Funke-Aktivist Florian berichtet über seinen Arbeitsalltag im Telefonmarketing.
Als ich im Herbst 2020 meinen Dienst antrat, war es meine Aufgabe, am Telefon – mittels „Cold Calls“, die eigentlich seit 2003 verboten sind –, GeschäftsführerInnen von einzel- bis mittelständischen Betrieben durch manipulatives Argumentieren davon zu überzeugen, sich für ein ausführliches Interviewgespräch mit unseren RedakteurInnen Zeit zu nehmen. Man bewegte sich dabei in rechtlichen Grauzonen.
Am Beginn der Pandemie (März 2020) war die Firma für 6 Wochen in Kurzarbeit. In den weiteren Quartalen war von einer Schließung keine Rede mehr, da die Wirtschaftskammer die Weiterführung des Betriebes genehmigte. Wie essentiell unsere Arbeit für das reibungslose Weiterlaufen der Gesellschaft ist, kann sich jeder denken. Als ein Mensch, der – wenn es erforderlich ist – Tatsachen beim Namen nennt, pochte ich vehement für das regelmäßige Stoßlüften des Großraumbüros. Eine wichtige Maßnahme zum Schutz der Belegschaft gegen Covid. Meine Chefin verharmloste offensiv die Gefährlichkeit des Virus und bezeichnete die Schutzmasken als „Maulkorb“. Seine eigene Meinung standhaft am Arbeitsplatz zu vertreten, ist immer mit einem enormen Risiko verbunden. Doch wenn es um meine eigene Gesundheit geht, mache ich keine Kompromisse.
Letztendlich wurde toleriert, dass zumindest drei Mal innerhalb von 7 Stunden die Fenster geöffnet werden. Es ist die traurige Konsequenz eines profitorientierten Systems, dass der bestmögliche Gesundheitsschutz nicht an erster Stelle steht. Stattdessen wird von der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertretung, momentan in Form der türkis-grünen Bundesregierung, das Freizeit- und Sozialleben für tot erklärt, während offenbar das Zusammenkommen von Menschen aus 20 unterschiedlichen Haushalten in einem Großraumbüro, völlig ohne Bedeutung ist. Dabei belegt eine Statistik, dass 4 von 10 Infektionen mit Corona am Arbeitsplatz bzw. auf dem Weg dorthin passieren.
Über den Winter bis hin zum Frühjahr 2021 verschlechterten sich die objektiven Bedingungen im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise stetig. Viele Kleinunternehmer haben verständlicherweise Angst davor ob und in welcher Weise ihre Existenz in den nächsten Monaten bedroht sein würde. Für Investitionen (Aufträge über viele Jahre) hat man überhaupt keinen Kopf.
Dementsprechend ist die Anzahl an Terminen, die wir erfolgreich am Telefon vereinbaren konnten, immer geringer geworden. Jeder gab wirklich sein Bestes, doch in einer morgendlichen Ansprachen Ende März warf man allen anwesenden KollegInnen kollektiv Faulheit und fehlende Arbeitsmoral vor. Statt die objektive Situation anzuerkennen und zu berücksichtigen, wurde die volle Schuld am ausbleibenden Erfolg uns ArbeiterInnen in die Schuhe geschoben. Die Menschen werden mit dem Argument „Eigenverantwortung“ gespalten und isoliert. Jeder sei „seines Glückes Schmied“, jeder müsse selbst herausfinden, wie er/sie sich verbessern könne – ansonsten würde man gekündigt. Diese ideologische Gehirnwäsche mussten wir in immer kürzeren Abständen über uns ergehen lassen.
Während man den MitarbeiterInnen vor kurzem noch mit Weihnachtsgutscheinen, Riesenschnitzeln, einer Du-Kultur und angeblichen flachen Hierarchien Honig ums Maul schmierte, offenbarte sich im Auge des Hurrikans schlagartig der wahre Klassencharakter. Alle befanden sich in Schockstarre. Der Chef der Chefin kam dann noch dazu und ließ keinen Zweifel daran, wie wenig er sich um die Meinung seiner Angestellten kümmerte und dass ihn nur Zahlen interessieren.
Nachdem ich in der darauffolgenden Woche in der gesamten Arbeitszeit unglaublichen Druck und permanente Übelkeit verspürte und eine Verbesserung der Situation nicht in Sicht war, stand mein Entschluss fest: Ich kündigte. Keinen Tag länger wollte ich mich diesem Psychoterror aussetzen. Der Kapitalismus steckt in der Krise und die zunehmende Ausbeutung und Angstmacherei sind die Folge dieser Tendenz.
(Funke Nr. 193/22.4.2021)