Seit über zwei Monate fegt eine Protestwelle der Jugend durch Brasilien. Staatliche Einrichtungen, viele Universitäten und mehr als 1000 Schulen wurden besetzt. Martin Halder berichtet.
Diese Protestbewegung ist eine direkte Reaktion auf die politischen Entwicklungen der letzten Monate. Am 12. April wurde die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) unter vorgeschobenen Argumenten suspendiert, ein halbes Jahr später wurde sie offiziell ihres Amtes enthoben. Ihr wurde vorgeworfen bei den Budgetzahlen getrickst zu haben, was angesichts der Tatsache, dass breite Teile des politischen Establishments in den Korruptionsskandal rund um die halbstaatliche Ölfirma Petrobras verwickelt sind, wie ein schlechter Scherz wirkt. Auch der jetzige Präsident und mehrere Minister der neuen Regierung sind in diese Korruptionsaffäre involviert, was diese Farce noch offensichtlicher macht.
Dieser Putsch der bürgerlichen Opposition, vorne dabei die PMDB, welche kurz zuvor die Koalition mit der PT verließ, war eine politische Reaktion auf die Verschärfung der Wirtschaftskrise in Brasilien (aktuell befindet sich das Land in der tiefsten Rezession seit den 1930ern) und der sinkenden Popularität der Dilma-Regierung. Dies bedeutet aber nicht, dass der neue Präsident Michel Temer (PMDB) und die Regierung nun beliebter wären. Dieser Putsch hat in weiten Teilen der Bevölkerung die Einsicht gefördert, dass das politische System in Brasilien sehr instabil ist und man nicht wirklich von einer Demokratie sprechen kann. Es kam auch zu großen und massiven Protesten gegen den Putsch des nicht gewählten Interimspräsidenten Temer. Unter dem Slogan „Fora Temer!“ (Temer raus!) gingen Zehntausende auf die Straßen. Zu Beginn der Olympischen Spiele wurde er von der Menge so stark ausgepfiffen, dass er sich nicht einmal mehr zur Schlussfeier ins Maracanã-Stadion wagte.
Der Charakter der neuen Rechtsregierung ist der eines reaktionären Rammbocks des Kapitals, sprich es stehen Privatisierungen sowie scharfe Kürzungen bei den Pensionen, im Gesundheits- und im Bildungsbereich auf der Tagesordnung.
Temer spricht von einer „Regierung der nationalen Rettung“, womit er die Rettung der Wirtschaftselite meint, welche er repräsentiert. Er hat auch bereits angekündigt, sich bei den Wahlen 2018 nicht aufstellen zu lassen, weshalb er in aller Ruhe „unpopuläre Entscheidungen“ treffen könne. Diese Umstände sind der Zündstoff für die massiven Jugendproteste, die wir derzeit in Brasilien erleben.
Temers Spardiktat
Die Proteste nähren sich vor allem aus dem Zorn gegen die neue Regierung und deren Konterreformen. Dazu gehören die Streichung der öffentlichen Unterstützungen für StudentInnen, die älter als 20 sind, weitere soziale Kürzungen und eine angestrebte Verfassungsänderung, welche die Fixierung der öffentlichen Ausgaben an einen gewissen Prozentsatz der Wirtschaftsleistung für die nächsten 20 Jahre vorsieht. Das würde den Spardruck gerade im Bildungs- und Gesundheitssystem enorm erhöhen. Ein weiteres Thema ist die angekündigte Hochschulreform MP 746, die dazu führt, dass viele Fächer nicht mehr verbindlich angeboten werden müssen und die Privatisierung des Bildungssystems vorangetrieben wird.
Auf diese Politik antworteten SchülerInnen und StudentInnen im ganzen Land mit der Besetzung ihrer Schule oder Universität. Waren Anfang Oktober erst einige wenige Schulen besetzt, so breiteten sich bis zum Ende des Monats die Besetzungen auf über 1100 Schulen und 100 Universitäten aus. Besetzte Einrichtungen finden sich bisher in 19 der 26 Bundesstaaten. Außerdem wurden die Aufnahmeprüfungen für die Universität einen Monat nach hinten verschoben, da knapp 200.000 SchülerInnen diese auf Grund der Besetzungen verpassten. Das Zentrum der Bewegung liegt im Süden des Landes in Paraná, das als rechte und konservative Hochburg bekannt ist. In diesem Bundesstaat leben etwa zehn Millionen. Hier allein wurden 850 Schulen besetzt.
Repression und Gewalt
Der Gouverneur von Paraná, Beto Richa, setzt auch alles daran die massiven Proteste in seinem Bundesstaat zu unterbinden. So setzten die öffentlichen Stellen die Eltern der SchülerInnen unter Druck, als dies aber auch wirkungslos blieb, wurde sogar die Militärpolizei eingesetzt, um Schulen zu räumen.
Unterstützung bekommt er dabei auch vom Movimento Brasil Livre (MBL), einer rechtsextremen, neoliberalen Gruppierung, die schon zuvor offensiv für die Absetzung Dilmas mobilisiert hat. Mitglieder des MBL und anderer rechter Gruppen versuchten Besetzungen gewaltsam zu beenden. Dies gelang allerdings nicht, da AktivistInnen und linke Organisationen an vielen Schulen erfolgreich mobilisierten, um die besetzten Schulen zu verteidigen.
Den rechten Politikern und der bürgerlichen Presse scheinen allerdings alle Mittel recht zu sein. Am 24. Oktober wurde der 16jährige Lucas Mota an einer besetzten Schule erstochen. Obwohl die Tat nicht im Zusammenhang mit der Besetzung stand, hetzten konservative Medien und Politiker gegen die Protestbewegung und verlangten ihren Abbruch. So meinte der Gouverneur Beto Richa die Bewegung habe die Grenzen des gesunden Menschenverstandes überschritten. Ein Statement der Bewegung erwiderte richtigerweise, dass Lucas vielmehr ein Opfer eines Systems ist, welches unterdrückerisch ist und der Jugend keine Perspektiven bietet.
Rolle der Führung
Aber nicht nur die staatliche Repression droht die Bewegung zu schwächen. Der wahrscheinlich größte Hemmschuh für die AktivistInnen ist wie so oft die eigene Führung. Die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, die UJS (genannt Sozialistische Jugend), hat zusammen mit der Gewerkschaft der Sekundarstufe in Brasilien (UBES) sowie deren lokalen Ableger in Paraná (UPES) die Führung der Bewegung inne. Anstatt den Protesten eine kämpferische Perspektive zu geben, haben diese Organisationen eher eine bremsende Wirkung und weigern sich die Protestwelle auszuweiten. Außerdem sprechen sie sich gegen die Wahl von demokratischen Strukturen an den besetzten Schulen aus, da sie Angst haben, die Kontrolle über die Bewegung zu verlieren. Sie zielen vor allem darauf ab, die Bewegung dafür zu nutzen, von der Politik als Verhandlungspartner anerkannt zu werden.
Diese reformistische Mentalität sieht in den Protesten eher etwas Störendes und zielt rein auf eine Rückkehr an den Verhandlungstisch ab. Dabei übersehen bzw. verheimlichen ihre Vertreter aber einen wichtigen Aspekt. Soziale Errungenschaften wurden nämlich nicht primär durch das Verhandlungsgeschick von PolitikerInnen erreicht, sondern durch soziale Bewegungen erkämpft. Wer lieber auf Verhandlungen und nicht auf den Druck der Massen setzt, der beschwichtigt nur und stabilisiert so das bestehende System bzw. wird selbst zu einem Teil desselben.
Charakter der Bewegung
Trotz alledem beweist die Jugend eine gehörige Portion Kampfbereitschaft und Enthusiasmus im Kampf gegen das Spardiktat. Die meisten AktivistInnen sind erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt, die ihre ersten Erfahrungen im Kampf für ein besseres Leben machen. Die 16jährige Aktivistin Ana Júlia beschreibt es in ihrer Rede vor dem Parlament in Paraná so: „In der einen Woche der Besetzung hat wir mehr über Politik gelernt, als wir im normalen Unterricht je lernen hätten können.“
Die meisten Jugendlichen gehen natürlich auch nicht mit einem klaren Plan und klarer Perspektive auf die Straße, aber der weit verbreitete Zorn auf die Regierung und das System im Allgemeinen gibt den Protesten weiter eine sehr starke Dynamik. Viele Jugendliche wissen noch nicht genau was sie wollen, doch sie können klar sagen, dass sie die aktuellen Verhältnisse nicht mehr länger erdulden wollen. Dies ist eine Haltung, die die Massen zu Beginn einer jeden revolutionären Bewegung an den Tag legen.
Wie weiter?
Als MarxistInnen sehen wir unsere Rolle in der Arbeiterklasse und in sozialen Bewegungen darin, eine revolutionäre Perspektive und ein Programm anzubieten, mit der Bewegungen ausgeweitet und gestärkt werden können. Dabei stellt sich immer die Frage, was ist der nächste Schritt nach vorne für die Bewegung. Konkret wäre dies heute in Brasilien die Forderung nach einem landesweiten Bildungsstreik, mit dem Ziel den Widerstand der SchülerInnen und LehrerInnen auf das ganze Land auszuweiten. Neben diesem wichtigen Punkt stellten unsere GenossInnen von „Esquerda Marxista“ (der brasilianischen Sektion der IMT) auch weitere Forderungen auf, welche den Kampf gegen die Zerstörung des Lebensstandards der Massen mit einem revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus verknüpfen. Wir befinden uns in der tiefsten Krise des Kapitalismus. Wenn dieses System nicht gestürzt wird, dann geht die Entwicklung in Richtung purer Barbarei, in der ein Kahlschlag dem anderen folgt. Deshalb:
- Rücknahme aller Konterreformen
- für einen nationalen Bildungsstreik
- Weg mit der Regierung Temer und dem Nationalkongress
- Für eine verfassungsgebende Versammlung des Volkes
- Für eine Regierung der Lohnabhängigen