Am 28. April legte der größte Generalstreik in der Geschichte des Landes Brasilien für 24 Stunden lahm. Der Kampf gegen die erdrückenden Verschlechterungen der Regierung ist eine Inspiration. Die Entwicklung und Perspektive der Bewegung beschreibt Martin Halder.

Am 12. April 2016 wurde die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff (PT, Arbeiterpartei) unter vorgeschobenen Argumenten institutionell ihres Amtes enthoben. Der Senat setzte dann den konservativen Michel Temer ins Amt. Dieser nach wie vor ungewählte Amtsinhaber setzt auf eine Politik der Einsparungen und Repressionen.

Die Wirtschaft Brasiliens steckt seit 2014 in einer tiefen Krise, die hauptsächlich auf den Preisverfall der Hauptexportgüter – geschuldet der fallenden Rohstoffnachfrage in China – zurückzuführen ist. Die brasilianische Wirtschaftselite will ihre Wettbewerbsfähigkeit – natürlich auf dem Rücken der Lohnabhängigen – schlagartig verbessern. Der Charakter der neuen Rechtsregierung erfüllt genau diesen Zweck. Sie ist der offene Rammbock gegen die sozialen Errungenschaften der Massen. So folgt eine Verschlechterung der anderen.

Im Dezember letzten Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Staatsausgaben für die nächsten 20 Jahre an die Wirtschaftsleistung des Landes anpasst. Damit wurde der Sparzwang für eine Generation festgeschrieben. Auf der Tagesordnung steht ebenso eine Arbeits- und Pensionsreform, die die Ausweitung der Arbeitswoche von 44 auf 48 Stunden, sowie die gesetzliche Festlegung des Pensionsantrittsalters bei Männern auf 65 und bei Frauen auf 62 Jahre bedeuten würde. Ein 69-jähriger Hafenarbeiter in Rio de Janeiro sagt dazu sehr treffend: „Der Staatspräsident will, dass die Menschen mehr arbeiten und weniger leben. Seine Rente kriegt man nur noch, wenn man stirbt.“ Dass das politische Establishment, so auch mehrere Regierungsmitglieder (und Temer selbst), gleichzeitig in Korruption und Selbstbereicherung verwickelt ist, steigert den Hass auf diese Regierung. Nur 4% der Bevölkerung bewertet die Regierung als gut. 87 Prozent missbilligen den Präsidenten

Massiver Generalstreik

Die Politik der permanenten Einsparungen führt zu permanentem Protest. Regelmäßig gibt es Demonstrationen, Streiks, sowie eine große Schulbesetzungsbewegung letztes Jahr (der Funke berichtete). Der Slogan „Fora Temer!“ („Temer raus!“) ist dabei in aller Munde. Diese Stimmung bündelte sich am 15. März in einem nationalen Aktionstag mit weitreichenden Streiks und großen Straßendemonstrationen. Doch dies war noch nicht alles. Am 28. April wurde zum ersten Mal seit 21 Jahren ein Generalstreik ausgerufen. Mit 35 Millionen Streikenden war er der bisher größte in der brasilianischen Geschichte.

Die Polizei begegnete den Protesten mit massiven Repressionen und setzte Tränengas, Gummigeschoße und Schreckbomben gegen friedliche Kundgebungen ein. Temer und die rechten Medien zogen einzelne Ausschreitungen heran, um die Proteste in ein negatives Licht zu rücken, und redeten die Bedeutung dieser Massenaktionen klein. Der große Kraftakt des Generalstreiks und der Arbeiterklasse ist allerdings nicht zu leugnen. Der Streik deckte nahezu alle Branchen ab. Ob Bus, Bahn, Taxis, Schiffe oder Fähren, der öffentliche Verkehr wurde durch den Streik zum Erliegen gebracht. Private und öffentliche Schulen sowie Banken und Universitäten wurden bestreikt. Des Weiteren legten Gemeindebedienstete, Post-, Handels-, MetallarbeiterInnen und Beschäftigte weiterer Branchen ihre Arbeit nieder. São Paulo, die größte Stadt Brasiliens, war wie abgeriegelt. Autobahnen und zentrale Straßen wurden blockiert. In der Hauptstadt Brasilia weigerten sich die BusfahrerInnen, trotz Drohungen der Polizei die Demonstrationen zu beenden. Ein streikender Bankangestellter bringt die Stimmung auf den Punkt: „Wir können nicht länger still sein, wenn wir eine illegitime Regierung haben, die nicht gewählt wurde und die Rechte der Arbeiter zerstört.“ Auch unsere GenossInnen von Esquerda Marxista (Marxistische Linke – die brasilianische Sektion der IMT) nahmen in vielen Städten in ganz Brasilien an den Protesten teil. In Florianópolis und Joinville, den zwei größten Städten im südlichen Bundesstaat Santa Catarina, führten die GenossInnen, ihrer führenden Rolle in der regionalen Arbeiterbewegung entsprechend, die Generalstreikdemos an.

Perspektive der Bewegung

So groß der Generalstreik auch war, offenbarte er die zentrale Schwäche der Bewegung – die Unzulänglichkeit der zentralen Führung der Protestwelle. Die CUT, die größte Gewerkschaft, welche eng mit der PT verbunden ist, stellt dabei die größte Hürde für die Weiterentwicklung der Bewegung dar. Obwohl der Sinn eines Generalstreiks sein muss, dass sich die ArbeiterInnen über sich selbst und ihre wahre Kraft in der Gesellschaft bewusst werden und so in ihrem Kampf offensiv nach vorn gehen können, mobilisierte die Gewerkschaftsführung sehr zaghaft. Die zentralen Gewerkschaften forderten die ArbeiterInnen nur dazu auf, zu Hause zu bleiben. Dies hatte natürlich zur Folge, dass nur ein Bruchteil der vielen Streikenden an Demonstrationen bzw. Kundgebungen teilnahm und offen mit Forderungen präsent war. In einigen Städten war die Beteiligung an öffentlichen Aktionen sogar geringer als am nationalen Aktionstag im März.

Die Gewerkschaftsführung verweigert sich der Idee eines aktiven Streiks. Die PT und der Gewerkschaftsapparat der CUT wollen nicht den Sturz der Regierung durch die Aktion der Arbeiterklasse, sondern versuchen den Hass der Massen auf die Wahlen 2018 umzulenken. Die Idee ist, dass der Vorgänger Dilma Rouseffs, der historische Führer der PT Lula da Silva, der zurzeit alle Umfragen anführt, durch Wahlen das Präsidentenamt zurückgewinnt. Dieses Zugeständnis an die herrschende Klasse wird die sozialen Probleme der Massen nicht lösen. Die PT-Führung hat in der vorigen Regierung oft genug gezeigt, dass sie auch nicht davor zurückschreckt, Einsparungen durchzuführen. Dies liegt am reformistischen Charakter der Führung, die einen Sturz der kapitalistischen Verhältnisse ablehnt. Denn wer seine Politik auf die Aufrechterhaltung des Kapitalismus baut, muss letztendlich die Regeln des Kapitals, also seine Profit- und Sparlogik, akzeptieren. Dieser Fehler offenbart sich auch in der Gewerkschaftsspitze, die es ablehnt, die Debatten über einen unbefristeten Generalstreik zum Sturz der Regierung oder über die Arbeiterkontrolle der Betriebe (die es tatsächlich schon gibt) zu verallgemeinern. Diese Forderungen und die daraus folgende Praxis würden den Rahmen des Systems sprengen und die Machtfrage stellen. Genau das ist notwendig, um den Kampf weiterzuführen und die soziale Frage zu lösen.

Die Jugend

Die sozialen Probleme spitzen sich Tag für Tag weiter zu. Mehr als 14 Millionen sind bereits arbeitslos. Ein Bespiel aus jüngster Vergangenheit verdeutlicht die schreiende Ungleichheit besonders: Der oberste Gerichtshof hat Spitzenbeamten erlaubt, mehr als 140.000 $ im Jahr zu verdienen, obwohl dies der Verfassung widerspricht. Auf der anderen Seite fristen mehr als 100 Millionen ein menschenunwürdiges Leben mit einem Mindestlohn von nur 4.000 $ jährlich.

Diese zugespitzte Situation befeuert den Klassenkampf. So zurückhaltend die Gewerkschaftsspitze auch mobilisierte, zeigte die Wucht des Generalstreiks trotzdem die Kraft und das Potenzial der Arbeiterklasse im Kampf gegen die korrupte Temer-Regierung. Die Stimmung unter den ArbeiterInnnen und vor allem unter der Jugend radikalisiert sich weiter. Viele wollen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und spielen eine sehr kämpferische Rolle. Sozialistische Jugendbewegungen erleben in den letzten Jahren einen großen Aufschwung. So auch die von Esquerda Marxista initiierte Plattform „Liberdade e Luta“ („Freiheit und Kampf“), die revolutionäre Meetings mit tausenden Jugendlichen, eine Vielzahl von Events und Lesekreisen zu Themen wie der Russischen Revolution veranstaltet. Dabei mobilisiert sie tatkräftig gegen die Angriffe der Regierung. In Joinville organisierte sie eine erfolgreiche Massenkampagne gegen ein „Knebelgesetz“, das politische Aktivitäten an Schulen verbieten will. SchülerInnen sollten sich nicht für ihre Rechte einsetzen, wenn es nach der Regierung geht. Methoden des Klassenkampfs und der offensiven Mobilisierung führten zum Erfolg dieser Kampagne. Im ganzen Land gibt es Kämpfe gegen ähnliche Gesetzesvorschläge. Hier haben zentrale Slogans und Ideen von Liberdade e Luta eine enorme Vorbildwirkung.

Es zeigt sich Folgendes: Große Teile der Jugend befinden sich auf der Suche nach einer revolutionären, kämpferischen Alternative. Diese neue Generation, die keinerlei Illusionen in einen „menschlichen“ oder demokratischen Kapitalismus hat, eignet sich jetzt schon die Lehren des Marxismus in Theorie und Praxis an. Sie wird in den kommenden Bewegungen das Banner der Revolution hochhalten und geduldig nicht nur für den Sturz der aktuellen Regierung, sondern auch des kapitalistischen Systems argumentieren.


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