Nachdem in der ersten Jahreshälfte 2017 der Sturz der bolivarischen Regierung greifbar nahe schien, hat sich das Blatt vorerst gewendet. An die Stelle des Konflikts zwischen der bolivarischen Bewegung und der konterrevolutionären Opposition tritt immer mehr der Kampf der linken, revolutionären Teile der bolivarischen Bewegung gegen ihre eigene kompromisslerische Bürokratie. Von Sandro Tsipouras.
Wer erinnert sich nicht an den Medientrubel um den angeblich bevorstehenden Untergang Venezuelas? Am 20. April 2017 hatte der FOCUS die terroristischen Aufmärsche der Opposition als „Demonstrationen gegen eine drohende Diktatur“ bezeichnet. „In Venezuela stehen die Zeichen auf Bürgerkrieg“, titelte die WELT am 4. Mai. Mit den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die am 30. Juni stattfanden, ist es der Regierung allerdings gelungen, der Opposition das Wasser abzugraben und deren terroristische Aktivität zu unterbinden, die in einem Zeitraum von drei Monaten etwa 100 Menschen das Leben gekostet hatte.
Entgegen den Behauptungen so gut wie aller westlichen Medien hatten die gewalttätigen Demonstrationen der Opposition niemals über eine Massenunterstützung verfügt. Ihre Entscheidung, die Wahlen zur Konstituante zu boykottieren, katapultierte sie endgültig ins Aus. Die Konstituierende Versammlung, die sich folglich ausschließlich aus VertreterInnen der bolivarischen Regierung zusammensetzt, ist nun das oberste Machtorgan in Venezuela. Obwohl diese Tatsache weltweit als Beweis für die „Diktatur“ aufgefasst wurde, die in Venezuela herrsche, und die Regierungen aller Herren Länder Krokodilstränen über die venezolanische Bevölkerung vergossen, die unter dieser „Diktatur“ zu leiden habe, sieht diese Bevölkerung offenbar kein Problem darin und hat bei den Regionalwahlen am 15. Oktober 2017 der führenden Kraft der bolivarischen Bewegung, der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), ein weiteres Mal zu einem entscheidenden Sieg verholfen. Die PSUV gewann diese Wahlen in 18 von 23 Bundesstaaten. Bei den Kommunalwahlen am 10. Dezember wiederholte sich dieses Ergebnis noch deutlicher, als das PSUV-geführte Bündnis GPP („Großer Patriotischer Pol“) in 305 von 330 Kommunen das Bürgermeisteramt gewann.
Die Opposition ist also vorerst besiegt. Allerdings heißt das nicht, dass die Gefahr der Konterrevolution in Venezuela gebannt wäre.
Die arme und arbeitende Mehrheit in Venezuela hat sich mehrheitlich hinter die PSUV gestellt und die gewaltsamen Versuche der Opposition, die Regierung zu stürzen, besiegt. Diese Menschen wissen genau, dass ihr Leben sich bei einem Sieg der Opposition noch erheblich verschlechtern würde. Die Führung der PSUV selbst um Präsident Nicolás Maduro aber weicht unter dem Druck der Bourgeoisie dennoch beständig zurück. Obwohl die Bourgeoisie seit Jahren die Versorgung der Bevölkerung mit dem Notwendigsten sabotiert – Nahrungsmittel, Kleidung, selbst Papier – weigert sich die „revolutionäre“ Führung, in eine revolutionäre Offensive zu gehen und die Macht der Banken und Konzerne über die Versorgung der Bevölkerung zu brechen. Die Situation schreit nach einer Verstaatlichung der gesamten Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln, aber anstatt sich dazu durchzuringen, bietet die PSUV-Führung der Bourgeoisie einen Kompromiss nach dem anderen an. Ihr wäre es am liebsten, sie könnte den politischen Ausdruck der Bourgeoisie – die terroristische Opposition – loswerden und gleichzeitig die ökonomischen Wünsche der Bourgeoisie – Aufhebung der Preiskontrollen und der Außenhandelsregulationen – erfüllen, um der Opposition den Nährboden zu entziehen und endlich in Ruhe und Frieden ihre privilegierte Stellung genießen zu können. Die Gefahr der Konterrevolution geht also nun hauptsächlich von der bürokratischen Führung der Revolution selbst aus.
Solang die PSUV buchstäblich unter Feuer, dem Feuer von Autobomben und Molotowcocktails nämlich, stand, war die Solidarität der Arbeitenden und Armen mit ihrer Führung bedingungslos. Nach der Niederlage der Opposition aber richtet sich der Widerstand der fortgeschrittensten Schichten immer deutlicher gegen die bürokratische Führung der Revolution. Das ist eine Tatsache von absolut entscheidender Bedeutung, denn nur dieser Widerstand kann die Revolution letztendlich so weit treiben, dass sie unwiderruflich mit dem Kapitalismus bricht, den Lebensstandard der Massen nach vorne katapultiert und erneut zu einem leuchtenden Beispiel für die Massen in Lateinamerika und der ganzen Welt wird, wie sie es zu Beginn schon einmal war.
Konkret zeigte sich der Widerstand an der Aufstellung von Gegenkanditaturen bei den Kommunalwahlen, die von der PSUV-Bürokratie erbittert bekämpft wurden. Meist werden diese Gegenkandidaten von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) unterstützt. In der Hauptstadt Caracas etwa trat Eduardo Samán als Kandidat für den Bezirk Libertador an. Samán ist ein entschiedener Gegner der Kapitalisten und multinationalen Konzerne. Es wurde ihm beinah unmöglich gemacht, in den Medien zu erscheinen, sein Name wurde nicht auf die Stimmzettel gedruckt und am Ende erhielt er nur 6,6% der Stimmen. Anderswo waren linke Kandidaten erfolgreicher: In Sucre besiegte Augusto Espinoza, ein Führer der örtlichen Genossenschaftsbewegung, mit 51% den Kandidaten der PSUV.
Die Bürokratie tut, was sie kann, um solche Kandidaten zu bekämpfen. Nachdem etwa der PCV-Kandidat Régulo Reyna in Lara 62% der Stimmen erhalten hatte, wurde von der staatlichen Wahlbehörde argumentiert, er habe von der Konstituante (der er auch angehört), nicht die Erlaubnis bekommen, anzutreten, weswegen seine Kandidatur nichtig sei. Es wurde versucht, das Mandat an ein anderes PCV-Mitglied, Presilla, zu übertragen, der sich allerdings weigert, bei diesem Betrug mitzumachen. Und schließlich gibt es den Fall des Aktivisten Ángel Prado, der eine führende Rolle in der Genossenschaftsbewegung in Lara spielt. Er wurde im Juli 2017 mit großem Erfolg in die Konstituante gewählt, erhielt tausende von Unterschriften für seine Kandidatur zum Kommunalrat. Doch seine Kandidatur wurde mit dem Argument abgelehnt, er brauche dafür die Erlaubnis der Konstituante, obwohl zahlreiche Mitglieder der Konstituante ebenfalls kandidieren. Auf den Stimmzetteln erschien sein Name nicht. Tausende sind seitdem nach Caracas marschiert und haben Petitionen an die Konstituante und den Präsidenten gerichtet, um ihn als rechtmäßigen Sieger anerkennen zu lassen.
Der einzige Weg nach vorne kann darin bestehen, dass diese zarten Anfänge einer revolutionären Opposition in der bolivarischen Bewegung sich landesweit organisieren, sich ein klares revolutionäres Programm geben und Demokratie, breite Partizipation der Basis und Verantwortlichkeit der Führung in der Bewegung erkämpfen, sowie die Arbeiterkontrolle und den Kampf gegen den Kapitalismus auf die Tagesordnung setzen.