Dürfen sozialdemokratische Abgeordnete dem Budget eines bürgerlichen Staates zustimmen? Rosa Luxemburg beantwortete diese Frage vor 100 Jahren in einer Polemik gegen den reformistischen Flügel der SPD.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in der deutschen Sozialdemokratie eine heftige Debatte, ob die Abgeordneten der Partei in den bürgerlichen Parlamenten dem Budget zustimmen dürfen oder nicht. Entgegen dem ursprünglichen, von August Bebel ausgearbeiteten Standpunkt, der die Zustimmung zum Budget prinzipiell ablehnte, stimmten damals zusehends sozialdemokratische Abgeordnete in süddeutschen Landtagen für das Budget. Ihr Argument lautete, dass der Großteil des Budgets ohnedies für „Kulturausgaben“ – womit damals Ausgaben für den zivilen Verwaltungsapparat, staatliche Infrastrukturbetriebe, das Bildungswesen etc. bezeichnet wurden – und nicht für den staatlichen Unterdrückungsapparat ausgegeben wird und die Bevölkerung eine ablehnende Haltung nicht verstehen würde. Aus taktischen Überwägungen sei daher die Zustimmung zum Budget notwendig.
Rosa Luxemburg schrieb vor dem Parteitag von 1901 zwei Artikel, in denen sie die grundsätzliche Herangehensweise der MarxistInnen in der Sozialdemokratie zu dieser Frage verteidigte:
„Seit der bürgerliche Parlamentarismus existiert, gilt die Bewilligung des Finanzgesetzes als ein Vertrauensvotum, die Ablehnung dagegen als Äußerung des Misstrauens gegenüber dem Staate. (…) Die Sozialdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre Opposition nicht bloß gegen diese oder jene, sondern gegen jede bürgerliche Regierung, weil gegen den Klassenstaat schlechthin richtet. Die Verweigerung der materiellen Mittel an diesen Staat kann für uns ebenso wenig eine Frage der Zweckmäßigkeit sein wie unser Kampf gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, wie unser Bestreben, das Lohnsystem zu beseitigen und den Sieg des Proletariats herbeizuführen. (…) Ob das Budget mehr oder weniger Militärausgaben oder Kulturausgaben enthält, diese quantitativen Erwägungen wären für uns nur in dem Falle maßgebend, wenn wir im allgemeinen auf dem Boden des heutigen Staates ständen und bloß seine Auswüchse, so zum Beispiel des Militärstaats, bekämpfen. Tatsächlich verweigern wir dem Deutschen Reiche die Mittel des steuerzahlenden Volkes nicht bloß deshalb, weil es ein Militärstaat, sondern vor allem, weil es ein bürgerlicher Klassenstaat ist.”
Luxemburg zeigt auf, dass die „Kulturausgaben“, also Finanzmittel für den Verwaltungsapparat, Polizei und Justiz, staatliche Infrastrukturbetriebe, die Landwirtschaft (sprich dem Großgrundbesitz), das Bildungssystem, die „zum überwiegenden Teil aus den Taschen der unvermögenden Volksmasse entnommen werden“, nichts anderes als Ausdruck der „ganzen Klassenpolitik“ der Regierung sind, „die sich in ihrer gesamten Tätigkeit als der ‚verwaltende Ausschuss der herrschenden Bourgeoisie’ bewährt“. Sie schreibt: „Wenn wir nämlich auch ohne weiteres zugeben, dass der heutige Staat wie jede andere geschichtliche Organisation der Gesellschaft bestimmte gemeinnützige Funktionen ausführt, so verlieren wir doch nicht aus dem Auge, dass die Art und Weise, wie er sich dieser Funktionen entledigt, in allem das Gepräge der bürgerlichen Klassenherrschaft trägt. Wir sind selbstverständlich für die Entwicklung des Verkehrswesens, aber nicht für die Eisenbahnpolitik des kapitalistischen Staates. Wir sind für die Hebung des Volksunterrichts, aber nicht in seiner heutigen Form. Wir wünschen öffentliche Ordnung und Ruhe, aber verdammen die heutige vom Geiste des Privateigentums beherrschte Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung. Es sind somit nicht (…) bloß überflüssige Ausgaben, was wir an einem heutigen Staate auszusetzen haben, sondern wir müssen als Sozialdemokraten das gesamte Tun und Lassen des Klassenstaates bekämpfen. Dieser kapitalistische Charakter jeder Handlung, jeder Einnahme und jeder Ausgabe des Staates lässt sich aber nicht in Zahlen fassen, lässt sich nicht mit irgendeinem bestimmten Posten des Budgets ablehnen. Nur durch die schließliche Ablehnung der Summa, auch dort, wo wir einzelne Posten an sich bewilligt haben, nur durch die Ablehnung des Ganzen, worin sich die materielle Existenz des Klassenstaates widerspiegelt, lässt sich unsere Opposition zum Ganzen des Klassenstaates ausdrücken.“
Aber kann es nicht so sein, dass die Budgetverweigerung durch die sozialdemokratischen Abgeordneten die bürgerlichen Parteien dann eine Koalition bilden lässt, die verschärften Sozialabbau betreiben würde? Und rechtfertigt ein solches Szenario nicht auf alle Fälle die Zustimmung zum Budget? Rosa Luxemburg antwortete darauf:
„Selbstverständlich kann es Fälle, wo wir gezwungen wären, unser Programm zu verraten, in Wirklichkeit gar nicht geben. Wir sind nicht schuld, wenn die bürgerliche Majorität zufällig unsere Budgetverweigerung zu ihren reaktionären Vorhaben benutzen kann. Wir unsererseits verweigern jede Belastung des Volkes, wir bekämpfen jede Reaktion.“
Und was ist mit der Befürchtung, dass „die Massen“ uns nicht verstehen würden?
“Wenn die Sozialdemokratie trotz aller teilweisen Reformen, die sie vom Staate fordert und hie und da auch eventuell erreicht, dem Staate bei jeder Budgetabstimmung zum Schlusse ein hartnäckiges Nein entgegensetzt, so gibt es selbstverständlich Elemente in der Bevölkerung, die ein solches Beginnen verkehrt, zwecklos, widerspruchsvoll, unpraktisch, ja wahnsinnig finden werden. Aber wer sind diese Elemente? Es werden dies Volkskreise sein, denen nur unsere praktische Tätigkeit wichtig, dagegen unsere Endziele egal sind, die in unserer Politik nur das Reformatorische und nicht das Revolutionäre unterstützen. Mit einem Worte, Elemente, die in ihrem ganzen Denken und Streben auf bürgerlichem Boden stehen.
Und umgekehrt. Wird die Sozialdemokratische Partei, trotz ihrem revolutionären Endziel und trotz der Todfeindschaft zum kapitalistischen Klassenstaat, ihm systematisch die Existenzmittel gewähren, so werden sie „die Massen“ sicher wieder nicht verstehen. Aber diesmal werden es nicht kleinbürgerliche Kreise sein, die uns nur eine lose Gefolgschaft leisten, sondern unsere eigenen Kerntruppen, die Arbeiter, denen wir jahrzehntelang einredeten, dass wir mit allen Mitteln dahin streben, den heutigen Staat in sein Gegenteil zu verwandeln, vor denen wir an diesem Staate kein gutes Haar ließen, denen wir die Unzulänglichkeit der sozialreformerischen Flickarbeit und die Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung unzählige Male erklärten.
Die sogenannte ‘Dummheit der Massen’, die seit jeher als der Sündenbock bei allerlei Prinzipienverstößen aufmarschiert, ist im Grunde genommen nichts anderes als die Beschränktheit derjenigen, die sich auf diese Dummheit berufen.“
„Die Tendenz, immer mehr das Verhalten der Sozialdemokratie zur Frage der Taktik, das heißt der Entscheidungen von Fall zu Fall, nach reinen Zweckmäßigkeitsgründen zu machen, ist überhaupt charakteristisch für diejenige Richtung in unserer Partei, der die sozialdemokratischen Grundsätze nicht als ein unentbehrlicher Wegweiser im Kampfe, sondern eher als eine Kettenkugel, als ein Hindernis zur Führung der sogenannten ‘praktischen Politik’ erscheinen. (…) Es genügt demnach, stückweise unseren ganzen Klassenkampf aus dem Bereich der Grundsätze in den der Taktik hinüberzuschmuggeln, um auf diese geistreiche und bequeme Weise zwar nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung, aber das sozialdemokratische Programm ‚auszuhöhlen’ und den Sozialismus selbst zu einer ‚Frage der Taktik’, das heißt die Partei zu einer rein bürgerlichen zu machen.
Man übersieht, dass die sozialdemokratische Taktik durchaus nicht die Mannigfaltigkeit in der Verletzung der Grundsätze der Sozialdemokratie, sondern die Mannigfaltigkeit in ihrer Anwendung darstellt.“
Die Frage der Budgetbewilligung lässt sich laut Luxemburg offenbar auf folgende Frage reduzieren: „Sollen wir sozialdemokratische oder bürgerliche Parlamentspolitik treiben?
Denn indem man dem Klassenstaat im Prinzip stets die Existenzmittel gewährt und bloß in Ausnahmefällen verweigert, indem man somit das ständige Misstrauensvotum gegen den Klassenstaat in ein zufälliges Misstrauensvotum gegen ein spezielles Ministerium verwandelt, stellt man sich grundsätzlich auf den Boden des existierenden Staates und bekämpft bloß manche seiner Einzelerscheinungen, seine ‘Unvollkommenheiten’. Es ist dies der regelrechte Standpunkt der bürgerlichen Opposition in allen ihren Abarten.”
Luxemburg erklärt auch sehr deutlich, welches Ziel die sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten mit der oben beschriebenen Herangehensweise verfolgen sollten: „Von der bloßen Budgetverweigerung werden die Mauern des kapitalistischen Jericho noch nicht fallen.” Eine prinzipielle Herangehensweise an diese Frage bringt aber einen großen Vorteil, “nämlich das Vertrauen der Volkskreise und die Achtung der Gegner, … und das gewaltige Ansehen einer unbeugsamen und ehrlichen Partei.“
Rosa Luxemburg leistete mit den hier zitierten Texten (aber auch anderen Schriften wie “Sozialreform oder Revolution”) einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung des Marxismus in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie gegen den damals aufstrebenden Reformismus. Letzterer ist nichts anderes als die Ideologie der Bürokratie in den Parteien und Gewerkschaften, die damit ihre partikularen Interessen rechtfertigt. Diese Organisationen sind heute fest in der Hand dieser Bürokratie. Doch noch immer gibt es Tausende SozialdemokratInnen, die sich den ursprünglichen Grundsätzen der Bewegung verbunden fühlen. Das theoretische Erbe von Luxemburg & Co. soll ihnen im Streben für eine klassenkämpferische, revolutionäre ArbeiterInnenbewegung die nötige Klarheit geben.