gibt mir sogar jetzt solche Widerstandskraft, wie sie von keiner Religion verliehen werden kann.“ (Trotzki: Stalin. NY 1967, S. 54)
In seinem Buch „Die Metaphysik“ machte Aristoteles eine wunderbar tiefsinnige Bemerkung, als er sagte, dass der Mensch zu philosophieren beginnt, wenn die Bedürfnisse des Lebens abgedeckt sind. Durch die Beseitigung der alten entwürdigenden Abhängigkeit von Männern und Frauen von materiellen Dingen wird der Sozialismus die Basis für eine radikale Veränderung der Art des Denkens und Handelns einführen. Trotzki führt aus, was in einer klassenlosen Gesellschaft geschähe:
„Im Sozialismus wird Solidarität die Grundlage der Gesellschaft sein. Alle Gefühle, die wir Revolutionäre in der Gegenwart nur besorgt benennen – so sehr wurden sie von Heuchelei und Vulgarität ausgedünnt – wie unvoreingenommene Freundschaft, Liebe zum Nächsten, Sympathie, werden die mächtig klingenden Saiten sozialistischer Poesie sein.“ (Trotzki: Literatur und Revolution. S. 60)
Die Ketten der Klassenunterdrückung und Sklaverei sind nicht nur materielle, sondern auch psychologische und spirituelle. Es wird Zeit brauchen, auch nach der Abschaffung des Kapitalismus, um die psychologischen und moralischen Narben dieser Sklaverei auszumerzen. Männer und Frauen, die ihr Leben lang in untertänigem Geist herangebildet worden sind, werden ihr Bewusstsein und ihre Seelen nicht sofort von alten Vorurteilen befreien können. Doch wenn die sozialen und materiellen Bedingungen gegeben sind, Männern und Frauen den Zugang zu wirklich menschlichen Beziehungen zu ermöglichen, wird sich ihr Verhalten und ihre Denkungsart gleichfalls verändern. Wenn dieser Tag dämmert, werden die Menschen keine Polizei brauchen – weder materieller noch spiritueller Natur.
Die antiken griechischen Sophisten waren sehr scharfsinnige Philosophen und erklärten, dass „der Mensch das Maß aller Dinge“ ist. In einer klassenlosen Gesellschaft wäre das zweifelsohne der Fall. Aber wo Männer und Frauen wirklich volle bewusste Kontrolle über ihr Leben und ihr Schicksal haben, welcher Platz bleibt für das Übernatürliche? Statt nach einem imaginären Leben über das Grab hinaus zu dürsten, werden die Menschen ihre Energien darauf konzentrieren, dieses Leben so schön und erfüllend wie möglich zu machen. Das ist die innere Bedeutung des Sozialismus: konkret zu machen, was potenziell immer vorhanden war.
In dieser höheren Form menschlicher Gesellschaft werden sich Männer und Frauen zu ihrer wahren Größe erheben. Sie werden die Welt von aller Armut, allem Hass und aller Ungerechtigkeit reinigen. Sie werden unseren Planeten wieder in seiner natürlichen Herrlichkeit herstellen, seine Flüsse, Meere und Wasserfälle werden wieder sauber und all die wunderbare Vielfalt des Lebens wird geschützt und geschätzt werden. Die verstopften, überfüllten Städte werden abgerissen und mit aller Sorgfalt und künstlerischer Kreativität, mit der Menschen ihre Umwelt beschenken sollten, neu gebaut werden. Die Tiefen des Ozeans werden entdeckt werden und ihre letzten Geheimnisse preisgeben. Schließlich und endlich werden wir unsere Hände zum Himmel ausstrecken – nicht zum Gebet, sondern in Raumschiffen, die die Menschheit zu den äußersten Rändern unserer Galaxie und vielleicht darüber hinaus bringen werden. Wenn Männer und Frauen solch unbegrenzte Ausblicke menschlichen Fortschritts, den wir durch eigene Anstrengungen und Ressourcen und ohne irgendwelche Geister erreichen können, genießen, welcher Raum sollte da für Zuflucht zur Religion bleiben? Die Menschen werden die alten Ansichten aufgeben, sobald sie entdecken, dass sie sie nicht mehr brauchen.
In der Bibel kann man Worte großer Weisheit finden, wie bei den Briefen an die Korinther, in denen wir lesen: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“ (1. Korinther, 13,11) Dasselbe passiert in der Entwicklung unserer Spezies. Wenn die Menschheit schließlich ihr Schicksal erfüllt und fähig ist, auf eigenen Beinen zu stehen und das Leben voll zu leben, wird sie nicht mehr der Stütze der Religion, eines übernatürlichen Wesens zum Anbeten oder eines falschen Trosts des Lebens in einer anderen Welt als dieser bedürfen. Wenn dieser Moment kommt, wird die Menschheit die Religion mit derselben Leichtigkeit abschütteln, mit der Menschen die Märchen zur Seite legen, die sie in ihrer Kindheit so geliebt haben, aber ihre Nützlichkeit überlebt haben.