Wohl kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich stand in den letzten zehn Jahren so oft im Mittelpunkt öffentlicher Kritik wie die österreichischen Sozialversicherungsträger. Sie seien ineffizient, bürokratisch und zu teuer. Die Versicherten würden abgeschröpft, während sich einige wenige selbstherrliche Funktionäre in teuren Glaspalästen gegenseitig hohe Prämien und Privilegien zuschieben.
Vor allem Jörg Haider machte es sich seit seinem Antritt als FPÖ-Obmann 1986 zur Hauptbeschäftigung, gegen "Privilegienritter" und rot-schwarzes "Bonzentum" zu wettern. Wirklich existierende Missstände in Sozialversicherungen, Kammern und anderen Selbstverwaltungskörperschaften waren Wasser auf den Mühlen der FPÖ. Ein nicht unerheblicher Grund dafür, dass die FPÖ seit 1986 stetig an Stimmen gewann, war, dass tatsächlich viele ArbeitnehmerInnen das Gefühl hatten, von "denen da oben", das heißt von SpitzenfunktionärInnen und PolitikerInnen v.a. der SPÖ ausgenommen und betrogen zu werden.
Antwort der FPÖ und anderer bürgerlicher PolitikerInnen darauf ist die Auflösung der Selbstverwaltungskörperschaften. Kammern sollen überhaupt abgeschafft werden, Sozialversicherungen sollen von wirtschaftskundigen Managern verwaltet werden und nicht wie bisher von "proletarischen und halbgebildeten Funktionären", die die Sozialversicherungen zu einem "Selbstbedienungsmonster" gemacht hätten (J.Haider, Die Freiheit die ich meine").
Was bedeutet eigentlich die "Selbstverwaltung"?
Selbstverwaltung heißt nichts anderes, als dass der Staat bestimmte, ihm obliegende Verwaltungsaufgaben, in diesem Fall also Krankheits- und Altersvorsorge, jenen Personengruppen überträgt, die daran ein unmittelbares Interesse haben.
Die ersten gesetzlichen Regelungen der Sozialversicherungen lassen sich auf die 80er Jahre das 19. Jahrhunderts datieren.
Schon vorher hatten Arbeiter und Arbeiterinnen damit begonnen, in Arbeiterbildungs- und Unterstützungsvereinen Hilfskassen für kranke und verletzte KollegInnen einzurichten. Die Hilfskassen wurden von den Mitgliedern selbst verwaltet und funktionierten nach dem Versicherungsprinzip.
Durch den immer größer werdenden Druck der Arbeiterbewegung wurde die Monarchie gezwungen sozialpolitische Zugeständnisse zu machen wie eben auch 1887/88 die Erlassung eines Gesetzes zur Kranken- und Unfallversicherung. Da die Sozialversicherung von den ArbeiterInnen hart erkämpft worden war, wurden auch jene Bereiche zuerst geregelt, in denen die Arbeiterklasse am besten organisiert war, also die Industrie, während Versicherungen für Arbeitnehmer- Innen schwächerer Bereiche wie das Kleingewerbe und vor allem für Landarbeiter noch bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts auf sich warten ließen.
Das Selbstverwaltungs- und Solidaritätsprinzip der ersten Hilfskassen wurde in den gesetzlich geregelten Sozialversicherungsanstalten mit Ausnahme von 1939 bis 1947 bis heute beibehalten. Seit 1947 werden die FunktionärInnen der Versicherungsanstalten, also die "VersicherungsvertreterInnen", jedoch nicht mehr direkt gewählt sondern von deren gesetzlichen Interessensvertretungen also den Kammern entsendet. Sie obliegen daher keiner demokratischen Kontrolle der Betroffenen selbst mehr. Argument seitens der Sozialversicherungsanstalten, die seit der Erlassung des ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) 1955 unter einem Dachverband, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, zusammengefasst sind, ist, dass der finanzielle und organisatorische Aufwand für direkte Wahlen zu groß wäre...
Genau dieses undemokratische System bot einen guten Nährboden für Privilegien und Freunderlwirtschaft.
Vericherungspflicht statt Pflichtversicherung?
Ein anderer Kritikpunkt seitens der Bürgerlichen ist, dass das öffentliche Versicherungssystem einfach zu teuer und zu ineffizient sei. "Mehr Privat - weniger Staat" soll mehr Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen und damit bessere Leistungen für die Versicherten bringen. Statt der öffentlichen Pflichtversicherung soll ein System der Versicherungspflicht eingeführt werden. Das heißt, jeder Mensch muss versichert sein, er/sie kann sich jedoch den Versicherungsträger aussuchen und zwischen öffentlich und privat wählen.
Für jene Menschen, die genug Geld haben, war das Solidaritätsprinzip, nach dem das österreichische Versicherungssystem funktioniert, also dass alle Erwerbstätigen je nach Einkommen unterschiedlich viel in den Versicherungstopf einzahlen aber alle nach Erfordernis die gleichen Leistungen bekommen, schon immer ein Dorn im Auge. Kein Wunder, dass jetzt durch die Kürzungen der letzten Jahre im öffentlichen Sozialversicherungssystem, die nun durch die blau-schwarze Regierung neue Höhepunkte erreichen (siehe Artikel über Pensionsreform und Gesundheitssystem in Funke Nr. 29) immer mehr Menschen, die es sich leisten können, Privatversicherungen abschließen und die Aufhebung der Pflichtversicherung fordern.
Für die Mehrheit der Bevölkerung wäre das jedoch katastrophal. Abgesehen davon, dass der Verwaltungsaufwand bei den öffentlichen Versicherungsanstalten mit 2"9% des Gesamtbudgets weit unter dem der Privatversicherungen (bis zu 25%) liegt, würden sich bei freier Konkurrenz der Versicherungsanstalten die Prämien nicht mehr nach dem Einkommen richten sondern ähnlich wie bei KFZ-Versicherungen, die ja privat sind, nach dem Krankheits- oder Unfallrisiko. Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen es eine freie Versicherungswahl gibt, haben gezeigt, dass auch wenn die Benachteiligung von Behinderten, chronisch Kranken und älteren Menschen gesetzlich verboten ist, die Versicherungen andere Mittel und Wege suchen, um sich solche unliebe KundInnen fernzuhalten. So liegen z.B. in Deutschland die Büros einer Kassenart grundsätzlich im ersten Stock oder höher in Gebäuden ohne Aufzug. Behinderten und Gebrechlichen wird so der Zugang unmöglich gemacht.
Außerdem richten sich bei Privatversicherungen die Leistungen nach der Höhe der einbezahlten Prämie. Dies käme der Einführung einer Zwei-Klassen-Medizin gleich, bei der Reiche die besten Behandlungen bekommen und Arme gerade noch notdürftig medizinisch versorgt werden.
Das österreichische Sozialversicherungssystem ist eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Kein Wunder, dass es der blau-schwarzen Regierung gegen den Strich geht. Schüssel und Co. versuchen mit allen Mitteln, das Gesundheits- und Pensionssystem zu schwächen um so die endgültige Privatisierung leichter durchsetzen zu können. Da in Österreich die Sozialversicherung nicht unabhängig ist sondern unter Kontrolle der Sozialministeriums steht, stehen der Regierung auch keine gröberen Hindernisse im Weg.
Daher muss die Sozialversicherung endlich zu dem werden, als was sie eigentlich gedacht war: Zu einer von den Betroffenen für die Betroffenen selbstverwalteten Körperschaft. Das heißt, dass die Sozialversicherungen auch finanziell nicht vom Gutdünken der jeweiligen Regierung abhängen dürfen, wie es derzeit der Fall ist, sondern, dass die ArbeitnehmerInnen, die Monat für Monat einen Teil ihres Lohnes in die Sozialversicherungen einzahlen, die alleinige Kontrolle darüber haben, wie ihr Geld verwaltet wird und was damit geschieht.
Auch das Mitspracherecht der ArbeitgebervertreterInnen in der Sozialversicherung ist durch nichts zu rechtfertigen, weil die Sozialversicherungsbeiträge zur Gänze aus dem, von den ArbeitnehmerInnen erwirtschafteten Mehrwert, bezahlt werden.
Wie schon der Ursprung der Sozialversicherungen Resultat einer starken Arbeiterbewegung war, kann auch heute nur durch eine starke und demokratische Arbeiterbewegung eine Aushöhlung und Privatisierung der Sozialversicherung, wie es den Bürgerlichen vorschwabt, verhindertund eine Demokratisierung dieser Organisationen erreicht werden.