In Kolumbien verhinderten andauernde Massenproteste eine gegen die Armen gerichtete Steuerreform. Vera Kis analysiert Hintergründe und Perspektiven der Bewegung.
Das lateinamerikanische Land wird traditionell von der Rechten regiert. Ex-Präsident Uribe wurde erst vergangenen Sommer wegen Manipulation von Zeugenaussagen, Bestechung und ähnlicher Delikte verurteilt. Doch jeder weiß, dass Uribe auch für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist und enge Verbindungen zur Drogenmafia pflegt. Seit Jahrzehnten ging die kolumbianische Oligarchie brutal gegen jegliche soziale Bewegung vor. Zu den Methoden zählen etwa die Ermordung linker PolitikerInnen, GewerkschafterInnen, demobilisierter Guerilleros/as (die 2016 die Waffen niederlegten) und UmweltschützerInnen durch staatlich unterstützte Paramilitärs und (offiziell) über 6.000 „falsch Positive“, d.h. ZivilistInnen, die ermordet und anschließend als Guerilleros oder Drogendealer verkleidet wurden, um sie dann als „Erfolg“ der Militäroperationen zu feiern.
...und Kolumbien bewegt sich doch
Seit 2018 ist Uribes Zögling Ivan Duque Präsident. Das Pandemie-Management seiner Regierung ist eine Katastrophe. Nach offiziellen Angaben gibt es bereits weit über 80.000 Tote. Die Verantwortung für die Pandemiebekämpfung wurde vom Gesundheitsministerium an eine Katastrophenschutzeinheit ausgelagert, mit der der Staat einen Geheimhaltungsvertrag unterzeichnet hat, d.h. niemand darf wissen, wo und zu welchem Preis medizinisches Material, Impfstoff usw. mit öffentlichen Geldern eingekauft wurde. Das Ganze ist eine Brutstätte für Korruption. Im Zuge der Pandemie nahm außerdem die soziale Ungleichheit im Land massiv zu.
Um die Staatsverschuldung zu senken und die internationalen Finanzmärkte zufriedenzustellen, plante die Regierung in dieser Situation eine Steuerreform, die vor allem die Armen und arbeitenden Menschen belastet hätte. Die Bevölkerung (etwa 49% sind arm) fand den Plan des Finanzministers, der sich in einem Interview lächerlich machte, weil er nicht sagen konnte, was aktuell ein Dutzend Eier kostet, gar nicht lustig. Ein „Streikkomitee“ aus Gewerkschaften und Studierendenorganisationen rief daraufhin für den 28. April zu Streiks und Demos auf. Die Proteste begannen friedlich, doch die Elite setzte massiv auf Repression. Schon nach dem ersten Streiktag wurde in der Stadt Cali eine mehrtägige Ausgangssperre verhängt. Doch die Massen ließen sich nicht einschüchtern und gingen weiter auf die Straße.
así lucía Medellín ayer por la noche, después de seis días de protestas ininterrumpidas en Colombia - Medellín era feudo tradicional del uribismo, Duque sacó el 72% de los votos en Junio 2018, pero fue derrotado en las municipals en octubre 2019 #ParoNacionalIndefinido pic.twitter.com/VKqw6M5rdu
— Jorge Martin (@marxistJorge) November 27, 2019
Militär und die Sondereinheiten der Polizei wurden eingesetzt und es wurde scharf geschossen. Bis 18. Mai wurden laut der der NGO Temblores über 50 Tote, 18 Vergewaltigungen und über 1000 willkürliche Festnahmen gezählt; hunderte Menschen sind als vermisst gemeldet. Rund um Cali mehren sich Berichte über Folter, Erschießungen und anonyme Gräber.
Erfolge der Massen
Unter dem Druck des ‚paro nacional‘ (landesweiten Streiks) wurde Anfang Mai die Steuerreform zurückgenommen und der Finanzminister musste zurücktreten. Außerdem wurde das Gesetzesprojekt zur Privatisierung des Gesundheitssektors begraben, nachdem alle Parteien aus Furcht vor weiteren Unruhen ihre Unterstützung zurückgezogen hatten. Die repressive Politik der Regierung radikalisierte die Bewegung, die nun mehrheitlich den Sturz des Präsidenten und der gesamten Regierung fordert. In täglich stattfindenden Versammlungen in den Stadtvierteln diskutieren die Menschen die weiteren Forderungen und Aktionsformen der Bewegung.
Unsere GenossInnen von „Colombia Marxista“ betonen in dieser Situation die Notwendigkeit eines Aktionsprogramms, um den Widerstand auf die nächste Stufe zu heben. Die spontane Bewegung der Massen hat das „Streikkomitee“, das jedenfalls auf Verhandlungen mit der Regierung setzt, aktuell weit hinter sich gelassen. Wir argumentieren daher, dass die Volkversammlungen die zentralen Machtorgane der Bewegung werden, indem sie zu einer nationalen Notfallkonferenz aufrufen. Weiters argumentieren wir für Verteidigungskomitees, um sich vor Repression zu schützen, einen Generalstreik und einen Marsch auf Bogota: „Nieder mit Duque und der Klasse, die er repräsentiert!“
(Funke Nr. 194/26.5.2021)