Im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen konnte sich Gabriel Boric, der Kandidat des linken Wahlbündnisses, mit 56% klar gegen den ultrarechten Kandidaten durchsetzen. Vera Kis analysiert das Programm von Boric und die Perspektiven für die chilenische Linke.
Kast, der rechte Kandidat, ist der Sohn eines deutschen Nazis, der nach dem zweiten Weltkrieg nach Chile ausgewandert war und sich mehrfach positiv über die Diktatur Pinochets geäußert hatte. Hinter Kasts Kandidatur hatten sich die rechtesten und reaktionärsten Elemente der chilenischen Gesellschaft gestellt; all jene, die ihre Privilegien durch die Aufstandsbewegung im Herbst 2019 und den Linksruck der vergangenen zwei Jahre bedroht sahen. Vier Tage vor dem zweiten Wahlgang hatte der Tod von Pinochets Witwe die Militärdiktatur noch einmal ins Zentrum der politischen Debatte gebracht.
Der drohende Wahlsieg eines ultrarechten Pinochet-Verehrers bewegte viele Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten zur Wahlurne. War die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang nur bei 47% gelegen, so stieg sie bei der Stichwahl auf 55%. Besonders hoch war die Wahlbeteiligung in Arbeitervierteln, wo sie teilweise 70% erreichte.
Ein linkes Programm
Wofür steht aber nun der linke Wahlsieger? Gabriel Boric ist Sohn spanischer und kroatischer Einwanderer. Im März wird er mit 35 Jahren als jüngster Präsident der Geschichte des Landes angelobt werden. Bekannt wurde er als ein Führer der Studierendenbewegung im Jahr 2011. Er vertritt ein klassisch sozialdemokratisches Programm, das die Schaffung eines Sozialstaates vorsieht und weckte damit viel Hoffnung auf Veränderung und ein besseres Leben für die Mehrheit der Bevölkerung. Ursprünglich hatte Boric versprochen, das verhasste private Pensionssystem AFP (in das die arbeitenden Menschen viel einzahlen müssen, aber das trotzdem keine ordentliche Pension garantiert) abzuschaffen. In Hinblick auf den zweiten Wahlgang gab sich Boric aber schon moderater und meinte, er sei bereit, mit allen darüber zu verhandeln. Das erklärt auch, warum bei den Freudendemonstrationen nach seinem Wahlsieg der Ruf zur Abschaffung des AFP laut wurde.
Einmal im Amt wird Boric noch stärker unter den Druck der herrschenden Klasse geraten. Gleichzeitig erwarten seine WählerInnen aber soziale Reformen von ihm. So versprach Boric im Wahlkampf, die private Gesundheitsversorgung in ein öffentliches Gesundheitssystem zu verwandeln, „so dass die Größe des Geldbeutels keine Rolle spielt.“ Schritt für Schritt soll die Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche reduziert und der Mindestlohn erhöht werden. Frauen und junge Menschen sollen auf dem Arbeitsmarkt gezielt unterstützt werden. Bildung soll für arbeitende Menschen und Arme leichter zugänglich werden. Der Staat soll vorerst Menschen bei der Bezahlung der Kredite unter die Arme greifen, bis schließlich ein öffentliches und kostenfreies Bildungssystem geschaffen werden kann. Die Mieten sollen verringert und 260.000 neue Wohnungen gebaut werden. Weiters sollen die Carabineros de Chile (Uniformierte Polizei Chiles) reformiert werden, um Polizeigewalt zurückzudrängen. Die Korruption im politischen System soll bekämpft und Land an die indigene Bevölkerung zurückgegeben werden. Schließlich sieht das Wahlprogramm von Boric auch einen Kampf gegen Gewalt an Frauen, die legale Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs sowie mehr Rechte für LGBTIAQ+-Personen vor. Umweltschutzmaßnahmen sollen den Klimawandel und die Wasserknappheit bekämpfen.
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen
Alle diese Forderungen sind natürlich fortschrittlich und begrüßenswert. Die Regierung Boric wird einen links-reformistischen Charakter haben. Nicht umsonst wird Boric mit Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien oder auch mit der Regierung Pedro Castillos in Peru verglichen. Diese Beispiele sollten uns aber auch vorsichtig stimmen. In der aktuellen tiefen Krise des Kapitalismus ist es sehr schwierig, wirkliche Verbesserungen für die Massen durchzusetzen. Nach zwei Jahren Pandemie ist der Spielraum für soziale Reformen nicht gegeben. Alle linken Regierungen, mit denen Boric verglichen wird, haben sich bereits entzaubert. Perus Präsident Castillo, der mit einem deutlich radikaleren Programm als Boric angetreten war, das auch Verstaatlichungen in der Rohstoffindustrie vorsah, ist mittlerweile zurückgerudert.
Der Grund dafür ist, dass diese Regierungen alle auf Verhandlungen und parlamentarische Mehrheiten setzen. In Wirklichkeit wird aber ein Großteil der Politik hinter den Kulissen gemacht, und wer hinter verschlossenen Türen mit Unternehmerverbänden verhandelt, wird sein Ziel niemals erreichen, sondern immer kapitalistische Politik umsetzen. Wenn Boric also versucht, die UnternehmerInnen ins Boot zu holen und von seinen Reformplänen zu überzeugen, indem er meint, dass Wirtschaftswachstum nur durch „sozialen Zusammenhalt“ möglich sei, dann lässt das nichts Gutes ahnen.
Die KapitalistInnen sind sich über ihre Klasseninteressen vollkommen im Klaren und werden nicht freiwillig höhere Steuern zahlen, um den Massen ein besseres Leben zu ermöglichen. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass die Regierung Boric über keine Mehrheit im Kongress verfügt, und der christdemokratische Teil seines Wahlbündnisses hat bereits angekündigt, sich nach der Wahl in die Opposition zu begeben. So wird Boric unter enormen Druck seitens der Rechten kommen. Je freundlicher er zu verhandeln versucht, desto stärker wird sich das Establishment fühlen. In einer wirtschaftlichen Krisensituation und erst recht in einem Land der sogenannten „3.Welt“ ist es nicht möglich auf dem Verhandlungsweg einen echten Fortschritt zu erreichen.
Boric vertritt aber ein Programm der Klassenzusammenarbeit; nicht umsonst heißt seine Partei „convergencia social“ (was so viel bedeutet wie „sozialer Zusammenhalt“). In der Aufstandsbewegung, die Chile 2019 erlebte, war Boric einer der Architekten des Projekts einer neuen Verfassung. Nachdem die Jugend und die Arbeiterklasse den Ausnahmezustand des rechten Präsidenten Piñera auf den Straßen besiegt hatte, diente das Projekt einer Verfassunggebenden Versammlung dazu, die Massen von den Straßen zu bekommen und die Bewegung in institutionelle, d.h. mit dem kapitalistischen System verträgliche, Bahnen zu lenken.
Die Präsidentschaft von Boric, die am 11. März beginnen wird, stellt somit den Abschluss der Institutionalisierung der Massenbewegung dar. Die Bürgerlichen haben zwar die Wahl verloren, aber sie können hoffen, dass ein linker Präsident den Unmut der Massen im Zaum halten wird. Gleichzeitig hat die Wahlniederlage des ultrarechten Kast den Massen neues Selbstbewusstsein eingehaucht und sie erwarten von Boric echte Sozialreformen. Und sie werden dabei nicht auf den Präsidenten warten, sondern selber höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen oder das Recht auf Abtreibung fordern.
Wenn sich unter Boric die drängenden sozialen Probleme nicht lösen, werden die Massen eher früher als später wieder selbst aktiv werden und auf der Straße kämpfen.
(Funke Nr. 200/20.1.2022)