Bei einem Treffen der internationalen Leitung der International Marxist Tendency (IMT) hatten wir die Gelegenheit mit William Sanabria und Yonie Moreno von der Corriente Marxista Revolucionaria (CMR) ein Interview über die Arbeit unserer Strömung in Venezuela zu führen.
F.: Worin seht Ihr derzeit die wichtigste Aufgabe für MarxistInnen in Venezuela?
W.: Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder erklärt, dass der Charakter des revolutionären Prozesses dadurch geprägt ist, dass der subjektive Faktor in Form einer in der Massenbewegung verankerten revolutionären Organisation fehlt. Das hängt stark mit dem historischen Versagen der traditionellen Linken in Venezuela zusammen, aber auch mit den Schwächen der heutigen Linken, allen voran jener Kräfte, welche an der Spitze des Gewerkschaftsdachverbandes UNT standen. Unser zentrales Ziel muss also der Aufbau einer revolutionären Organisation sein, welche die bolivarische Bewegung für das Konzept der sozialistischen Revolution gewinnen und die Revolution vollenden kann. Das Schicksal der Revolution in Venezuela wird nicht zuletzt davon abhängen, ob uns dies gelingt. Die letzten Monate standen für uns daher vor allem im Zeichen des Aufbaus unserer Organisation und der Herausbildung eines Kerns an Kadern, die imstande sind in der revolutionären Bewegung auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms und gemeinsamen Methoden eine führende Rolle zu spielen. Politische Homogenität – basierend auf kollektiven, demokratischen Diskussionsprozessen und gezielter politischer Schulung - sehen wir in dieser Situation als unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit.
Y.: In Venezuela sind wir inmitten eines revolutionären Prozesses. Der Aufbau einer marxistischen Organisation ist nur möglich, wenn es uns gelingt, eine klare Strategie und eine klare Orientierung zu entwickeln. Revolutionäre AktivistInnen in Venezuela sind heute dem Druck von etlichen Seiten ausgesetzt. Es gibt eine Tendenz in unzähligen Zirkeln, Basisorganisationen usw. aktiv zu sein. Worin wir unsere Aufgabe sehen, ist es der revolutionären Bewegung eine marxistische Perspektive und ein Programm zu geben, mit der sie die Revolution vollenden können. Das hebt uns von den vielen anderen Gruppen in Venezuela ab.
F.: Eines der wichtigsten Projekte der CMR in den letzten beiden Jahren war die Initiative zur Gründung der FRETECO, der Front der besetzten Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle. Könnt Ihr uns mehr über diese Arbeit berichten?
Y.: Seit Gründung der CMR haben wir immer betont, dass die Revolution nur dann siegreich sein kann, wenn sich die ArbeiterInnenklasse an die Spitze dieses Prozesses stellt, sich selbstorganisiert und eigene Kampfinstrumente herausbildet, die es gleichzeitig ermöglichen eine neue, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Den Schlüssel dazu sahen wir vor allem in der Bewegung zur Besetzung und Wiederinstandsetzung von Betrieben unter ArbeiterInnenkontrolle. Wir spielten bereits beim Arbeitskampf der Belegschaft der Papierfabrik Venepal, dem ersten Betrieb, der enteignet wurde, eine wichtige Rolle und waren die ersten, welche die Losung nach Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkonrolle aufstellten. Eine erste Verankerung in den besetzten Betrieben schafften wir aber mit der Kampagne zur Enteignung von Inveval.
W.: Im Zuge des Arbeitskampfes entschieden sich die führenden Aktivisten des Betriebskollektivs im Betrieb eine Zelle der CMR zu gründen. Sechs Genossen bildeten damals den Kern der Gruppe. Diese Genossen standen jedoch von Anfang an unter einem gewaltigen Druck. Neben ihrer politischen Aktivität im Rahmen der CMR trugen sie die Hauptverantwortung für die Wiederinbetriebnahme der Fabrik. Zur Führung des Betriebes mussten sie sich weiterbilden und neue Qualifikationen aneignen, es galt neue Zulieferbetriebe und Rohstofflieferanten zu organisieren usw. Dazu kam die ständige Sabotage seitens der Bürokratie im Staatsapparat und bei der Erdölgesellschaft PDVSA, für die Inveval hauptsächlich produziert. Es wurde auch von außen gezielt daran gearbeitet die Belegschaft zu spalten. Unser Rat an die Genossen war, dass sie die Isolation durchbrechen müssen, um als besetzter Betrieb weiter existieren zu können. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens war es notwendig im Betrieb einen Fabrikrat zu gründen, der allen MitarbeiterInnen offen steht und wo alle zentralen Entscheidungen demokratisch gefällt werden. Dadurch sollten möglichst große Teile der Belegschaft in die Verwaltung und Führung des Betriebes eingebunden werden. Wichtig war darüber hinaus, dass wir mehr ArbeiterInnen davon überzeugten der CMR beizutreten. Bei Inveval sind wir heute 16 GenossInnen, einmal wöchentlich gibt es im Betrieb ein politisches Schulungsprogramm, an dem alle ArbeiterInnen auf freiwilliger Basis teilnehmen können. Im Schnitt kommen 30-35 ArbeiterInnen zu diesen Versammlungen, also rund die Hälfte der Belegschaft. Die Zukunft von Inveval wird aber davon abhängen, ob die sozialistische Revolution siegen wird oder nicht. Auf Dauer kann ein Betrieb wie Inveval nicht wie eine Insel des Sozialismus in einer kapitalistischen Gesellschaft überleben. Die Ausdehnung der Bewegung der besetzten Betriebe und die Vernetzung derselben ist der Schlüssel. Deshalb haben wir auch die Initiative zur Gründung der FRETECO gestartet. Inveval wurde sehr schnell zum Referenzpunkt für andere ArbeiterInnen und ganze Belegschaften, die unter ähnlichen Bedingungen für ihre Interessen kämpften. Die GenossInnen von Inveval werden auch regelmäßig eingeladen um in Gruppen der Gewerkschaft UNT oder in anderen Betrieben über ihre Erfahrungen zu berichten. Auch linke Teile in der Regierung unterstützen dieses Projekt. So wurde Inveval schon mehrfach, unter anderem von Chávez, als Vorbild für die künftige sozialistische Fabrik gelobt. Diese Plattform wollen wir auch zukünftig nutzen, um die Idee von Betriebsbesetzungen, ArbeiterInnenkontrolle usw. in der revolutionären Bewegung zu verankern.
Y.: Klar ist aber, dass der Aufbau der FRETECO nur dann erfolgreich sein wird, wenn wir es schaffen in den besetzten Betrieben Zellen der CMR aufzubauen. Diese Orientierung ist durchaus erfolgsversprechend, wie das Beispiel der Fabrik INAF in Maracay zeigt, wo wir seit kurzem ebenfalls eine Zelle haben. Diese GenossInnen kommen übrigens von einem christlichen Hintergrund, in ihrer Propaganda verwenden sie neben den marxistischen Klassikern auch die Bibel. Was diese ArbeiterInnen aber auszeichnet ist ein wahrer Durst nach Theorie, beginnend bei einer Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen des Marxismus.
W.: Die FRETECO koordiniert heute eine Reihe von Betrieben im ganzen Land, wie die Müllverwertung von Merida, Invepal, die Tomatenfabrik CAIGUA usw. Seit unserer letzten Konferenz arbeiten wir auch eng mit dem Kollektiv „Control obrero“ zusammen, das in den Großbetrieben der Schwerindustrie im Bundesstaat Bolivar stark verankert ist. Da die Gewerkschaften in dieser Region von einer rechten Bürokratie kontrolliert werden, sind diese GenossInnen übrigens nicht gewerkschaftlich organisiert. Interessant ist auch, dass diese Gruppe nicht nur durch die Arbeit der FRETECO sondern auch über die Arbeit unserer GenossInnen in der lokalen StudentInnenbewegung und durch unsere theoretischen Publikationen auf uns stießen.
F.: In den internationalen Medien wird immer das Bild gezeichnet, dass die StudentInnen gegen Chávez und die Revolution seien?
W.: Wie in vielen anderen Punkten herrscht auch hier bewusste Desinformation vor. Die Mehrheit der StudentInnen stehen hinter dem revolutionären Prozess. Das haben auch die StudentInnendemos vor dem Referendum zur Verfassungsreform gezeigt, wo die bolivarischen StudentInnenorganisationen weit mehr mobilisieren konnten als die Opposition. Wir propagieren in der StudentInnenbewegung vor allem die Idee, dass es notwendig ist eine Einheit mit der ArbeiterInnenbewegung aufzubauen. Unsere Hauptlosung in diesem Bereich ist jene nach dem Aufbau einer eigenen Jugendorganisation der Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV), die gerade gegründet wird. Wir haben bereits zwei nationale Konferenzen der „Jungen MarxistInnen in der PSUV“ abgehalten, die beide sehr gut besucht waren. Vor allem im Bundesstaat Bolivar sind etliche führende AktivistInnen der StudentInnenbewegung in der CMR aktiv. Eine besonders positive Rolle spielen auch unsere GenossInnen aus der StudentInnenbewegung in der Erdölregion Maturin, die es geschafft haben an der Uni eine linke Einheitsfront zu organisieren und die rechte Opposition an den Unis zu zerschlagen. Über unsere Uniarbeit sind wir nun außerdem in engem Kontakt mit einer Gruppe von AustauschstudentInnen aus Bolivien. Dies kann ein wichtiges Element beim weiteren Aufbau unserer Sektion in Bolivien werden.
F.: Ihr habt die Gründung der PSUV erwähnt. Wie steht die CMR zu diesem Projekt?
W.: Wir waren die erste Gruppe, die von Anfang an die Bedeutung dieser Initiative von Chávez verstanden haben. Alle anderen Gruppen der organisierten Linken sind angesichts der Gründung der PSUV in eine tiefe interne Krise geschlittert bzw. haben sich sogar anhand dieser Frage gespalten. Das beste Beispiel ist die Strömung der Clasistas (CCURA). Wir waren die einzigen, die bereits bei den ersten Konferenzen mit einer eigenständigen Position in Form von Flugblättern und Zeitungsartikeln in diesen Prozess intervenierten. Wir beteiligten uns am Aufbau einer Reihe von Sozialistischen Batallionen, den Basisorganisationen der PSUV. In 6 Fällen wurden GenossInnen von uns zu Sprechern dieser Gruppen gewählt. Auch bei Inveval wurde eine solche Basisstruktur geschaffen.
Y.: Diese Arbeit wird in den nächsten Monaten aber wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Wir können davon ausgehen, dass es in der PSUV zu heißen Diskussionen über die KandidatInnen zu den kommenden Lokal- und Bürgermeisterwahlen kommen wird. Die Bedeutung der PSUV sehen wir vor allem darin, dass diese neue Partei ein Forum darstellt, wo der Kampf zwischen revolutionären und reformistischen Tendenzen in der bolivarischen Bewegung offen ausgetragen werden kann. Und diese Auseinandersetzung wird nach der Niederlage im Referendum immer heftiger geführt werden.
F.: Das CMR ist trotz alledem noch immer eine relativ kleine Kraft. Wie sieht Eure Einheitsfrontarbeit mit anderen Teilen der revolutionären Bewegung aus?
Y.: Wir haben sehr enge Beziehungen zur revolutionären Bauernorganisation Ezechiel Zamorra (FNEZ), die für die Enteignung des Großgrundbesitzes kämpft und in den letzten Jahren zu einer Massenorganisation mit großem Mobilisierungspotential geworden ist. Die FNEZ lädt die CMR und die FRETECO regelmäßig ein, an ihren Projekten teilzunehmen. Das beste Beispiel ist das Einheitsfrontprojekt „Oligarchas tremblad“ gegen Destabilisierungs- und Putschversuche der rechten Opposition. Allgemein vertreten wir eine Orientierung auf die ArbeiterInnenbewegung in ihrer Gesamtheit. Wir propagieren die Idee, dass sich die ArbeiterInnenbewegung und ihre revolutionären Organisationen an die Spitze des Prozesses stellen müssen. Dabei richten wir uns an die AktivistInnen aller Strömungen. Die Bildung des neuen Gewerkschaftsdachverbandes UNT sahen wir als wichtigen Ausdruck für das politische Erwachen der venezolanischen ArbeiterInnenklasse. Leider ist die UNT heute in einer schweren Krise. Die Verantwortung dafür tragen vor allem die Führungen der diversen Strömungen in der UNT, die der ArbeiterInnenklasse keine Perspektive zu geben vermögen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Führung der CCURA, deren bekannteste Köpfe Orlando Chirino und Stalin Perez sind. Chirino ist in den letzten Monaten sogar offen ins Lager der Konterrevolution übergegangen. Die Führung der CCURA hat uns in der jüngsten Vergangenheit, vor allem rund um den Arbeitskampf des besetzten Betriebes Sanitarios Maracay, heftig bekämpft. Die große Differenz zwischen uns liegt in der Frage der besetzten Betriebe und der ArbeiterInnenkontrolle. Diesem Konzept stellen sie vor allem den ökonomischen Kampf um Gewerkschaftsrechte, Lohnforderungen usw. ins Zentrum ihrer Aktivität.
F: Sanitarios Maracay ist ein gutes Stichwort...
Y: Ich selbst war oft dort, und Genosse Wanderci, von der Marxistischen Linken aus Brasilien. Vielleicht habt Ihr von "Petrocasa" gehört, dem Fertigteilhaus auf Grundlage von PVC-Schalungen. In Venezuela wurde das erste Werk eröffnet, unter Leitung brasilianischer GenossInnen von der Cipla, dem besetzen PVC-Werk in Joinville-Brasilien. In Kuba soll nun auch ein solches Werk entstehen. Mittlerweile wurde die Cipla von der Polizei gestürmt und die führenden Genossen des Betriebes stehen unter gerichtlicher Verfolgung durch die Lula-Regierung. Warum erzähle ich dies? Die Isolation von Sanitarios konnte trotz der massiven Mobilisierungen in Maracay und Caracas nicht durchbrochen werden. Einerseits wurde der Betrieb von der Bürokratie demoralisiert, indem keine öffentlichen Aufträge an die Firma vergeben wurden, andererseits blieb Sanitarios in Maracay und im Bundesstaat isoliert. Die Führung der CCURA bewegte sich ja nur auf Druck der Belegschaft, zuerst präsentierten sie der Belegschaft einen "Investor", einen Freund des Eigentümers. Als dies von der Belegschaft zurückgewiesen wurde, unterstütze die CCURA halbherzig die Belegschaft, wobei sie immer sagte, dass Sanitarios ein Einzelfall sei und eine Ausweitung der Besetzungen ablehnte. Ein besetzter Betrieb in Isolation kann nur eine Übergangslösung sein. Man braucht eine starke politische Führung im Betrieb um dem Druck der kapitalistischen Umgebung standzuhalten, dies konnten wir in Sanitarios schlussendlich nicht erreichen. Entweder man sieht in der Kontrolle der Produktion und dann des Betriebes eine Strategie zur Machtübernahme der ArbeiterInnenklasse, oder eben nicht. In den Führungen der UNT wird diese Perspektive leider nicht geteilt. Die Belegschaft von Sanitarios kämpfte heroisch, allein die Frage der Führung lässt sich nicht immer von heute auf morgen befriedigend beantworten.
F.: Ein abschließendes Wort...
W.: Im letzten Jahr haben wir die Grundlagen für den Aufbau einer starken revolutionär-marxistischen Strömung gelegt. 2008 wird für uns ein wichtiges Jahr, in dem uns der große Durchbruch gelingen kann. Ein Bereich, wo wir uns von der restlichen Linken in Venezuela unterscheiden, sind unsere Methoden im Organisationsaufbau, die Ernsthaftigkeit, mit der wir einen eigenen Apparat aufbauen, wie wir uns selbst finanzieren und die Bedeutung der Produktion von marxistischer Theorie. Diese Traditionen fehlen in der venezolanischen Linken völlig. Wir werden nun ein neues Buch herausgeben, eine Polemik mit den reformistischen Ideologien von Heinz Dieterich, die in der bolivarischen Bewegung großen Einfluss haben. Dieses Buch stößt bereits jetzt auf großes Interesse und wird in der revolutionären Bewegung eine große Verbreitung finden. Um den Vertrieb marxistischer Literatur zu verbessern, wollen wir heuer auch in Caracas ein Lokal unserer Friedrich Engels-Stiftung eröffnen. Durch die Anschaffung eigener Druckmöglichkeiten haben wir bereits in den letzten Monaten die Produktion von theoretischem Material stark verbessern können.
All das wird es uns ermöglichen in den kommenden Monaten große Fortschritte beim Aufbau einer starken marxistischen Strömung zu machen.
Y: Die Diskussionen nach dem Scheitern des Referendums zeigen, dass dies ein heilsamer Schock war. Vorher glaubte die Mehrheit der AktivistInnen, dass alles in die richtige Richtung geht, und die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Strömung, die einen klaren Plan zur proletarischen Machtübernahme propagiert und vorbereitet, zweitrangig sei. Der graduelle Weg zum Sozialismus hat aber die erste Niederlage in der Praxis erfahren. Ein Teil, vor allem im Staatsapparat, nützt dies um nun mit Ideen der "nationalen Versöhnung", der "Reduktion des Tempos", der Rücknahme von Maßnahmen wie Preiskontrollen etc. nach vorne zu puschen. Die BasisaktivistInnen haben aber einen komplett anderen Zugang. Sie machen die Minister, Gouverneure, das "bolivariansche Bürgertum" für die Niederlage verantwortlich – und das ist richtig. Das Ausmaß der Sabotage durch die Bürokratie war erstaunlich. Dies bestätigt unsere Perspektive völlig, dass der Klassenkampf innerhalb der bolivarischen Bewegung das Schicksal der Revolution entscheiden wird. Viele, viele haben dies jetzt am eigenen Leib erfahren. Wir bekommen nun viel Zuspruch und organisierte UnterstützerInnen. Der Wettlauf mit der Zeit geht weiter.
F.: Danke für das Interview.
Zum Weiterlesen empfehlen wir die Homepage der CMR.