Eine Analyse der jüngsten Zuspitzung der Krise auf den internationalen Finanzmärkten von Michael Roberts.
Während wir diese Zeilen schreiben, befinden sich die Finanzmärkte in der Wall Street, New York, der City of London und anderswo in einer schweren Krise. In gerade mal 24 Stunden gingen zwei der vier größten US-Investmentbanken Pleite. Lehman Brothers ist nach 158 Jahren nur mehr Geschichte, 25000 Beschäftigte haben weltweit ihren Job verloren.
Merrill Lynch, die weltweit größte Investmentbank, wurde von der Bank of America auf Anordnung der US-Finanzbehörden übernommen. Ansonsten wäre auch Merrill Lynch zusammengebrochen, was wiederum mehrere andere Banken (man spricht von 15) in den Ruin getrieben hätte.
Dazu muss man noch die Pleite von Bear Stearns im Frühjahr dieses Jahres zählen.
Um das Bild noch abzurunden erklärte die größte Versicherungsgesellschaft der USA, die AIG, dass sie 40 Mrd. $ benötigt, um der Pleite zu entgehen, und bat die US-Notenbank um einen Kredit bevor es zu spät ist!
All das passierte nur eine Woche nachdem Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden weltweit größten Hypothekenbanken, nationalisiert werden mussten, um die US-amerikanischen Häuslbesitzer und die ganze Branche vor dem Ruin zu retten. Nur so konnte der völlige Zusammenbruch des Immobilienmarktes abgewandt werden. So griff selbst die Administration von Präsident Bush zum Mittel der Verstaatlichung!
Wie konnte der Kapitalismus in ein derartiges Schlamassel schlittern?
Die bürgerlichen ÖkonomInnen haben im Grunde keine schlüssige Erklärung für diese Krise. Einige sagen, es liege an der Gier der Vorstände in den Banken, die sich in halsbrecherische Investitionen verstiegen haben und zu viel Kredite an Menschen hergegeben haben, die diese nichts zurückzahlen können. Andere meinen, die Schuld liege bei der US-Notenbank und anderen Zentralbanken, weil diese die Zinsraten so niedrig gehalten haben, was wiederum zu viele Menschen veranlasst habe Kredite aufzunehmen. Andere sagen, die Zentralbanken hätten bei der Regulierung der Banken und Investmenthäuser versagt. Mit besseren Kontrollmechanismen hätte rechtzeitig verhindert werden können, dass die Finanzgeschäfte nicht mehr mit den nötigen Fonds abgesichert waren.
Doch vielleicht bietet uns die Geschichte des britischen Reiseunternehmens XL, welches diese Woche Konkurs anmelden musste (worauf Hunderte ihren Job verloren haben und Tausende nicht mehr an ihren Urlaubsorten festsaßen), einen Erklärungsansatz dafür, warum dieser globale Finanz-Tsunami so viele Finanzinstitute hinweg spült.
Der Vorstandsvorsitzende von XL erklärte der Öffentlichkeit unter Tränen in den Augen, warum sein Unternehmen nun am Ende ist: der massive Anstieg des Erdölpreises hatte die Kosten des Unternehmens vor allem für Treibstoff dramatisch ansteigen lassen; als er versuchte zusätzliche Finanzmittel aufzutreiben, fand er keine Banken, die ihm zu vernünftigen Konditionen und Zinssätzen einen Kredit gewährt hätten. Genau darin liegt das Problem. Die Kreditkrise hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, dass die Banken nicht mehr länger bereit sind, Geld zu vernünftigen Zinsen an Unternehmen herzuborgen. Unternehmen, die wirtschaftlich unter Druck geraten, werden so in den Konkurs getrieben – und da wird im nächsten Jahr noch einiges auf uns zukommen!
Warum sehen sich die Banken nicht mehr imstande weiterhin so großzügig Kredite zu gewähren? Der Grund ist, dass sie bereits so viel Geld in den Sand gesetzt haben, weil sie bei den meisten Werten, die sie in den letzten 5-6 Jahren erworben haben, Abschreibungen machen mussten. Jetzt müssen sie die Notbremse ziehen und stoppen die Kreditvergabe. Sie müssen neues Kapital und neue Investoren finden, bevor sie wieder das Kreditgeschäft ankurbeln können. In der Zwischenzeit verbleiben sie verängstigt durch die jüngsten Entwicklungen in einer abwartenden Position. Selbst anderen Banken wollen sie nicht aushelfen. Das ist auch der Grund, warum Bear Stearns, Lehman, Northern Rock und andere Pleite gingen – niemand wollte ihnen Geld borgen.
Was sind das für Assets, die so viel an Wert eingebüßt haben? Großteils handelt es sich um sogenannte hypothekengestützte Wertpapiere. In der Hochblüte des Immobilienmarktes erhielten Banken und Immobiliengesellschaften von den Sparern ausreichend Geld, das sie dann an Menschen weiter verliehen, die ein Eigenheim kaufen wollten.
Einige Banker begannen aber in der Hoffnung auf schnellere und höhere Profite ein wenig “innvoativer” zu werden. Sie borgten sich von anderen Banken Finanzmittel aus und leihten diese dann für Hypotheken aus. Vor allem in den USA und Britannien waren diese Praktiken sehr weit verbreitet. Ein gutes Beispiel ist Northern Rock, das bis Mitte der 1990er Jahre eine eher verschlafene Immobiliengesellschaft war, die dann in eine “Bank” mit Shareholdern und einem aggressiven Management umgebaut wurde, um möglichst hohe Renditen für die Investoren (nicht die Sparer) rauszuholen.
Doch das war noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Viele Banken entwickelten einen neuen Trick und verkauften Hypotheken als Bonds und Wertpapiere an andere Banken und Finanzhäuser. Auf diesem Weg „diversifizierten“ sie ihre Risken auf andere. Außerdem stampften sie neue, rechtlich selbständige Unternehmen aus dem Boden, welche all diese Verbindlichkeiten übernahmen. Das bedeutete, dass sie munter weiter machen konnten, immer mehr ausborgten, um dieses Geld dann in Hypothekengeschäfte zu stecken. Bald schon wurden viele Banken, die ursprünglich genügend Geldmittel hatten, um zumindest 10% ihrer Schuldscheindarlehen zu decken, so geschwächt, dass sie nur noch 5% decken konnten, die großen US-Banken gar nur mehr 2%. Der Grad der Fremdfinanzierung stieg ins Unermessliche und lag nun beim 50fachen des Geldes, das die Banken tatsächlich zur Deckung von Verlusten zur Verfügung hatten.
Aber alles kein Problem – der US-Immobilienmarkt florierte ja. Die Banken borgten Geld her, die Immobilienpreise stiegen, die Hauseigentümer konnten die Kredite zurückzahlen und noch größere Kredite aufnehmen. Die Banken vergaben in dieser Phase Kredite sogar an Menschen, die über kaum ein Einkommen verfügten, in der Hoffnung, dass die Werte für Eigenheime weiter steigen werden, was wiederum als Sicherheit für die Kredite galt.
Doch dann drehte sich alles in sein Gegenteil. Ab dem Jahr 2006 begannen die Immobilienpreise langsam zu fallen. Damit sank aber auch die Fähigkeit vieler Haushalte Kredite zurückzuzahlen. Der Hypothekenmarkt brach ein. Diese „Assets“ waren plötzlich nichts mehr wert. Das Risiko war bereits diversifiziert, so dass eine Vielzahl von Mitspielern hart getroffen wurden, als die Krise ausbrach.
Warum brach der Immobilienmarkt ein? Warum ging der Boom, der immerhin 18 Jahre lang andauerte, nicht weiter? Ich erlaube es mir, eine Antwort zu geben. Der moderne Kapitalismus funktioniert nach bestimmten Bewegungsgesetzen. Das wichtigste Bewegungsgesetz des Kapitalismus ist die Rentabilität.
Wie Marx zeigte, ist die Profitrate der Schlüssel zu Investitionen und Wachstum in einem kapitalistischen System: Kein Profit, keine Investitionen, in weiterer Folge kein Einkommen und keine Jobs. Doch die Rentabilität bewegt sich, wie wir in anderen Texten mehrfach nachgewiesen haben, in Zyklen: Für eine gewisse Zeit lang wird die Rentabilität zunehmen, dann geht sie zurück.
Doch der Profitzyklus ist nicht der einzige im Kapitalismus. Es gibt auch einen Zyklus bei Grundstückspreisen oder im Bauwesen. Der Zyklus bei Immobilienpreisen scheint durchschnittlich rund 18 Jahre zu dauern. Der US-amerikanische Ökonom Simon Kuznets entdeckte die Existenz dieses Zyklus bereits in den 1930ern. Dieser Zyklus geht nicht Hand in Hand mit dem aus marxistischer Sicht zentralen Profitzyklus. Letzterer ist ein Produkt der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Akkumulation und geht im produktiven Sektor der Ökonomie vor sich (und damit meinen wir „produktiv“ im marxistischen Sinn, d.h. der Sektor, in dem es zur Produktion von Wert kommt).
Im Gegensatz dazu ist der Zyklus bei Immobilien im unproduktiven Sektor der kapitalistischen Ökonomie wirksam. Der in den produktiven Sektoren der Ökonomie geschaffene neue Wert und dabei angeeignete Mehrwert wird von den unproduktiven Sektoren abgeschöpft, wenn die Kapitaleigentümer ihre Profite und die ArbeiterInnen ihre Löhne ausgeben. Ein großer Anteil der Konsumausgaben geht in den Bereich Wohnen. Somit spiegelt der Zyklus bei Immobilienpreisen sehr gut das Ausgabeverhalten von KapitalistInnen und ArbeiterInnen wider, nicht aber die Profitabilität des Kapitals.
Aus diesen Gründen haben der Zyklus bei Immobilien ein anderes Timing als der Profitzyklus.
Das massive Ansteigen der Immobilienpreise in den USA wie auch in anderen Teilen der Welt, stellte eine gewaltige Verschiebung von Ressourcen in unproductive Sektoren der Ökonomie, wo keine neuen Profite durch Investitionen in neue Technologien und eine Steigerung der Arbeitsproduktivität gemacht werden. In der Folge wurde dadurch vielmehr die Fähigkeit des Kapitalismus in neue Technologien zu investieren, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, reduziert. Wir hatten es mehr oder weniger zur Gänze mit einem Prozess zur Schaffung fiktiven Kapitals zu tun. Das zeigt sich vor allem an einer Tatsache. Wenn man die Bewegung der Immobilienpreise von 1991 bis 2006 misst, dann wird man sehen, dass sich in den USA der Preisindex für diesen Bereich gemessen am Wert von 1991 verdoppelt hat. Doch die Kosten für den Bau eines Hauses, einschließlich dem Kauf von Baugrund, waren überhaupt nicht gestiegen. Die Hauspreise waren also völlig entkoppelt vom realen Produktionswert eines Hauses. Dieser Markt war somit ein einzigartiger Bereich für Finanzspekulation. Als dann die Preise für ein Eigenheim in keiner Relation mehr zu den Einkommen jener Menschen standen, die diese Häuser kauften, brach der Markt schlussendlich ein.
Der Kapitalismus funktioniert nicht entlang einer steten, aufwärts strebenden Linie zu immer mehr Fortschritt. Dieses System wird von einem Zyklus aus Auf- und Abschwüngen beherrscht, und diese Dynamik kann auch sehr gewaltsame Formen annehmen. Dieser von Chaos und Anarchie gekennzeichnete Charakter des Kapitalismus findet seine Entsprechung sowohl im Profitzyklus wie auch im Zyklus auf den Immobilienmärkten.
Was bedeutet das jetzt alles? Mit größter Wahrscheinlichkeit werden noch mehr Banken Pleite gehen. Die Finanzmärkte werden so schnell nicht aus der Krise herauskommen. Wir haben zwar kein Mitleid, wenn reiche Investoren ihr Geld verlieren, doch es muss uns klar sein, dass im Finanzdienstleistungsbereich unzählige Arbeitsplätze verloren gehen. Das sind nicht die Jobs jener an der Spitze, die eigentlich für diese Krise verantwortlich sind – denn diese haben sich längst abgesichert. Wir reden von Zehntausenden Beschäftigten, die im Finanzsektor arbeiteten und nicht zu den Top-Verdienern zählten, ihre Ersparnisse oft auch noch in Aktien von jenen Instituten investiert haben, bei denen sie beschäftigt waren, und die jetzt ohne soziale Absicherung dastehen.
Der Zusammenbruch des Finanzsektors wird international zu einem ernsthaften Wirtschaftseinbruch führen. Die Anzeichen dafür sehen wir bereits in den USA, der EU und Japan. Unternehmen werden der Reihe nach dicht machen, Arbeitslosigkeit und Inflation werden stark ansteigen.
Die Politik steht all dem äußerst hilflos gegenüber. Dies gilt für die rechtskonservative Adinistration von Bush in den USA wie für die New Labour-Regierung in London. In gewisser Hinsicht verschließt New Labour in seiner absoluten Unterordnung unter das Modell einer „freien, deregulierten Marktwirtschaft“ sogar noch mehr die Augen vor dem wahren Ausmaß der Krise als es die Republikaner tun. In den USA wurden Hyopthekenbanken bereits nationalisiert, in Britannien ist die Regierung einfach nur geschockt und stammelt etwas von der „schwersten Krise seit 60 Jahren“ daher.
Letztendlich wird der Kapitalismus diese Krise überstehen, außer es wird der Herrschaft des Kapitals ein bewusstes Ende gesetzt. Eine Erholung der Ökonomie setzt aber voraus, dass die Rentabilität des Kapitals wieder hergestellt wird. Dazu müssen jedoch massiv Arbeitsplätze vernichtet und schwache Unternehmen von den stärkeren übernommen werden. Diesen Prozess sehen wir bereits im Finanzsektor, und er wird bald schon die gesamte Wirtschaft erfassen.