Teil 1 einer neuen Broschüre zur sich entwickelnden Krise der Weltwirtschaft. Von Alan Woods.
Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten. Die finanzielle Panik in den USA erzeugt Wellen, die die gesamte Welt zu überfluten drohen. Das verändert das Bewusstsein von Millionen Menschen. Ende September gab es eine Demonstration, zu der der Gewerkschaftsdachverband New York Central Labor Council aufgerufen hatte, an der ungefähr 1000 ArbeiterInnen teilnahmen, Bauarbeiter, Stahlarbeiter, Installateure, Rohrleger, aber auch LehrerInnen, Stadtangestellte und andere.
Das Ziel dieser Demonstration, die innerhalb von zwei Tagen organisiert worden war, war der Protest gegen den Plan des Präsidenten, die Wall Street mit einem massiven Geschenk von 700 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern aus der Klemme zu helfen. Hier ist der Bericht von der Nachrichtenagentur Reuters über den Protest:
„Schutzhelme, Transitarbeiter, Maschinenbauer, LehrerInnen und andere GewerkschafterInnen demonstrierten am Donnerstag gegen den Regierungsvorschlag, der Wall Street aus der Klemme zu helfen. Einige hundert Demonstranten unterstützten ihre Gewerkschaftsführer lautstark und enthusiastisch, als diese das 700-Milliarden-Dollar-Paket zur Wiederbelebung der Kreditmärkte zum Aufkauf fauler Darlehen und Kreditpapiere anprangerten.“
„ 'Die Bush-Regierung will, dass wir die Kosten für die Wall-Street-Sanierung tragen, die jedoch nicht im geringsten an die Wurzel unserer momentanen Krise geht', sagte John Sweeny, der Präsident des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO. 'Wir wollen, dass unsere Steuergelder für die Millionen Werktätigen ausgegeben werden und nicht für eine privilegierte Gruppe überbezahlter Manager.' "
„Auf den Transparenten und Schildern konnte man 'Keine Blankoschecks für die Wall Street' und 'Unsere schwerverdienten Renten sind nicht für die Raffkes' lesen. Die Demonstranten forderten die Regierung wiederholt auf, das Geld für die Bildung, das Gesundheitswesen und den Wohnungsbau genauso freigiebig und bereitwillig auszugeben wie für die Wall Street. 'Wir wissen, dass die wirtschaftliche Situation gelöst werden muss. Aber wir wollen eine verantwortungsvolle Rettung, keine opportunistische Sanierung', sagte der Präsident der Lehrergewerkschaft UFT Randi Weingarten. ‚Jeder Boss sagt mir, es gibt eine Verantwortung der LehrerInnen, also sollte es auch eine Verantwortung der Wall Street geben', erklärte er.“
Die Stimmung der Demonstranten war gereizt. Auf die Forderung nach einem Generalstreik, falls die Sanierung nur den Reichen zugute komme, gab es viele positive Reaktionen. Das widerspiegelt den Beginn einer grundlegenden Veränderung im Bewusstsein der Arbeiterklasse, und das nicht nur in den USA.
Ein „Jahrhundertereignis“
Die Ereignisse auf den Finanzmärkten in den letzten Monaten sind in der jüngeren Geschichte ohne Beispiel. Dieselben Ökonomen, die zuvor die Möglichkeit eines Abschwungs dementierten, sprechen jetzt von der schlimmsten Krise seit 60 Jahren. Alan Greenspan, der ehemalige Präsident der US-Notenbank, hat die gegenwärtige Finanzkrise als „ein wahrscheinliches Jahrhundertereignis“ bezeichnet.
Sie meinen tatsächlich die schlimmste Krise seit 79 Jahren. Aber Ökonomen sind zu abergläubisch, um 1929 zu erwähnen, genauso wie die Israeliten Angst davor hatten, den Namen Gottes zu erwähnen, weil sonst etwas Unangenehmes passieren könnte. Sie sind alle über das Vertrauen in die Märkte beunruhigt, da sie alle inbrünstig glauben, dass das (fehlende) Vertrauen die wirkliche Ursache für Auf- und Abschwünge darstellt. In Wirklichkeit jedoch basieren Auf- und Abschwünge auf objektiven Bedingungen. Der Anstieg oder die Abnahme von Vertrauen widerspiegeln reale Bedingungen, obwohl es selbst Teil dieser Bedingungen werden kann und den Markt anzutreiben hilft oder – wie in diesem Fall – nach unten zu drücken.
In den letzten Monaten haben AIG, Bear Stearns, Fannie Mae, Freddie Mac, Lehman Brothers und Merrill Lynch, Gesellschaften, von denen man gedacht hatte, sie seien zu groß, um Bankrott zu gehen, entweder die Insolvenz beantragt, sind von der Regierung gerettet oder verstaatlicht worden. Jetzt, wo den Menschen allmählich die Bedeutung der Wirtschaftskrise klar wird, entsteht in der Gesellschaft eine Stimmung, die man seit Jahren so nicht wahrgenommen hat. Heute morgen (am 26. September) kam die Nachricht vom Zusammenbruch einer weiteren US-amerikanischen Bank, der Washington Mutual, die von der US-Regierung geschlossen wurde. Das war der bislang letzte Bankrott einer US-amerikanischen Bank, und die gesamten Bankbestände wurden der J. P. Morgan Chase für 1,9 Milliarden Dollar verkauft. Hierbei handelt es sich um einen finanziellen Tsunami, der noch lange nicht vorbei ist.
Die Schätzungen der Ökonomen werden immer weiter nach unten revidiert. Vor sechs Monaten schätzte der Internationale Währungsfonds, dass die Verluste im Finanzsektor mehr als 1 Billion Dollar (691 Mrd. €) betragen würden und sagte einen starken Rückgang der Weltwirtschaft voraus. Die meisten Ökonomen kritisierten dies, weil es ihnen zu pessimistisch erschien. Inzwischen hat sich ihre Meinung geändert. Dominique Strauss-Kahn schreibt in der Financial Times:
„Aber jetzt, da ein Großteil der Verluste erst noch bevorsteht und die Finanzkrise akut geworden ist, ist eines klar: Damit die Wirtschaft in den USA und weltweit auch nur halbwegs normal funktionieren kann, ist nichts Geringeres als eine systemische Lösung notwendig. (FTD, 24.09.08)
Die US-Wirtschaft funktioniert tatsächlich „auch nur halbwegs normal“. Zumindest für die Wall Street kann man sagen, das sie zum Stillstand kommt. Die Finanzmärkte der USA sind momentan so gut wie gelähmt, da sie auf die Zustimmung für das riesige Finanzpaket warten, mit dem die Regierung hofft, „Vertrauen zurück zu gewinnen“. Die Tatsache, dass der „freie Markt“ für sein eigenes Überleben auf enorme Zuwendungen durch die US-Steuerzahler angewiesen ist, ist ein ausreichender Beweis für seinen – im wahrsten Sinne des Wortes – vollständigen Bankrott.
Hier offenbart sich die endgültige Antwort auf die gesamte Rhetorik über die „unsichtbare Hand des Marktes“, den Geist des freien Unternehmertums etc. In der Stunde der Wahrheit müssen die mutigen und tapferen Unternehmer aus der Wall Street und der City von London wie Bettler mit dem Hut in der Hand zur Regierung gehen und um soziale Sicherheit bitten. Nur sind diese Bettler Milliardäre und fragen nach Geld und drohen, wenn sie es nicht bekommen.
Was ist daran „halbwegs normal“, wenn eine von den Republikanern geführte Administration, die von einem fanatischen Anhänger der „freien Marktwirtschaft“ geleitet wird, eine bedeutende US-Investmentbank verstaatlicht? Oder wenn das US-Finanzministerium diesen gigantische Subventionen in Höhe von einer Billion Dollar gewährt? Am Sonntag gaben Morgan Stanley und Goldman Sachs ihre Versuche auf, die beiden einzigen unabhängigen Investmentbanken zu bleiben und wurden in Holding-Gesellschaften umgewandelt, um erweiterten Zugang zu Bankeinlagen und ständigen Zugang zur Liquiditätsunterstützung durch die US-Notenbank zu erhalten. Die Eliminierung der beiden angesehensten Institutionen der Wall Street war ein Indiz für den Ernst der Krise. Die Geschwindigkeit, mit der sich Morgan Stanley Richtung Asien auf der Suche nach Kapital begab, unterstrich, wie schnell sich das Kapital aus den USA entfernte.
Der Kongress schwankt und US-Finanzminister Henry Paulson (der nach Meinung einiger Kommentatoren momentan der eigentliche US-Präsident ist) kocht vor Wut. Mittlerweile fallen die Kurse weiter und niemand kann das aufhalten. Ein weiteres Argument hört man wiederholt im Kongress: Ihr verlangt, dass wir diese Milliarden ohne Kontrolle und ohne Garantie aushändigen. Abgesehen von der Tatsache, dass wir damit die Banker für ihr großes Missmanagement belohnen: Wer sagt denn, dass diese Maßnahme überhaupt den Niedergang des Marktes aufhalten kann?
Das ist eine ausgezeichnete Frage, auf die weder Paulson noch Bush, noch sonst jemand eine Antwort weiß. Es ist ziemlich amüsant zu sehen, wie die ehemaligen Advokaten der Unverletzlichkeit des freien Marktes nun nach Regierungseingriffen rufen, um den Markt vor sich selbst zu retten. Aber sie sind in ihrer eigenen Logik gefangen, in der verrückten Logik der freien Marktwirtschaft. Die jetzige Finanzkrise, die von uns MarxistInnen schon vor langer Zeit vorhergesagt worden war, ist das direkte Ergebnis einer langen Phase unkontrollierter Spekulation, welche die größte Blase der Geschichte produzierte.
Als die US-Regierung am Freitag ihre Finanzspritze in Höhe von 700 Milliarden Dollar verkündete, frohlockten die Märkte. Aber dann schlug sich die Stimmung ins Gegenteil um, als der Kongress seine Zustimmung für diese massive Subvention verzögerte. Angesichts des Tumults an der Wall Street hielt sich der US-Dollar bis Montag überraschend gut, er fiel dann aber im Hinblick auf die Besorgnis über die Kosten des Finanzpaketes und dem anfälligen Zustand des US-Bankensystems zurück und ließ den Preis für Waren, die in der US-Währung berechnet werden, in die Höhe steigen. Der Dollar verlor zwei Prozent gegenüber den wichtigsten Währungen und ließ den Euro um 2,6% auf über 1,48 Dollar ansteigen
Der Ölpreis hat mit seinen wilden Aufs und Abs einen fieberhaften Charakter erlangt. Als der Dollar fiel, gingen auch die Vorräte zurück und der Ölpreis stieg nach dem vorhergehenden steilen Fall wieder an. Am Montag, 22. September 2008, kam es zu einem Anstieg auf 17 Prozent, das ist der bisher größte Tagesanstieg, der sogar größer war als während des Einmarsches in den Irak. Am Dienstag fiel der Ölpreis wieder um drei Dollar auf 106 Dollar pro Barrel und es gibt gute Gründe zu erwarten, dass die Energiepreise weiter fallen. Diese enormen Schwankungen widerspiegeln einerseits die Entwicklung des Dollars, andererseits die Aktivitäten derjenigen, die am Spekulationsgeschäft beteiligt sind.
Bis vor kurzem spekulierten die Kapitalisten am Immobilienmarkt. Als dieser zusammenbrach, suchten sie nach andern Feldern, die sie ausbeuten können, nach allem, was so aussieht, als ob es profitabel sein könnte: Öl, Kunstwerke, Nahrungsmittel. Trotz aller Klagen und Forderungen nach Regulierung kann diese Spekulation nicht kontrolliert werden. Sie ist wie eine Hydra: Schlägt man einen Kopf ab, erscheinen Dutzend andere.
Sozialismus – für die Reichen
Infolge der ökonomischen und sozialen Erschütterungen beginnen viele Menschen, den Charakter eines Wirtschaftssystems, das solche Gräuel verursachte, zu hinterfragen. Wenn der kapitalistische Staat selbst gezwungen ist, Finanzinstitute zu verstaatlichen, könnte diese Vorstellung Allgemeingut werden: Warum brauchen wir überhaupt private Banken und Kapitalisten? Aus diesem Grund vermeiden die Politiker das Wort Verstaatlichung wie der Teufel das Weihwasser. Mit allen Mitteln versuchen sie Wege zu finden, um die Banken mit Kapital zu versorgen und eine Verstaatlichung zu umgehen. Sie bemühen sich Kapitalformen zu finden, welche den Besitz und die Kontrolle in Privathand belassen. Aber im Endeffekt müssen sie die maroden Banken gegen ihren Willen übernehmen, um diese vor einem Zusammenbruch zu retten. Das ist eine vernichtende Anklage gegen das Privateigentum in einem zentralen Wirtschaftssektor.
Obwohl es paradox erscheint, so ist es doch kein Zufall, dass das Land, in dem die Politiker am lautesten gegen die Sünden des Marktes und die Gier der Banker schreien, gerade die USA sind. Das Land des freien Unternehmertums, das Land, in dem die Psychologie des Kapitalismus bis ins Knochenmark der Menschen verinnerlicht wurde, ist das Land, in dem es zu den schärfsten Reaktionen gegen das Großkapital gekommen ist. Diese Tatsache widerspiegelt sich in den Reden der Politiker, besonders in denen der beiden Präsidentschaftskandidaten. Und der republikanische Kandidat wird in seiner Rhetorik noch deutlicher als der Demokrat, weil er gern gewinnen möchte. McCain sieht, dass es eine Gegenbewegung gegen die überdimensionalen Gehälter in den Vorstandsetagen der Großkonzerne und die skandalöse Spekulation an der Wall Street gibt und er sagt, was die Leute hören wollen.
Ist es nicht grotesk, dass die Bosse der nicht mehr bestehenden Investmentbank Bear Stearns massenhaft Reichtümer anhäuften, während sie waghalsige Geschäftsstrategien verfolgten, die zum Zusammenbruch des Unternehmens führten? Und warum sollten die US-amerikanischen Steuerzahler, von denen die meisten nicht wohlhabend sind, die Rechnung von 700 Milliarden Dollar zur Rettung der großen Finanzinstitute begleichen? Am 30. September 2007 hatten die USA ein Haushaltsdefizit in Höhe von 53 Milliarden Dollar, das sind 455.000 Dollar pro Haushalt und 157.000 Dollar pro Person. Diese Last steigt jährlich um 6.600 – 9.900 Dollar für jeden einzelnen US-Amerikaner. Das Defizit des staatlichen Gesundheitssystem Medicare beträgt 34 Milliarden Dollar und der zu Medicare gehörende Treuhänderfonds wird innerhalb von zehn Jahren aufgebraucht sein. Das Programm zur sozialen Sicherheit wird voraussichtlich in zehn Jahren eine Einnahmeunterdeckung aufweisen. Wer auch immer die Präsidentschaftswahlen gewinnt oder die Mehrheit im Kongress hat, wird über tief greifende Einschnitte in den Lebensstandard der US-Bürgerinnen entscheiden müssen. Dieselben Kapitalisten, die Milliarden von der Regierung und der Notenbank genommen haben, werden strenge Haushaltskontrollen, Haushaltskürzungen und eine umfassende (d.h. eingeschränkte) Reform beim Zugang zur staatlichen Gesundheitsfürsorge fordern.
Es ist kein Geld da für Medicare, Schulen oder Renten. Aber es steht genug Geld für die Großbanken und Bonzen zur Verfügung. Dieser eklatante Widerspruch wird sich in das Bewusstsein von Millionen normaler US-AmerikanerInnen einbrennen und in der Zukunft enorme Konsequenzen haben. Die schwere Schuldenlast wird auf den Schultern der kommenden Generationen gelegt werden, die mit sinkendem Lebensstandard und Kürzungen bei den Sozialausgaben einen hohen Preis bezahlen müssen. Dies wird unausweichlich zu einer grundlegenden Änderung im Bewusstsein führen.
So kann die US-amerikanische Öffentlichkeit eine Lektion lernen. Es ist kein Geld für Schulkinder, Kranke oder alte Menschen da, aber wenn es ums Großkapital (und kein Wirtschaftszweig ist größer als das Bankwesen) geht, zückt der Staat das Scheckheft. Für die Misere der Armen zeigt die Bush-Administration nur Verachtung. Im Land der Freien Marktwirtschaft hat jeder Bürger das Recht reich zu werden. Wenn Menschen darauf bestehen, arm zu bleiben, ist das ihre eigene Schuld. Entweder sie zeigen ein bisschen Initiative oder kriechen ansonsten in einen Graben und verrecken. Das ist die strikte Botschaft der republikanischen Propheten des freien Marktes. Wenn es aber um die Superreichen geht, zeigt George W. Bush seine mitfühlende Besorgnis. Denn es ist wahrlich geschrieben: „Derjenige, der hat, dem soll mehr gegeben werden und er wird im Überfluss leben; aber demjenigen, der nichts hat, soll alles genommen werden, selbst das, was er besitzt.“
Wir wissen, dass Präsident Bush streng an die Bibel glaubt. Aber wir können vermuten, dass seine Motive für sein Eingreifen in die Finanzkrise rein gar nichts mit christlicher Nächstenliebe zu tun haben, vielmehr mit Verzweiflung. Die herrschende Klasse der USA sah einen Abgrund, der sich unter ihren Füßen öffnete und wurde gezwungen, Panikmaßnahmen zur Vermeidung einer globalen Rezession zu ergreifen. Aus diesem Grund sieht sich ein fanatischer Anhänger des freien Marktes gezwungen, den Banken 700 Milliarden Dollar Steuergelder vor die Füße zu werfen.
Diese bemerkenswerte Initiative wurde national und international vom Markt mit Beifall aufgenommen. Die G7-Staaten erklärten, ihre Mitglieder „begrüßen die von den USA getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen“. Andere Nationen jedoch teilten mit, dass sie keine dringende Notwendigkeit zur Schaffung eigener Fonds zum Aufkauf fauler Kredite sähen. Die Kapitalisten in Europa und anderswo lehnen sich zufrieden zurück und lassen die US-Amerikaner die Drecksarbeit machen. Waren sie nicht schließlich diejenigen, die das gesamte Durcheinander verursacht haben? In den USA stellt man sich an jeder Straßenecke und im Kongressgebäude dieselbe Frage.
Der Präsident stieß mit seinem Vorgehen beim US-Kongress auf ein Problem. Es soll nicht heißen, dass die Kongressabgeordneten sich weniger dem Überleben des Kapitalismus widmen als der momentane Amtsinhaber im Weißen Haus. Für sie aber ist das eigene Überleben von noch größerer Bedeutung. Sie spüren die zunehmende Gegenbewegung gegen den Kapitalismus, den Markt, die Banker, und die Wall Street. Die Maßlosigkeitkeit des Geschenkes (denn darum handelt es sich hier wirklich) ist augenscheinlich. Es bedeutet, dass jedem US-Amerikaner 9400 Dollar aus dem Geldbeutel genommen und auf die Konten der Leute eingezahlt werden, die diese Krise in erster Linie verursacht haben. Diese Fakten sind dabei behilflich, dass sich die Gedanken der Kongressabgeordneten wunderbar konzentrieren, vor allem weil die Wahlen vor der Tür stehen.
Die Demokraten haben weitere Maßnahmen zur Wiederbelebung der US-Wirtschaft gefordert, die sich auf die Erhöhung der Ausgaben für die Infrastruktur, Heizkostenzuschüsse und wahrscheinlich weitere Preisnachlässe für Verbraucher konzentrieren. Aber die Administration und viele Republikaner sind dagegen. Geld für die Banker? Natürlich! Aber Geld für normale US-Amerikaner? Tut uns leid, der Geldschrank ist leer. Das war alles zu viel für die sanften Seelen im Kapitol, die ihre gesamte Zeit damit verbringen, sich um die Interessen der Nation zu kümmern.
Wie man erwarten konnte, hat der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama in einer Rede seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht, in der sich für eine Modernisierung der Regulierung der Finanzmärkte, eher auf der Basis der Aktivitäten der Institute als auf ihre Identifikation als Banken und Hypothekenmakler, aussprach. „Wir können Washington keinen Blankoscheck ohne Aufsicht und Verantwortung ausstellen, wenn eine nicht vorhandene Aufsicht und Verantwortung uns überhaupt erst in dieses Chaos gestürzt hat", sagte er.
Etwas überraschender war vielleicht die Reaktion des republikanischen Kandidaten, der nicht hinter seinem Rivalen zurückbleiben wollte (denn schließlich sind Worte im Wahljahr wertlos): „Bei dieser Vereinbarung habe ich meine tiefsten Bedenken“, sagte John McCain. „Nie zuvor in der Geschichte unserer Nation hat sich soviel Macht und Geld bei einer Person konzentriert. Wenn wir von einer Billion Dollar Steuergelder sprechen, reicht es nicht aus zu sagen 'Vertraut mir.'“
McCain brachte sogar die Forderung der Demokraten nach einem jährlichen Manager-Höchstgehalt von 400.000 Dollar für Vorstände der Firmen, deren Schulden mit öffentlichen Geldern übernommen wurden, zum Ausdruck. Das steht in vollständigem Widerspruch zur Position der Bush-Administration, die darauf besteht, dass ein Höchstgehalt Banken von der Mitwirkung abhalten würde.
Ranghohe Demokraten in beiden Häusern in Washington versandten Vorschläge, die u.a. auf striktere Kontrollen abzielen sowie Vorschläge, wonach die Regierung Anteile an Unternehmen übernehmen kann, Konkursrichter Hypotheken abschreiben können und Managergehälter bei Banken, die Anteile an die Regierung verkaufen, begrenzt werden sollen. Minister Paulson widersetzt sich Zahlungen oder der Übertragung von Anteilen an die Regierung als Voraussetzung für den Verkauf von Vermögenswerten an den Fond und begründet dies damit, dass damit sichergestellt werden könne, dass nur gefährdete Banken mitwirken.
Dieser Konflikt sowie die Forderungen der Demokraten nach mehr Kontrolle über das den Banken überlassene Geld führte zum Patt und Verzug, was wiederum die Märkte aufbrachte. Schließlich ist der Markt daran gewöhnt, dass man seinen Forderungen gehorcht. Die gewählten Vertreter der Nation sollen keine kritischen Fragen stellen. Präsident Bush forderte den Kongress auf, „alle Kräfte auf das Gesetz zur Rettung der Banken und auf die Lösung der Krise in unseren Finanzmärkten zu konzentrieren.“
Aber der Kongress steht unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die, wie berichtet, sich dem Siedepunkt nähert. Die Kongressabgeordneten werden mit Telefonanrufen und E-Mails regelrecht bombardiert, in denen sich die Wähler über die skandalösen staatlichen Geschenke an die Reichen beschweren. Sie ignorieren diese Stimmung bei Strafe ihres Untergangs. Darum haben sie sich bei der Zustimmung zur Rettungsaktion zurückgehalten. Der Präsident kritisiert den Kongress, weil er einen Deal verzögert, der angeblich die US-Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahren soll (Bush nahm in einer einzigartigen Fernsehrede an die Nation eben solche Worte in den Mund).
Kongressabgeordnete konnten ihr Temperament nicht zügeln, sie brüllten sich gegenseitig an und es kam fast zu Schlägereien. Wann gab es auf dem Kapitol in Washington jemals solche Szenen? Aber dann muss man auch fragen: Gab es jemals zuvor in der Geschichte eine solche wirtschaftliche Kernschmelze? War die US-Bevölkerung jemals so rebellisch und wütend? Die Abgeordneten sind nur deshalb so aufgebracht, weil sie das Feuern unter ihrem Hintern spüren.
Ganz egal was sie machen – sie werden das Falsche tun. Wenn sie zustimmen, dann werden sie sich den Hass von Millionen Amerikanern zuziehen. In einem Interview mit dem britischen Fernsehen kommentierte eine Amerikanerin das Programm zur Rettung der Banken mit Verbitterung: „Ich habe gerade eine elfstündige Schicht hinter mir und habe eine 60-Stunden-Woche. Jetzt soll ich aus meinem Lohn 2.300 Dollar für die Bänker abführen!“ Damit spricht sie offensichtlich für Millionen Durchschnittsamerikaner. Sollten die Abgeordneten aber ihre Zustimmung verweigern, so werden die US-Aktienkurse noch mehr in der Keller purzeln. Dies könnte einen völligen Zusammenbruch wie 1929 einleiten. Anders ausgedrückt: Sie stecken in der Klemme.
Der Pessimismus der Bourgeoisie
Die Bourgeoisie leidet an periodische Anfällen manischer Depression mit extremen Stimmungsschwankungen. Auf beiden Seiten des Atlantik, wo es zuvor einen irrationalen Überschwang gab, herrscht jetzt eine Art Weltuntergangsstimmung. Das war immer so; die Bourgeoisie schwankt immer zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Wenn es schließlich zu Zusammenbruch kommt, ist das wie der Morgen nach einer wilden Party. Bei dem Gelage am Abend waren alle noch sorgenfrei. Und nun folgt am Morgen der Kater. Und dann schwören sie Stein und Bein, dass sie sich nie wieder besaufen werden – bis zum nächsten Gelage.
Der glanzlose Zusammenbruch des letzten spekulativen Booms ist keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Auffällig ist vor allem die Weltuntergangsstimmung; das zeigt, aus was für schwindelnden Höhen sie jetzt abstürzen. Dies war schlicht und einfach der größte spekulative Boom (Blase) in der Geschichte. Er war größer als der Aufschwung, der dem Zusammenbruch an der Wall Street vorausging. Trotz des Ernstes der Lage suchen die bürgerlichen Ökonomen nach wie vor Trost in dem Gedanken, dass alles noch viel Schlimmer hätte kommen können.
So kommentierte jüngst die Financial Times:
„Die Große Depression begann vor weniger als 80 Jahren, aber wir sind heute in einem anderen Jahrhundert. Ob dies die schlimmste Weltkrise zwischen heute und 2099 sein wird, bleibt abzuwarten, jedenfalls ist bemerkenswert, dass es zwischen den 30er Jahren und heute keine ähnlich schlimme Depression gegeben hat.“ Dieser Kommentar ist aus zweierlei Gründen interessant: Die gleichen Leute, die jahrelang bestritten, dass es überhaupt wieder so etwas wie eine Wiederholung von 1929 und der Großen Depression geben könnte, sagen jetzt, ohne mit der Wimper zu zucken, dass dies nicht nur wieder möglich ist, sondern dass es bemerkenswert sei, dass es nicht schon längst passiert ist.
Dominique Strauss-Kahn schreibt: „Es sind ungewöhnliche Zeiten. Ungewöhnlich, denn das, was sich auf den Finanzmärkten zugetragen hat, lässt sich nur als Kollaps bezeichnen. Ungewöhnlich, weil - zumindest bisher - in der breiteren Wirtschaft eine Rezession ausgeblieben ist.
Vielleicht haben sich deshalb so viele Beobachter zu dem Glauben hinreißen lassen, das Platzen der Immobilienblase sei nur eine Korrektur, die Pleiten bei den amerikanischen Subprime-Hypotheken seien nur ein Unglück und das Versagen wichtiger Kreditinstitute lediglich ein Kollateralschaden.“
Der Preisverfall in einer Krise gleicht die vorherige Inflation aus. In diesem Sinne kann man von einer „Korrektur“ sprechen. Allerdings haben wir schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass die bürgerlichen Ökonomen wiederholt die Begriffe umformuliert haben, mit denen sie einen Wirtschaftseinbruch beschreiben, um ihn zu beschönigen. Einmal sprachen sie von Panik, dann von Einbruch, dann Depression und Rezession, inzwischen von einer Korrektur. Wenn wir schließlich an die wundersamen Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft glauben, die auf magische Weise ohne menschliches Zutun alles regeln, wie können wir dann dagegen sein, dass sich der Markt selbst reguliert?
Zu diesem Thema schrieben wir in den Weltperspektiven 2008:
Die Ökonomen präsentieren die Schwächung des Dollar gern als notwendige „Korrektur". Sie sagen dasselbe über die fallenden Immobilienpreise, den Zusammenbruch des US Subprime Markts, die Krise von Northern Rock in Britannien und so weiter. Alles wird als „Korrektur" dargestellt, die sich früher oder später schon wieder einrenken wird. Tatsächlich sind das Symptome, wie die Symptome einer zugrundeliegenden Krankheit oder die Erschütterungen, die ein Erdbeben ankündigen.
Man könnte das Gleiche über ein Erdbeben sagen: es kann ebenfalls als notwendige „Korrektur" dargestellt werden, die nur die Erdkruste zurechtrückt. Schließlich beruhigt sich alles wieder und das Leben geht weiter wie zuvor. Aber diese bequeme Analyse lässt die furchtbare Spur der Verwüstung, die ein Erdbeben anrichtet, außer Acht: die vom Angesicht der Erde gelöschten Dörfer, die entwurzelten Bäume, die vernichteten Ernten, die tausenden Toten und Verletzten. Auch geht das normale Leben nicht so einfach wieder weiter. Manche Erdbeben können so verheerend sein, dass die Auswirkungen noch viele Jahre danach zu spüren sind.“
Diese Zeilen sind eine sehr genaue Beschreiben der Konsequenzen dieser „Korrektur“.
Die Diktatur des Finanzkapitals
Dies ist die Epoche des Monopolkapitalismus. Dazu gehört die völlige Vorherrschaft des Finanzkapitals, die in den USA und Großbritannien weiter fortgeschritten ist als in anderen wichtigen Ländern. Großbritannien, einstmals die Werkstätte der Welt, ist zu einer Wirtschaft der parasitären Kouponschneider und Zinsprofiteure geworden, die wenig produziert und vom Finanz- und Dienstleistungssektor beherrscht wird. Bis vor kurzem wurde dies als etwas Positives dargestellt, das Großbritannien von den Turbulenzen der Weltwirtschaft abschirmen könnte. Aber genau das Gegenteil ist wahr. Durch sklavische Nachahmung des US-amerikanischen Modells wird Großbritannien jetzt im Schlepptau der USA in die Rezession gezogen und dürfte wahrscheinlich am stärksten davon erfasst werden. Wie ein parasitärer Wurm, der sich in einem Wirtsorganismus eingenistet hat und auf dessen Kosten fett wird, ist der Finanzsektor im Vergleich zur Wirtschaft insgesamt zu groß geworden und zehrt an ihrer Stärke und droht sie völlig zu untergraben.
Es ist ein elementarer Lehrsatz, dass alles, was steigt, auch wieder fallen muss. Über lange Jahre hinweg schien in der US-Wirtschaft das Gesetz der Schwerkraft nicht mehr zu gelten. Jetzt muss dafür der Preis bezahlt werden. Der jetzt eingeleitete Absturz ist daher umso steiler, weil das Ausmaß der Spekulation auf dem Gebiet der Immobilien in den letzten Jahren schwindelnde Höhen erreicht hat. Der Absturz ist schon jetzt tiefer als der Niedergang der Immobilienpreise in der Großen Depression der 1930er Jahre. Im ersten Quartal 2008 gingen die Immobilienpreise in den USA offiziell um 14,1 Prozent zurück. Demgegenüber betrug der Rückgang 1932, auf dem Tiefstpunkt der Krise, 10,5 Prozent. Diese Zahlen stellen zudem nicht die ganze Wahrheit und den Ernst der Lage dar. Einige Ökonomen sprechen davon, dass der reale Preisrückgang im ersten Quartal 2008 bei 16 Prozent liegt. Und der Preisverfall hält unvermindert an.
Dies bedeutet, dass riesige Summen, die man jetzt den Banken zu ihrer Stützung in den Rachen wirft, den Absturz nicht anhalten können, sondern bestenfalls eine vorübergehende Atempause bringen, der ein weiterer und noch tieferer Absturz folgt. Dies ist die Logik des Marktes, der nur seine eigenen Gesetze kennt. Die sogenannten Stabilisierungspläne sind nichts wert. Das ganze Gerede von einer Regulierung der Märkte ist völliger Blödsinn. Das kapitalistische System ist von Natur aus anarchisch und lässt sich weder planen noch regulieren. Der Versuch, riesige Geldsummen in den Finanzsektor zu pumpen und diesen somit zu stabilisieren, macht die Superreichen nur noch reicher. Er wird aber keine langfristige Stabilisierung bringen.
Die Dreistigkeit der Bankiers ist erstaunlich. Sie fordern, dass die Regierung ihre faulen Kredite aufkauft und kleben weiter an ihren profitablen Werten fest. Niemand weiß, wieviel diese Anteile und Titel wirklich wert sind. Ein altes Sprichwort sagt: Kaufe nie die Katze im Sack. Dies ist ein guter Rat, doch derzeit soll die Regierung den Kapitalisten Milliardensummen zur Verfügung stellen, ohne in den Sack zu schauen. Die Krise des Bankensystems ist das Ergebnis massiver Betrügereien, an denen sich alle Bankiers in den letzten beiden Jahrzehnten beteiligt haben. Dadurch sind sie unerhört reich geworden und dadurch haben sie eine riesige Summe von Schulden und fiktivem Kapital in den Bilanzen der Finanzhäuser hinterlassen. Und wie soll jetzt dieses kleine Problem gelöst werden? Ganz einfach: Die Rechnung übernimmt der Steuerzahler. Die Regierung gründet eine Agentur, übernimmt diese Anteile und hält sie solange, bis sie wieder „reif“ sind und an Private zurück verkauft werden können. Das ist eine Sozialisierung der Verluste und Privatisierung der Gewinne, oder, wie es Gore Vidal treffend ausgedrückt hat: Sozialismus für die Reichen und freie Marktwirtschaft für die Armen.
Die Kapitalisten behaupten, dass auch sie jetzt Opfer machten. In Wirklichkeit opfern sie lediglich einen kleinen Teil ihrer aufgeblähten Profite, während die Arbeiterklasse ihre Existenzgrundlage und ihre Häuschen opfert. Die Bankiers stoßen Schmerzschreie aus und schon kommt die Regierung angerannt und zückt das Scheckheft. Die Bankiers fordern hohe Geldsummen zur Heilung ihres Leidens – die so genannte „Geldflüssigkeit“. Das Problem ist nur, dass der Staat keine große Geldflüssigkeit hat und das Geld nur aus Steuern erheben kann. Aber eine allgemeine Steuererhöhung schmälert die Nachfrage, die in den USA schon jetzt sinkt. Dadurch kann vielleicht zeitweilig das „Leiden“ der Superreichen gelindert werden, aber das Leiden von Millionen Menschen in den USA wird größer. Dies ist an sich für die Reichen noch kein Grund zur Beunruhigung, denn die Masse der patriotischen US-Amerikaner muss nach ihrer Ansicht eben für die größere Sache der Marktwirtschaft leiden. Leider wird dies aber schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft haben.
Ein weiterer Nachfragerückgang wird die Arbeitslosigkeit steigern. Betriebe gehen pleite. Noch mehr Menschen können ihre Hypotheken und Kreditkartenschulden nicht mehr zurückzahlen. Anders ausgedrückt: Die Krise wird sich verschärfen und eine Lösung wird noch schwieriger werden. Hinzu kommt, dass die USA in den letzten Jahren von der größten Gläubigernation zur größten Schuldnernation geworden sind. Der Aufkauf von nahezu wertlosen Papieren und milliardenschwere Finanzspritzen durch die Regierung werden diese kollektive Verschuldung weiter auftürmen. Dies drückt zwangsläufig den Wechselkurs des Dollars gegenüber anderen Währungen nach unten und bewirkt so weitere Erschütterungen der weltweiten Geldmärkte.
Notenbanken sollen gewährleisten, dass Bankkonten sicher sind und durch Bereitstellung von Geld verhindern, dass verunsicherte Sparer die Banken stürmen. Aber die Mittel der Notenbanken sind begrenzt und diese Grenze ist jetzt rasch erreicht. Vermutlich haben sie inzwischen das meiste getan, was sie tun könnten. Bei einer neuen Bankenkrise werden sie dann machtlos dastehen. Da kein Mensch auch nur die geringste Ahnung hat, wie viele faule Kredite und ungedeckte Schulden immer noch das Weltfinanzsystem vergiften, sind solche Krisen in der nächsten Zeit unvermeidlich. Früher oder später führt das zum Zusammenbruch der einen oder anderen Großbank. Dies wiederum könnte dann die Weltwirtschaft ebenso erschüttern wie seinerzeit im Mai 1931 der Zusammenbruch der größten österreichischen Bank, der Creditanstalt. Dies geschah damals erst zweieinhalb Jahre nach dem katastrophalen Kurseinbruch an der New Yorker Wall Street im Oktober 1929 und markierte den Anfang des finanziellen Zusammenbruchs in Mitteleuropa und weit darüber hinaus. Es ist durchaus möglich, dass wir jetzt wieder auf eine ähnliche Entwicklung zusteuern.
Was Marx über fiktives Kapital sagte
Nicht der Mangel an Geld ist die Ursache der Krise, sondern vielmehr verursacht die Krise einen Geldmangel. Bürgerliche Ökonomen mit ihrer Bänkermentalität verwechseln hier Ursache und Wirkung und die Erscheinung mit dem Wesen der Sache. Kommt die Wirtschaft in die Krise, so versiegen die Kreditströme und verlangen die Menschen Bargeld. Das ist die Auswirkung der Krise, wird aber wiederum zu ihrer Ursache und drückt die Nachfrage nach unten und löst somit eine weitere Spirale aus.
Die Bankiers und ihre Freunde in der Regierung behaupten, dass die Krise aus der Tatsache herrühre, dass das Finanzsystem zu wenig Kapital habe. Eine solche Aussage ist schon erstaunlich. Denn in den letzten beiden Jahrzehnten gab es eine wüste Geldorgie, in der die Banken riesige Profite scheffelten. Und jetzt behaupten sie, dass sie nicht genug Kapital hätten! Im Aufschwung war eine riesige Menge Kreditkapital in Umlauf; dieser Geldüberfluss an sich schon war ein Hinweis auf die Grenzen der kapitalistischen Produktion. Dies waren riesige Kapitalbeträge, mit denen spekuliert wurde, die keine Anlagemöglichkeit fanden und daher mussten die Kapitalisten andere Einsatzmöglichkeiten schaffen.
Vor langer Zeit erklärte Marx, dass das Ideal des Kapitalisten darin bestünde, aus Geld Geld zu machen, ohne sich dabei dem schmerzhaften Produktionsprozess unterziehen zu müssen. In der letzten Zeit schien diese Idee tatsächlich zu funktionieren – abgesehen von China, wo es eine reale Entwicklung der Produktivkräfte gab. In den USA, Großbritannien, Spanien, Irland und vielen anderen Ländern investierten die Banken Billionen in Spekulationsobjekte, vor allem Immobilien. Auf dieser Grundlage entstand und blühte der Subprime-Hypotheken-Skandal und es wurden Unmengen fiktiven Kapitals gebildet.
Schon zu Lebzeiten von Karl Marx gab es riesige Mengen zirkulierenden Kapitals, das die Grundlage für fiktives Kapital bildete. Damals gab es Kreditbetrügereien – das Pendant der heutigen Derivate. Im Vergleich zu heute allerdings war damals die Spekulation unbedeutend. Das gesamte Ausmaß der Spekulation hat heute global schwindelnde Höhen erreicht. Als Beispiel hierfür sei der blühende Handel mit Credit Default Swaps (CDS) genannt, also Kreditderivaten zum Handeln von Ausfallrisiken von Krediten, Anleihen oder Schuldnernamen. In diesem Bereich können zwei Vertragspartner Wetten abschließen auf die Wahrscheinlichkeit der Zahlungsunfähigkeit einer Firma. CDS sind auf spekulative 90 Billionen Dollar angewachsen. Das entspricht vermutlich mehr als der doppelten Summe aller ausstehenden Kredite weltweit. Diese Verträge sind nur in den Büchern der Vertragspartner niedergeschrieben und sonst nirgendwo. Niemand kennt den realen Umfang dieser Geschäfte, von denen ein gewaltiges Risiko für die Weltwirtschaft ausgeht. Das erklärt die aktuelle Panik an der Wall Street und im Weißen Haus. Zurecht fürchtet man dort, dass eine ernsthafte Erschütterung das gesamte instabile Gebäude des internationalen Finanzsystems zum Einsturz bringt – mit unvorhergesehenen Folgen.
Selbst im 19. Jahrhundert, mitten im Aufschwung, als Kredit leicht zu bekommen war und das Vertrauen in die Wirtschaft wuchs, wurden die meisten Transaktionen ohne reales Geld abgewickelt. Zu Beginn des Zyklus gibt es einen Überfluss von Kapital und einen niedrigen Zinssatz. Der niedrige Zinssatz fördert die Unternehmensprofite in der Frühphase des Zyklus und regt das Wirtschaftswachstum an. Später – in der Hochkonjunktur – erreicht der Zinssatz einen Durchschnittswert. Die Nachfrage nach Krediten steigt und daher sollten die Zinsen auf dem Höhepunkt der Konjunktur steigen. Aber im zurückliegenden Aufschwung war das nicht so.
In den letzten Jahren verfolgte die US-Notenbank Federal Reserve eine Politik, die die Zinssätze gezielt und bewusst niedrig hielt (zeitweilig waren sie inflationsbereinigt sogar negativ). Dies war vom orthodoxen kapitalistischen Standpunkt aus unverantwortlich. Dies schuf die Immobilienblase und bereitete die Grundlage für die aktuelle Krise vor. Aber solange sich damit riesige Profite erzielen ließen und die Investoren zufrieden zu stellen waren, kümmerte das keinen. Alle waren in dieser Profitorgie überglücklich. Selbst die respektabelsten Bankiers und die geschultesten Ökonomen stimmten ein in das Lied: „Esst, trinkt und seid fröhlich, denn morgen werden wir sterben!“
Jetzt beschweren sie sich über eine unzureichende Kapitalausstattung, weil ein Großteil ihres Vermögens fiktiv ist – ein Ergebnis nie dagewesener Betrügereien im gesamten Finanzsystem. Solange der Aufschwung anhielt, nahm niemand daran Anstoß. Aber jetzt ist der Aufschwung dahin und die Wirtschaftskrise da und werden alle diese Anlagen kritisch hinterfragt und abgeklopft. Die Bankiers, die gestern noch einander riesige Schulden abkauften, sind dazu heute nicht mehr bereit. Misstrauen und Argwohn herrschen vor. Der alte unbekümmerte Optimismus ist einer knauserigen Haltung gegenüber Schulden und Krediten gewichen. Das gesamte Banksystem, auf das sich die Zirkulation des Kapitals stützt, kommt zum Stillstand.
Solange nicht alle Schrottanlagen verschwinden, werden viele Institutionen nicht ausreichend Kapital zur Verfügung haben, um frische Kredite in die Wirtschaft zu pumpen. Marx beschrieb schon vor langer Zeit diese Etappe des Wirtschaftszyklus:
"Daß es in der Periode der Krise an Zahlungsmitteln fehlt, ist selbsteinleuchtend. Die Konvertibilität der Wechsel hat sich substituiert der Metamorphose der Waren selbst, und grade zu solcher Zeit um so mehr, je mehr ein Teil der Geschäftshäuser bloß auf Kredit arbeitet. Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung, wie die von 1844/45, kann diese Geldkrise erschweren. Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.
In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muß augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar. Und in der Tat handelt es sich nur um die Konvertibilität der Wechsel in Geld. Aber diese Wechsel repräsentieren der Mehrzahl nach wirkliche Käufe und Verkäufe, deren das gesellschaftliche Bedürfnis weit überschreitende Ausdehnung schließlich der ganzen Krisis zugrunde liegt. Daneben aber stellt auch eine ungeheure Masse dieser Wechsel bloße Schwindelgeschäfte vor, die jetzt ans Tageslicht kommen und platzen; ferner mit fremdem Kapital getriebne, aber verunglückte Spekulationen; endlich Warenkapitale, die entwertet oder gar unverkäuflich sind, oder Rückflüsse, die nie mehr einkommen können. Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, daß nun etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihren alten Nominalwerten kauft. Übrigens erscheint hier alles verdreht, da in dieser papiernen Welt nirgendswo der reale Preis und seine realen Momente erscheinen, sondern nur Barren, Hartgeld, Noten, Wechsel, Wertpapiere. Namentlich in den Zentren, wo das ganze Geldgeschäft des Landes zusammengedrängt, wie London, erscheint diese Verkehrung; der ganze Vorgang wird unbegreiflich; weniger schon in den Zentren der Produktion.“
(Das Kapital, Band 3, DREISSIGSTES KAPITEL, Geldkapital und wirkliches Kapital, http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_493.htm)
Die Kapitalisten müssen jetzt dieses ganze fiktive Kapital aus dem System herauspressen. Wie ein Mensch, dessen Körper vergiftet wurde, oder ein Drogenabhängiger, der gegen die schlimmen Folgen seiner Sucht kämpft, müssen sie das Gift aus ihrem Organismus absondern oder untergehen. Aber dies ist ein schmerzhafter Prozess und er bringt neue Gefahren für den Organismus mit sich. Angesichts einer schrumpfenden Wirtschaft und eines Austrocknens der Kreditzuflüsse rufen die Kapitalisten ihre Schulden wieder zurück. Wer nicht zahlen kann, geht pleite. Die Arbeitslosigkeit wird zunehmen, dies wiederum schwächt die Nachfrage. So sind neue Pleiten und Schuldenkrisen vorprogrammiert. Kurzum: Alle Faktoren, die den Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Periode angeschoben haben, schlagen jetzt in ihr Gegenteil um.
Fortsetzung folgt...