Vor einem Jahr sahen wir in Lateinamerika große Massenbewegungen, die das System und das Establishment herausforderten. Anlässlich des Verfassungsreferendums in Chile und der Wiederwahl der MAS in Bolivien wirft Vera Kis einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen.
Die Bewegungen des „roten Oktober“ in Ecuador und Chile vergangenen Jahres hatten vor allem eines gemeinsam: Die Massen hatten das Vertrauen in die Herrschenden und ihren Staat verloren. Vor allem in Chile richteten sich die Proteste gegen das gesamte Establishment und die herrschende Ordnung. Eine herausragende Rolle in den Massenbewegungen spielte einmal mehr die Jugend, die mutig an vorderster Front stand. Sowohl in Chile als auch in Ecuador hatte die Bewegung die Angst vor Repressionen verloren und ließ sich auch von massiver staatlicher Gewalt, Folter und Ausgangssperren nicht einschüchtern. Am Höhepunkt der Bewegungen bildeten sich spontan Organisationen der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung. Der Staatsapparat war angesichts der Bewegungen nicht mehr voll handlungsfähig.
Doch in beiden Ländern führte das Fehlen einer revolutionären Führung dazu, dass die Energie der Bewegungen verpuffte. Die Probleme der Menschen blieben ungelöst. Die Corona-Pandemie und die Weltwirtschaftskrise verschlimmern die soziale Lage sogar noch! Der Kampf ging im heurigen Jahr daher auch weiter, aber er nahm andere Formen an. Obwohl es immer wieder einzelne Großdemos und Streiks gab, drückt sich der Wunsch der Menschen nach Veränderung momentan eher auf parlamentarischer Ebene aus. Sowohl das Referendum in Chile als auch die Wahlen in Bolivien hatten eine ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung.
Chile: neue Verfassung, neue Kämpfe
In Chile wurde letztes Jahr auf dem Höhepunkt der Bewegung und nach dem Generalstreik vom 12. November von allen etablierten Parteien versucht, mit dem „Abkommen für Frieden und die neue Verfassung“ die Bewegung von der Straße zu bekommen. Aus Angst vor einer weiteren Eskalation versprach man die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.
Die aktuelle Verfassung, die mit minimalen Änderungen noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur (1973-1990) stammt, ist nicht zu Unrecht verhasst. Für viele ArbeiterInnen und Jugendliche steht der Ruf nach einer Verfassungsgebenden Versammlung für ein berechtigtes Verlangen nach mehr Mitsprache und dem Ende der Politik der „transición democrática“ (dt. demokratischer Übergang), die im Namen des nationalen Schulterschlusses viele Verbrechen der Diktatur ungestraft ließ. Auch an der extremen sozialen Ungleichheit wurde nicht gerüttelt. Der Wunsch nach einem grundlegenden Wandel ist daher weit verbreitet. Nicht umsonst ergaben Umfragen aus dem letzten Jahr für staatliche Institutionen und die Kirche nur mehr Vertrauenswerte im einstelligen Prozentbereich.
Die Volksabstimmung vom 25. Oktober brachte ein eindeutiges Ergebnis: Insgesamt stimmten 78,3% der ChilenInnen für eine neue Verfassung und nur 21,7% dagegen. Die Aufschlüsselung der Ergebnisse nach Bezirken und Regionen zeigt ein klares Bild: Nur in 4 der 346 Wahlkreise des Landes siegte das „Nein“ zu einer neuen Verfassung, und diese sind allesamt Wohnorte der Reichen. In allen Arbeiterbezirken siegte hingegen das „Ja“ mit über 80%. In denjenigen Regionen, die stark von Umweltverschmutzung betroffen sind, gewann ebenfalls das „Ja“ überdeutlich, z.B. mit 92% in Freirina in der Provinz Atacama.
Die große Polarisierung verwundert nicht, da die soziale Ungleichheit in Chile besonders krass ist: Die Hälfte der Bevölkerung besitzt nur 2,1% des Vermögens, während den reichsten 1% fast 27% gehören. Der Wahlkampf war so angespannt, dass Präsident Piñera seinen Wahlort aus der Hauptstadt Santiago in seine Heimatprovinz Las Condes verlegte, eine rechte Hochburg und Wohngegend vieler reicher Familien. Der Präsident, dessen Macht vergangenes Jahr am seidenen Faden hing, versuchte sich im Vorfeld der Wahl in der Frage der Verfassung neutral zu geben. Teile der Rechten warben offen für ein „Nein“. Piñera aber traute sich nicht klar Position zu beziehen und eine andere Meinung zu vertreten als 80% der Bevölkerung. Zu deutlich hätte das sein Amt in Frage gestellt.
Aber sicher kann er sich an der Macht nicht fühlen. Sein Missmanagement angesichts der Pandemie, das v.a. die Interessen der Wirtschaft schützte, wurde stark kritisiert. Immer wieder kam es auch nach dem Abebben der Aufstandsbewegung zu massiven Demonstrationen für Frauenrechte, für die Rechte der indigenen Mapuche und für das Recht der ArbeiterInnen, 10% ihrer Einzahlungen aus den privaten Pensionsfonds abzuheben, um während der Krise über die Runden zu kommen. Nach einem Streik der Hafenarbeiter im Sommer sah sich die Regierung gezwungen, die Menschen 10% ihres Geldes abheben zu lassen.
Von Anfang an war das Verfassungsreferendum darauf ausgelegt, dass die Bevölkerung möglichst wenig Mitsprache hat. So stand als zweite Frage zur Auswahl, ob die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung zur Hälfte direkt gewählt und zur anderen Hälfte aus Abgeordneten des Kongresses bestehen sollen oder ob alle Mitglieder direkt gewählt werden sollen. Auch hier entschieden sich etwa 80% für zweiteres. In beiden Fällen werden die Mitglieder des Verfassungskonvents Angehörige derselben Parlamentsparteien sein, die vergangenes Jahr nur noch das Vertrauen von 3% der Bevölkerung genossen. Die Bevölkerung wählt also nicht aus ihren eigenen Reihen VertreterInnen ihres Vertrauens, die dann die zukünftige Verfassung ausarbeiten, sondern PolitikerInnen der komplett diskreditierten Parteien werden diese Aufgabe übernehmen. Eine Gruppe, die in der Protestwelle letztes Jahr eine zentrale Rolle einnahm, waren die OberschülerInnen, die den Aufstand erst losgetreten hatten – aber 16-Jährige dürfen nicht wählen. Außerdem braucht die neue Verfassung in der Konstituante eine Zweidrittelmehrheit. Dadurch bekäme ein Drittel rechter Abgeordneter die Möglichkeit jeglichen sozialen Fortschritt auf unbestimmte Zeit zu blockieren.
Trotz all dieser eingebauten „Sicherheitsventile“ ist der klare Sieg des „Ja“ auch ein Sieg der Bevölkerung, die vergangenes Jahr massenhaft auf die Straßen ging. Nun beginnt der Kampf um die Inhalte der neuen Verfassung. Die Mehrheit (d.h. die Jugendlichen, arbeitenden Menschen und Armen) will hochwertige Bildung für alle, Löhne und Pensionen, von denen sie leben kann, leistbare Wohnungen und eine Gesundheitsversorgung für alle, Schutz der Umwelt, Rechte für Indigene, keine polizeiliche Willkür und Gewalt, ein Gerichtswesen, das nicht nur den Reichen dient etc. All diese Dinge kann der Kapitalismus den Menschen nicht garantieren – schon gar nicht in der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Eine neue Verfassung kann daran leider auch nichts ändern. So werden die ChilenInnen bald wieder auf die Straße gehen.
Bolivien: Das Wahlvolk schlägt zurück
Einen weiteren wichtigen demokratischen Sieg gab es in Bolivien mit der Wiederwahl der linken MAS, und das knapp ein Jahr nachdem Evo Morales aus dem Amt geputscht wurde. Die rechte Übergangsregierung unter Jeanine Añez erwies sich als (soziale) Katastrophe und so siegten der linke Präsidentschaftskandidat Arce und die MAS mit 20 Prozentpunkten Vorsprung gegenüber dem zweitstärksten Kandidaten.
Im vergangenen Jahr gingen über 100.000 Jobs verloren und Bolivien wurde von der Pandemie stark getroffen. Laut offiziellen Zahlen starben bisher 9.000 Menschen. Die Bevölkerung bezweifelt die staatlichen Zahlen. Ende August berichtete die NYT, dass die Übersterblichkeit allein im Juli und August bei 20.000 Menschen lag. Laut internationalen Medien soll man im Sommer Tote sogar auf der Straße liegen gesehen haben. Im Mai wurde der Gesundheitsminister Marcelo Navajas verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, mit internationalen Hilfsgeldern inadäquate und extrem überteuerte Beatmungsgeräte einer spanischen Firma erworben zu haben, zu der er offensichtlich Beziehungen hatte. Die Wirtschaft ist durch die Krise schon jetzt um 11% geschrumpft.
Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit konnten viele die Mieten nicht mehr bezahlen und „Präsidentin“ Añez stellte sich hinter die Vermieter und unterstützte Delogierungen. Es gab nur minimale Hilfen für die betroffenen Menschen und selbst diese wurden durch eine weitere Verschuldung beim IWF finanziert. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen, die in der Vergangenheit der MAS den Rücken zugewandt hatten, ihr in diesen Wahlen trotzdem zu einem massiven Wahlsieg verhalfen. Jetzt muss die Regierung Taten setzen, denn die Wirtschafts- und Gesundheitskrise wird nicht von alleine verschwinden. Die Führung der MAS unter Arce scheint aber nicht aus dem Putsch gegen Morales gelernt zu haben. Evo Morales setzte gegen Ende seiner Präsidentschaft auf die Zusammenarbeit mit Teilen der Oligarchie und seine Partei zog KarrieristInnen an. Aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise nahmen die Staatseinnahmen ab und Konterreformen wurden umgesetzt. Die Arbeiterklasse, die Morales an die Macht gebracht hatte, sah in der MAS nicht mehr ihre Partei. Dies zeigte sich vergangenes Jahr, als nur eine Minderheit bereit war, die Regierung gegen den rechten Putsch zu verteidigen und das eigene Leben zu riskieren.
Die abgehobene Führung der Partei versteht diesen Zusammenhang nicht. Evo Morales rief aus dem Exil alle Parteien, Unternehmen und die Arbeiterschaft zur Versöhnung auf. Der ehemalige Vizepräsident García Linera meinte, Evo hätte sich mehr um die „Mittelschichten“ kümmern sollen und weniger um die Armen und ArbeiterInnen. Arce selbst unterstreicht seinen Rechtskurs auch damit, dass er Evo und seine UnterstützerInnen dezidiert von jedem Amt in seiner Regierung fernhält. Er vertritt keine andere Linie als die der „nationalen Versöhnung“. Die ReformistInnen verwenden die „Mittelschichten“ zur Rechtfertigung ihrer Versöhnungspolitik. Diese dient aber wieder nur den großen Unternehmen und internationalen Konzernen. Die „Mittelschichten“ sind in Bolivien eine verschwindend kleine soziale Kraft und kein eigenständiger politischer Akteur. Wenn nicht die wirklich Mächtigen in die Verantwortung genommen werden, kann sich ein kleiner Ladenbesitzer leicht hintergangen fühlen, wenn er hört, dass die armen Kokabauern im Gegensatz zu ihm keine Steuern zahlen. Und dann kann es leicht sein, dass sich seine Wut nach unten richtet.
Arce hat sich sofort nach Amtsantritt an die Unternehmen gewandt und sie aufgefordert, Teil der „nationalen Einheit“ zu sein. Das ist ein politischer Rückschritt, sogar im Vergleich zu Morales, der bei seinem Amtsantritt für Verstaatlichungen warb und erst hinterher Entschädigungen aushandelte, die auch für die Konzerne akzeptabel waren. Allerdings war das vor dem Hintergrund eines Booms. Arce war damals Minister und trug die Verstaatlichungen mit. Heute aber nimmt er Abstand davon und bereitet die Menschen auf „Opfer“ vor. Die Zeit sei für alle schwer. Zumindest hat er eine Zahlung von 1,000 Bolivar (144$) pro EinwohnerIn angekündigt und er möchte Massenentlassungen erschweren. Wenn er diese Dinge wirklich umsetzen will, wird er erst recht in Konflikt mit der Elite geraten und der arbeitenden Bevölkerung und den Armen trotzdem nicht ausreichend helfen. Diese werden keine andere Möglichkeit haben als mit massiven Mobilisierungen und Streiks für ihre Rechte und soziale Verbesserungen zu kämpfen. Das ist es, was die bolivianische Elite und die US-Außenpolitik fürchten. Sie haben keine Angst vor Arce als Person, sondern davor, dass die Massen ihn als ihren Vertreter sehen und die Regierung unter Druck setzen könnten. In den letzten Monaten gab es viel Gärung in den Fabriken und die sozialen Probleme sind drängend. Die Geduld der Massen mit der neuen Regierung wird nicht ewig währen.
(Funke Nr. 188/11.11.2020)