Seit 18. Oktober wird Chile von Massenprotesten erschüttert. Vera Kis analysiert die Dynamik dieser Bewegung und die Rolle der chilenischen Linken.

Was als Protest von SchülerInnen gegen eine Tariferhöhungen der U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago begann, hat längst eine Massenbewegung losgetreten, die sich gegen das gesamte System richtet. Der Zahlungsboykott der SchülerInnen und Studierenden ließ sich nicht durch Repression einschüchtern und wurde zum Anstoß der größten sozialen Mobilisierungen seit Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Die Regierung reagierte mit Gewalt und Repression und ließ die U-Bahn-Stationen in Santiago schließen, was die Bewegung aber nur noch mehr anheizte. Entgegen der Erwartungen der Regierung stellten sich die Angestellten hinter die protestierende Jugend, und ihre Gewerkschaft forderte den sofortigen Rückzug der Polizei aus den U-Bahn-Stationen. Wie so oft in der Geschichte trat auch in diesem Fall die radikale Jugend eine Massenbewegung der Arbeiterklasse los. Am 22. und 23. Oktober fand ein 48-stündiger Generalstreik statt. Dieser betraf auch die weltgrößte Kupfermine. Am 25. Oktober gingen im ganzen Land über zwei Millionen Menschen auf die Straße. Das Motto lautete #La Marcha mas grande de Chile (dt. „Chiles größte Demo“).

Chile ist ein Land extremer sozialer Ungleichheit. Über die Hälfte der ArbeiterInnen verdienen weniger als 350.000 Pesos (etwa 455€) im Monat. Die Durchschnittspension entspricht ungefähr 260€/Monat, denn seit der Pinochet-Diktatur gibt es ein privates Pensionssystem, das von den individuellen Ersparnissen abhängt. Die Preise für Lebensmittel sind hingegen eher auf mitteleuropäischem Niveau. Der öffentliche Verkehr und Strom sind im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas extrem teuer. Nicht nur die Energieversorgung ist in privater Hand, sondern auch die Trinkwasserquellen, und private Konzerne missbrauchen ihre Macht, indem sie Wasser zurückhalten (etwa Flüsse austrocknen lassen) und so eine künstliche Knappheit schaffen.

Chile galt immer als Modellland des „Neoliberalismus“, schließlich war das Land unter der Pinochet-Diktatur (1973-89) quasi Testlabor für die sog. „Chicago Boys“. Da alle Organisationen der Arbeiterbewegung verfolgt wurden, nahm die soziale Ungleichheit in Chile massiv zu. Doch auch nach der Rückkehr zur Demokratie wurde dieser kapitalistische Normalzustand beibehalten, und das auch mit Unterstützung der Sozialdemokratie.

Für viele oberflächliche BeobachterInnen schien die Bewegung aus dem Nichts zu kommen, doch das ist der übliche Irrtum der EmpirikerInnen, für die Revolutionen immer unerklärlich bleiben werden, da sie kein Verständnis dafür haben, dass sich der Ärger und die Frustration der Jugend und der Lohnabhängigen über lange Zeit hinweg unter der Oberfläche ansammeln und dann plötzlich ihren Ausdruck in spontanen Massenbewegungen finden können.

Repression und Regierungsumbildung

Die Regierung Piñera reagierte mit massiver Gewalt auf die Proteste. Bis Ende Oktober wurden über 7.000 Personen verhaftet, Tausende verletzt und mindestens 20 DemonstratInnen durch die Staatsgewalt ermordet. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher. Es gibt Berichte über Vergewaltigungen, Folter und verschwundene DemonstrantInnen! Beispiele für die massive Gewalt finden sich unter #LoQueLaTeleNoMuestra (dt. „Was das Fernsehen nicht zeigt“). Doch die Menschen haben die Angst verloren. Die Repression reichte nicht mehr aus, um der Bewegung Herr zu werden. Die massive Polizei- und Militärpräsenz auf den Straßen, der Ausnahmezustand und die Ausgangssperre erwiesen sich als komplett wirkungslos.

Schließlich war der Präsident gezwungen Ausnahmezustand und Ausgangssperre wieder aufzuheben, da sie von der Bewegung einfach ignoriert wurden. Das zeigt, dass selbst der repressivste Staatsapparat angesichts einer Massenbewegung machtlos ist. Der Präsident ist mittlerweile schwer angeschlagen. In Umfragen geben etwa 80% der ChilenInnen an, dass er schlecht regiert. Piñera war schließlich gezwungen einen Großteil der Regierung zu entlassen – etwa seinen Cousin, den Innenminister Andrés Chadwick. Der Präsident selbst, der ursprünglich alle Demonstrierenden als „Terroristen“ und die Kundgebungen als von „extremistischen Organisationen“ gesteuert bezeichnet hat, heuchelt mittlerweile Gesprächsbereitschaft mit VertreterInnen der Bewegung. Er, der zunächst von „Krieg“ gesprochen hatte, gibt sich jetzt kuschelweich, um im Amt bleiben zu können. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die Eliten Piñera opfern müssen, wenn die Bewegung weitergeht. Das zeigt sich auch darin, dass bereits Teile der Unternehmerschaft, die immer die eigentliche Stütze des Präsidenten war, sich von ihm abwenden. Trotz des freundlicheren Tonfalls von Piñera geht die Repression gegen die DemonstrantInnen nach wie vor weiter.

Selbstorganisation oder Verfassungsänderung?

Diese Bewegung weiß bislang eines: Sie will Piñera loswerden, es soll nicht so weitergehen wie bisher, und die Jugend und die arbeitenden Menschen sollen nicht länger zu Gunsten einer kleinen Elite betrogen werden. Aber die Bewegung hat bislang keine sehr klare Vorstellung davon, wie die Alternative zum Status quo aussehen und wie sie ihre Ziele erreichen soll.

Um das weitere Vorgehen der Bewegung zu diskutieren, entstanden im ganzen Land spontan „cabildos abiertos“ („offene Versammlungen“), die eine lange Tradition in der lateinamerikanischen Revolutionsgeschichte haben und nach dem Prinzip einer Rätebewegung funktionieren. In einigen Fällen scheinen diese auch Formen der Selbstverteidigung der Bewegung angesichts der staatlichen Repression zu organisieren. Binnen weniger Tage verbreiteten sich die „cabildos“ im ganzen Land, von Antofagasta im Norden bis in den antarktischen Süden.

Die Massenmobilisierungen entstanden spontan von unten und kamen für die Führungen der Arbeiterparteien und des Gewerkschaftsdachverbandes CUT völlig überraschend. Letztere waren aber gezwungen auf die Bewegung, die sie nicht kommen gesehen hatten, aufzuspringen und selbst zu begrenzten Streiks und Protestaktionen aufzurufen. Eine wichtige Rolle in der Bewegung spielt mittlerweile neben der CUT auch das linke Bündnis „Mesa Unidad Social“, das die Bildung der „cabildos“ unterstützen. Leider haben auch sie, so wie andere linke Parteien (die Kommunistische Partei und ihr Umfeld, die Sozialistische Partei und das Wahlbündnis „Frente Amplio“) kein sozialistisches Programm. Sie orientieren auf eine Änderung der Verfassung, Gesetzesinitiativen, Apelle zur Einhaltung der Menschenrechte, Verfassungsklagen gegen den Präsidenten und einzelne Minister usw.

Die reformistischen Führungen der Gewerkschaft und der Arbeiterparteien sind im staatstragenden Denken gefangen und geben die Veränderung der Verfassung zur „Änderung des Wirtschaftsmodells“ als Hauptparole aus. Das ist aus unserer Sicht grundlegend falsch: Die Bewegung hat, solange sie stark ist, die Möglichkeit ernsthafte Verbesserungen für die Bevölkerung zu erzwingen und die gesamte Regierung zu stürzen, etwa durch einen unbefristeten Generalstreik. Die Massenproteste jetzt auf einen langwierigen juristischen Prozess der Verfassungsänderung zu orientieren, ist eine in dieser Situation eine völlig falsche Perspektive und würde an einem kritischen Punkt zum Abflauen der Bewegung führen. Eine neue Verfassung, die nach Vorstellung der reformistischen Linken etwa ein Recht auf Pensionen, Wohnen, Wasser, Gesundheit etc. enthalten soll, klingt zwar gut, kann aber diese Dinge für die Mehrheit der Bevölkerung nicht garantieren, solange all die Schalthebel der Wirtschaft sich in Privatbesitz befinden. Der zentralen Auseinandersetzung würde man somit aus dem Weg gehen, anstatt die Massen genau darauf vorzubereiten und dafür zu organisieren.

Verfassungsgebende Versammlung

Nun ist es zwar richtig, dass die Verfassung (mit wenigen Änderungen am Ende der Diktatur und am Beginn der ersten Präsidentschaft der Sozialdemokratin Bachelet) im Wesentlichen aus der Zeit der Militärdiktatur unter Pinochet stammt, aber eine Verfassungsänderung alleine kann nicht den grundlegenden Wandel bringen, den es zur Lösung der sozialen Probleme der Jugend und der arbeitenden Bevölkerung braucht.
Zunächst: Was ist eine verfassungsgebende, konstituierende Versammlung, eine Konstituante? Es handelt sich dabei um eine Art Parlament, dessen Delegierte eine neue Verfassung diskutieren und ausarbeiten.

Die konstituierende Versammlung ist eine klassische Forderung einer bürgerlich-demokratischen Revolution, die für ein erst im Entstehen begriffenes kapitalistisches Land in einem Land, das autokratisch regiert wird (etwa wie Russland unter den Zaren) und keine parlamentarische Demokratie kennt oder in einer Kolonie, die um ihre Unabhängigkeit kämpft, d.h. sich erst als unabhängige Nation bilden muss, seine Berechtigung hat. All das ist aber in Chile eindeutig nicht der Fall: Chile ist seit 1818 keine Kolonie Spaniens mehr und 1989 fanden die ersten freien Wahlen nach Ende der Militärdiktatur statt. Nun wäre es möglich zu argumentieren, dass Chile nicht wirklich komplett unabhängig ist, weil das Land von wirtschaftlich stärkeren Ländern, von IWF-Krediten usw. abhängig ist. Das ist richtig, lässt sich aber durch eine neue Verfassung nicht ändern. Die herrschende Elite in Chile ist den USA hörig und mit dem Imperialismus eng verwoben. Sie kann und wird keinen Kampf gegen ihre Herren in Washington führen. Eine Unabhängigkeit vom Diktat der multinationalen Konzerne und den Sparzwängen des IWF ist auf kapitalistischer Basis nicht möglich. Daher kann eine verfassungsgebende Versammlung, die ja nur eine Art zweites bürgerliches Parlament wäre, nicht mehr Unabhängigkeit bringen.

Der andere Fall, der die Forderung einer verfassungsgebenden Versammlung rechtfertigen würde, wäre der, dass es keine freien Wahlen gäbe. Man könnte nun also argumentieren, dass Chile kein demokratisches Land wäre, da die Interessen der Mehrheit der Menschen von der Regierung nicht repräsentiert werden. Das ist komplett richtig, trifft aber auf jedes andere kapitalistische Land genauso zu. Der „Volkswille“ kann sich in Chile nicht in der Politik ausdrücken, weil die Parteien von einigen wenigen Reichen finanziert werden, die großen Zeitungen in privater Hand sind und die Herrschenden nicht kritisieren werden, weil es Korruption und Amtsmissbrauch gibt. Aber das ist in allen kapitalistischen Ländern so. Niemand würde auf die Idee kommen etwa in Österreich eine verfassungsgebende Versammlung zu fordern, weil die Parlamentsparteien Parteispenden von Konzernen und Banken bekommen und daher diesen Geldgebern verpflichtet sind; oder weil die bedeutenden Zeitungen einigen reichen Investoren oder Banken gehören und folglich nicht kritisch berichten werden. Die bürgerliche Demokratie ist nie richtig demokratisch. Sie beruht darauf, dass jeder und jede sagen kann, was er oder sie will, solange die Reichen und Mächtigen reich und mächtig bleiben. Bürgerliche Demokratie und bürgerlicher Parlamentarismus sind immer nur ein schöneres Wort für die „Diktatur des Kapitals“!

Will man Chile also demokratischer machen, dann wird es notwendig sein die Macht der reichen Elite anzugreifen. Das kann keine (bürgerliche) verfassungsgebende Versammlung tun – das geht nur über den Weg einer sozialistischen Revolution. Man könnte weiter sagen, Chile sei nicht demokratisch, weil die Polizei und das Militär auf den Straßen Gewalt gegen Demos anwenden und sogar Menschen töten. Das stimmt, jedoch trifft das auf Polizei und Militär jedes bürgerlichen Staates zu, die dafür da sind, die Ordnung (lies: das Privateigentum, den Kapitalismus) zu schützen. Wenn es Massenproteste gibt, greift jeder kapitalistische Staat zur Repression. Man braucht nur an Frankreich zu denken, wo auch unzählige Mitglieder der Gelbwestenbewegung von der Polizei verletzt, verstümmelt und sogar einige ermordet wurden. Wir sehen auch im Fall der Repression ist Chile nicht „undemokratischer“ als andere kapitalistische Länder. Verfassungsgebende Versammlung also wieder: Fehlanzeige!

Weiters stellt sich die Frage, wer eine solche verfassungsgebende Versammlung einberufen sollte? Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Massen können eine verfassungsgebende Versammlung gegen den Willen der aktuellen chilenischen Elite und gegen den US-Imperialismus durchsetzen, dann sind sie aber auch stark genug, um wirklich die Macht zu übernehmen, d.h. eine sozialistische Revolution erfolgreich durchzuführen. Dann ist die verfassungsgebende Forderung die falsche Forderung für die Linke, und die Machtübernahme der Arbeiterklasse sollte organisiert werden anstatt eine verfassungsgebende Versammlung zu fordern.

Der mögliche andere Fall ist, der, dass vor lauter Angst vor der revolutionären Bewegung der Massen, die bürgerlichen Politiker beginnen, der Forderung der Bewegung nach einer verfassungsgebenden Versammlung stattzugeben, um die Protestbewegung zu beruhigen. In diesem Fall werden dieselben PolitikerInnen und Parteien, die jetzt im Parlament sitzen, auch in der verfassungsgebenden Versammlung sitzen. Wenn die bürgerlichen Parteien im Parlament nicht die Interessen der Massen vertreten, wieso sollten sie es dann auf einmal in einer verfassungsgebenden Versammlung tun? In diesem Fall wäre die Konstituante nur eine Augenauswischerei, die von der Oligarchie verwendet wird, um weiter so regieren und wirtschaften zu können wie bisher. Dass einige Liberale diesen Weg in Chile zu gehen versuchen, zeigt sich darin, dass die Diskussion um eine Verfassungsänderung auch in den chilenischen bürgerlichen Medien geführt wird. Wäre eine Konstituante eine Gefahr für die Privilegien der Elite, würde diese nicht ihre Zeitungen für eine Debatte zur Verfügung stellen. In diesem Fall darf die Linke nicht die Bürgerlichen dabei unterstützen, wie sie die kämpfenden Jugendlichen und ArbeiterInnen mit einer Verfassungsänderung betrügen, die niemals die wirklichen, dem Ausbruch der Proteste zugrunde liegenden sozialen Probleme lösen wird.

Revolutionäre Perspektive

Notwendig ist nicht die Änderung des Verfassungstextes, sondern die Überwindung des kapitalistischen Systems. Der konkrete nächste Schritt für die Bewegung sollte die Organisierung eines unbefristeten Generalstreiks sein, bis Piñera geht. Die „cabildos“ und die Regionalversammlungen sollten sich durch gewählte Delegierte zu einer großen Nationalversammlung der Werktätigen zusammenzuschließen. Eine solche Nationalversammlung sollte die Frage der politischen und wirtschaftlichen Machtergreifung stellen, um die dringenden Probleme der Massen zu lösen, die dieser gewaltigen sozialen Explosion zugrunde liegen. Die Schlüsselindustrien, d.h. Rohstoffe und Bergbau, Wasser, Elektrizität, Forstwirtschaft, Transport sowie das Pensions-, Gesundheits- und Schulsystem und die Banken müssen unter Kontrolle der Beschäftigten und KonsumentInnen verstaatlicht werden. Nur die Verstaatlichung der großen Unternehmen, Banken und Monopole ermöglicht die demokratische Planung der Wirtschaft, um den Bedürfnissen der Mehrheit und nicht den Privilegien einer kleinen Minderheit gerecht zu werden.

(Funke Nr. 178/8.11.2019)


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