Seit Wochen beherrscht der sogenannte „Flüchtlingsstrom“ die Medien. Doch auch in den Köpfen und vielmehr in den Herzen vieler ÖsterreicherInnen sind die Schutzsuchenden angekommen. Und während man ein völliges Versagen der politischen und staatlichen Strukturen auf europäischer Ebene erleben muss, schaukeln Freiwillige in ungebrochener Hilfsbereitschaft in ganz Österreich fast die komplette Versorgung der Flüchtlinge. Von Lis Mandl.

Die meisten der Flüchtlinge kommen aus Syrien und dem Irak. Noch immer gilt: Über 80 Prozent der Flüchtlinge der Welt bleiben in ihrer Herkunftsregion – oft deshalb, weil sie auf eine Rückkehr hoffen, aber auch, weil ihnen die Möglichkeiten zur Weiterflucht fehlen. 

Wiederholt wurde auch schon gezeigt, dass Österreich (und Europa) in der Vergangenheit viel größere Menschenmassen aufnehmen konnte ohne in Chaos zu versinken (Ungarnkrise, Balkankrieg,...). Und trotzdem sprechen die europäischen SpitzenpolitikerInnen von einem nicht zu bewältigenden Strom, Überflutung und agieren mit panikmachenden Bildern. Jedes Oktoberfest ist ein größerer logistischer Aufwand und zumindest die Autorin ist noch nie wegen „Überlastung“ aufgrund von 50.000 Metal-Fans zu spät zum NovaRock Festival gekommen!

Die bewusste Eskalation

In Anbetracht der Geschichte könnte Österreich eigentlich auf ein großes know-how in Sachen Erstversorgung zurückgreifen. Doch die Realität zeigt ein komplett anderes Bild. Hoffnungslos überfüllte Lager, mangelnde Sanitäranlagen, Kinder unter Bäumen, Schutzsuchende in Baracken in den Bergen weit weg von jeder Infrastruktur. Und dieses Bild zieht sich europaweit durch. In Deutschland brennt fast jede Nacht eine Flüchtlingsunterkunft, ohne dass die Sicherheitsbehörden rechten Terror als sicherheitspolitische Herausforderung begreifen wollen. AsylwerberInnen werden im ehemaligen KZ untergebracht und in Ungarn blüht Orban in seiner (von der EU zugedachten) Rolle als Schutzpatron der Schengen-Grenze und des christlichen Europas auf. Die meisten Flüchtlinge berichten von Verhaftungen und Misshandlungen seitens der Behörden aller Länder. Spärliche Informationen und Unwahrheiten über die Grenzsituationen und Zugverbindung verstärken die Unsicherheit und traumatisieren die Menschen nachhaltig. Das können die eilig vor der Kamera vergossenen Krokodils-Tränen der hohen Politik nicht verbergen: die Regierungen und die EU haben angesichts der menschlichen Krise versagt und das tun sie bewusst.

Nur kurz haben die Regierungen Ungarns, Österreichs und Deutschlands dem Druck der Proteste und der Fliehenden nachgegeben müssen und einen Fluchtweg geöffnet. Es gab und gibt aber keine einzige Gesetzesinitiative, die den Flüchtlingen den Weg legal frei macht. Alle Regelungen des Grenzregimes sind in Kraft, sie mussten aufgrund der Macht des Faktischen nur kurz ausgesetzt werden. Seit Montag den 14.9.2015 agiert auch die österreichische Bundesregierung wieder auf dem Boden der europäischen Gesetzgebung. Die nächste Eskalation einer humanitären Tragödie ist hier europaweit in Umsetzung begriffen.

Gelebte Solidarität und menschliche Schönheit

Mit der Demonstration in Wien im August haben über 20.000 Menschen ein starkes Zeichen gegen die herrschende Asylpolitik gesetzt. Dies war der vorläufige Höhepunkt einer rund um das Aufnahmelager Traiskirchen entstandenen aktiven Solidaritätsbewegung. Tausende Menschen spendeten, besuchten das Lager, organisierten Freizeitaktivitäten. Und das alles vor einem massiv überfüllten Lager, zu dem weder „ÄrztInnen ohne Grenzen“ noch der Caritas Zutritt gewährt wurde. Die privatwirtschaftliche (und damit profitorientierte) Verwaltung eines sensiblen Bereichs der Fürsorge drängte so ins Zentrum öffentlicher Kritik.

Doch die Bewegung nahm auch die neuen Herausforderungen engagiert an. Nach dem Öffnen der Fluchtwege organisieren binnen Stunden Freiwillige gemeinsam mit sozialen Vereinen die gesamte Erstversorgung. Mit einer berührenden Professionalität und Herzlichkeit werden die Flüchtlinge an den Bahnhöfen versorgt, zigtausende SpenderInnen kommen, HelferInnen schieben Nachtschichten, ÖBBlerInnen machen freiwillige Arbeit, um die Transporte abzuwickeln. Leute fahren in Autokonvois los, um Flüchtlinge an den Grenzen abzuholen, versorgen sie daheim, lassen sie das erste Mal seit Wochen zur Ruhe kommen. Über soziale Medien und private Netzwerke wird eine vorbildliche Flüchtlingsarbeit geleistet – fernab von staatlichen Strukturen und politischer Unterstützung. Grundlegende Materialien müssen über Freiwillige organisiert werden (Essen, Medikamente, Zelte, Feldbetten). „Train of Hope“ (Wiener Hauptbahnhof) und „Wir helfen“ (Westbahnhof) sind nur zwei Beispiele eines unbeschreiblich schönen Ausdrucks der aktuellen Solidität. Doch auch in Linz, Salzburg, München sind solche Initiativen am Werken und füllen den politischen Unwillen mit Menschlichkeit und effizienter Unterstützung. Inzwischen springen auch Firmen – sicher nicht uneigennützig – auf den Zug der Solidarität auf und stellen diverse Produkte zur Verfügung. Die Grenzen zwischen dem was erlaubt ist und dem was gebraucht wird, verschwimmen. Die moralische Autorität der Staatlichkeit und ihre Gesetzte werden nicht nur offen hinterfragt sondern auch bewusst hintergangen. Besonders jetzt, da die „Eisernen Vorhänge“ wieder auf Europa niedergehen gilt es keine Rücksicht auf die bürokratischen Lösungsmodelle der „Flüchtingswelle“ zu nehmen, sondern nach bestem Wissen und Gewissen den Menschen zu helfen. Diese Selbstaktivierung ist überall zu begrüßen und absolut unterstützenswert. Jede und jeder, der/die in den letzten Wochen in der Bewegung aktiv ist, weiß um die berührenden Momente und die Schönheit menschlichen Kontakts sowohl mit den Flüchtlingen aber auch mit den HelferInnen selbst.

Hilfe den HelferInnen

Nach Wochen der Aktivität und des Spendens stoßen die HelferInnen an ihre Grenzen. Materialknappheit, mangelnde Koordination und vermehrt Behinderung durch die Behörden, sowie die sekundäre Traumatisierung (das Überspringen der Traumatisierung auf die HelferInnen selbst) durch die vielen schrecklichen Erlebnisse der Flüchtlinge hinterlassen ihre Spuren.

Die ArbeiterInnen– und Frauenbewegung hat durch Eigeninitiative und freiwilligen Arbeit vieles dazu beigetragen bzw. erkämpft, was heute als „Sozialstaat“ bekannt ist. Seien es medizinische Ambulatorien, soziale Vereine, Versicherungen oder auch Kultur- und Freizeitangebote. Vieles entstand abseits der staatlichen Strukturen nur durch Engagement und Eigeninitiativen. Die HelferInnen haben vorgezeigt, dass sie die Arbeit besser (und vor allem menschlicher) machen können als z.B. privatwirtschaftliche Organisationen wie ORS (eine profitorientierte Firma, die etwa Traiskirchen verwaltet). Jetzt gilt es die Erfahrungen der Freiwilligen aufzugreifen und sie dabei zu unterstützen. Einige Initiativen haben sich bereits zusammengeschlossen um nun politisch Druck zu machen, etwa die „Plattform Solidarität“ in OÖ.
Diese Forderungen drängen sich auf:

  • Dienstfreistellung bei Solidaritätsarbeit (einige Firmen haben dies gemacht), bzw. Bezahlung analog der branchenüblichen Kollektivverträge
  • Freier Zugang zu und Verwaltung von materiellen Ressourcen (Unterkünfte, Essen, medizinische Versorgung...) die für die Flüchtlingsarbeit notwendig sind
  • Volle Information über flüchtlingsrelevante politische Entscheidungen und Verhandlungen
  • Permanente Begleitung durch TraumatherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und DolmetscherInnen

Dies sind die nur die wichtigsten Maßnahmen um diese Arbeit weiter zu ermöglichen, die Selbstbestimmung der AktivistInnen zu erhalten und die Strukturen (die besser funktionieren als die staatliche Versorgung!) dauerhaft zu etablieren. Diese Maßnahmen dienen dem Schutz der Flüchtlinge aber auch der HelferInnen.

Die antikapitalistische Dimension des Helfens

Die Verhärtung der Flüchtlingspraxis an den Grenzen wird dazu führen, dass das staatlich gewollte und durchgesetzte zugefügte menschliche Leid massiv zunehmen wird. Dies betrifft in erster Linie die Flüchtlinge selbst. Durch die Militarisierung der Außengrenzen vom Mittelmeer bis ins Burgenland wird das Asylrecht komplett ausgehöhlt und das Sterben in fernere Regionen verlagert.

Aber auch die bereits hier lebenden Menschen haben Ängste vor sozialem Abstieg durch Arbeitslosigkeit und leeren Sozialkassen. Diese Stimmung ist besonders in armen Schichten der Arbeiterklasse, die nur prekär in den Arbeits- und Wohnungsmarkt eingegliedert, oder überhaupt aus diesen ausgeschlossen ist, stark vorhanden. Diese Angst fußt auf den realen Erfahrungen seit der Wirtschaftskrise 2008. Fallende Einkommen, steigende Preise, lange Arbeitslosigkeit und ein völlig überfüllter Arbeitsmarkt machen uns allen das Leben schwer und für viele zum Spießrutenlauf.

Unser Misstrauen gegen die Menschlichkeit der Herrschenden ist daher nicht auf die Flüchtlingssituation beschränkt. Wie auch aktuelle Beispiele zeigen, agiert die Politik allseits zynisch und schürt den Rassismus, nicht nur durch ihre Panikmache, sondern durch handfeste politische Weichenstellungen. So ist etwa die ÖVP der Meinung, dass das vergangene Woche präsentierte „Integrationsprogramm“ für Asylsuchende durch Kürzungen von bestehenden AMS Programmen finanziert werden soll. Anders formuliert: geht es nach den Bürgerlichen so zahlen die Leidgeprüften für die neu angekommenen Leidgeprüften. Dies ist aus unserer Sicht völlig inakzeptabel.

Die Gesamtsituation legt nahe: Unsere Menschlichkeit ist anti-kapitalistisch und kämpferisch gegen jenen kleinen – aber herrschenden – Teil der Gesellschaft, der es schafft jede Krise in eigenen Profit zu verwandeln. Unter unmenschlichen Bedingungen und Absichten der herrschenden Klasse formuliert unsere Menschlichkeit auch politische Forderungen:

  • Weg mit Frontex und den Grenzbefestigungen: Schluss mit den Abschiebungen in „sichere Drittländer“ und für das Niederlassungsrecht der Flüchtlinge im Land und der Stadt ihrer Wahl.
  • Wohnraum vor Profit: für die Aufbringung von leerstehendem Wohnraum. Für eine massive staatliche und kommunale Wohnbauoffensive.
  • Für eine offensive Kampagne der Gewerkschaften zur Aufklärung der Asylsuchenden über ihre sozialen Rechte und Arbeitsbedingungen: Es liegt in der Hand der Arbeiterbewegung durch eine offensive Integration der neuen ArbeiterInnen in die eigenen Reihen Sozialmissbrauch und die Untergrabung der Kollektivvertragsbedingungen durch die Organisierung von vorneherein zu unterbinden.
  • Für eine offensive Lohn- und Arbeitsmarktpoltik: Die vorhandene Arbeit muss aufgeteilt werden. Unbefriedigte gesellschaftliche Bedürfnisse (Bildung, Pflege,…) müssen angegangen werden.
  • Es gibt im Kapitalismus keinen „humanitären Krieg“, sondern nur militärische Durchsetzung von Profitinteressen, daher: Keinen Euro, keinen Soldat und keine Patrone für neue militärische Interventionen im Nahen Osten

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