Der Marxismus ist kein Dogma, sondern entstand im lebendigen Klassenkampf. Karl Marx war dabei nicht nur Theoretiker, sondern auch revolutionärer Praktiker. Das zeigt Gernot Trausmuth anhand seiner Rolle in der Revolution von 1848.


Karl Marx begann die Ausarbeitung seiner Weltanschauung mit einer peniblen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den fortgeschrittensten philosophischen, ökonomischen und politischen Schulen seiner Zeit. Das Studium der Texte von Hegel, Smith, Ricardo, Feuerbach, Proudhon u. a. war die Grundlage seiner eigenen Theoriearbeit. Diese bestand zu einem guten Teil aus der Kritik des Besten, was die Menschheit bislang an Ideen hervorgebracht hatte. Doch schon der frühe Marx war nicht nur Theoretiker, sondern beseelt vom Grundsatz der Einheit von Theorie und Praxis. Er wollte nicht nur eine neue Interpretation der Welt anbieten, er wollte die Welt verändern.

Fragen der Taktik

Das war seine Motivation, schon in den 1840er Jahren in der noch sehr kleinen revolutionären Arbeiterbewegung aktiv zu werden und diese für ein kommunistisches Programm, gestützt auf seine wissenschaftlichen Erkenntnisse, zu gewinnen. Mit dem Kommunistischen Manifest lieferten Karl Marx und Friedrich Engels ein Dokument, das genau dazu dienen sollte und mit dem allein sie sich schon für immer einen Platz in den Geschichtsbüchern der Arbeiterbewegung sicherten. Dieses Manifest ging von der These aus, dass Europa kurz vor dem Ausbruch einer Revolution stehe. Es sollte den Bund der Kommunisten, die Organisation von Marx und Engels, auf die kommenden großen Ereignisse vorbereiten. Der sowjetische Marx-Forscher Dawid Rjasanow fasste ihre Taktik im Manifest so zusammen:

„Für jedes Land ändern sich die Regeln je nach den bestimmten geschichtlichen Bedingungen. Wo die Bourgeoisie schon die herrschende Klasse ist, richtet sich der Kampf des Proletariats vollständig gegen sie. In den Ländern, wo die Bourgeoisie eine Klasse ist, die gerade erst die politische Macht erlangt, wie zum Beispiel in Deutschland, geht die kommunistische Partei Hand in Hand mit der Bourgeoisie, soweit sie revolutionär gegen die Monarchie und den Adel auftritt. Doch keine Minute lang hören die Kommunisten auf, den Arbeitern zu einem möglichst klaren Bewußtsein von der Gegensätzlichkeit der Klasseninteressen der Bourgeoisie und des Proletariats zu verhelfen. Sie stellen stets als Grundfrage der ganzen Bewegung die Eigentumsfrage an die erste Stelle.“


Wenige Wochen nach dem Erscheinen des Manifests brach in Frankreich die Revolution aus, im März folgten Wien und Berlin. Binnen Wochen wurde die herrschende Ordnung in ganz Europa erschüttert. Karl Marx sah seine Hauptaufgabe nun in der Rolle als aktiver Revolutionär. Zwar lehnte er das revolutionäre Abenteurertum von Bakunin und Co. ab, die mit einer bewaffneten Truppe in Deutschland einmarschieren und dort „Revolution machen“ wollten, doch reagierte er rasch und entwarf eine Taktik, wie die Kommunisten in der Revolution an Einfluss gewinnen können.


Nach seiner Rückkehr nach Deutschland, das er einst als politisch Verfolgter verlassen musste, beteiligte er sich am Aufbau der Neuen Rheinischen Zeitung (NRZ), die den Untertitel „Organ der Demokratie“ trug. Dieses Blatt sollte zum Sprachrohr der gesamten demokratischen, gegen die alte Feudalordnung gerichteten Bewegung werden. Marx erkannte, dass die Kommunisten zahlenmäßig zu schwach waren, um eigene Arbeiterorganisationen aufzubauen. Vielmehr sollten sie in der demokratischen Bewegung aktiv werden und dort ihren Standpunkt vertreten. Ihre Aufgabe sahen sie darin, Perspektiven zu erklären, politische Klarheit zu schaffen und so die besten Teile der Bewegung für ein kommunistisches Programm zu gewinnen. Damit unterschieden sie sich auch markant von ehemaligen Genossen wie Stephan Born, der eigene Arbeitervereine gründete, die sich nur um die „Arbeiterfrage“ (die sozialen Forderungen der Arbeiterschaft) kümmerten, aber keine politische Perspektive entwickelten.

Klassenspaltung

Als Wendepunkt der 1848er Revolution erkannte Marx die Niederschlagung des Aufstands der Pariser Arbeiterschaft im Juni 1848 durch die Bourgeoisie. Damit war das Bündnis aller Klassen, das wenige Monate zuvor gegen den Feudaladel die Revolution gemacht hatte, endgültig aufgekündigt. Das Bürgertum hatte sich wieder mit dem feudalen Königtum verbündet, die Konterrevolution war auf dem Vormarsch. Mit der Praterschlacht im August vollzog sich diese Entwicklung auch in Wien. Auslöser waren überfallsartige Lohnkürzungen bei den Beschäftigten der öffentlichen Bauarbeiten durch die liberale Regierung, was zu spontanen Arbeiterprotesten führte, die von der bürgerlichen Nationalgarde blutig unterdrückt wurden. Vier Tage nach diesem Massaker kam Marx nach Wien, um zu den fortgeschrittensten Teilen der revolutionären Bewegung Kontakte aufzubauen.

Marx intervenierte dort in den Debatten innerhalb der demokratischen Bewegung und versuchte, sie für die Perspektive eines entschlossenen Kampfes gegen die Konterrevolution zu gewinnen. Sein wichtigstes Argument war, dass das Volk als die höchste Gewalt in der Gesellschaft gesehen werden müsse und man weder auf den Kaiser noch auf den neuen Reichsrat vertrauen dürfe. Aus der französischen Erfahrung heraus versuchte Marx, die Wiener Demokraten auf einen bevorstehenden Entscheidungskampf mit der Konterrevolution vorzubereiten, der dann im Oktober tatsächlich stattfand. Er schlug die Bildung einer Einheitsfront aller demokratischen Kräfte vor. Diese manifestierte sich erstmals bei der Begräbnisfeier für die Opfer der Praterschlacht, die zu einer beeindruckenden Machtdemonstration der Revolution wurde.

Arbeiterbewegung

In zunehmendem Maße bemühte sich Marx nun auch, die entstehenden Arbeiterorganisationen politisch zu stärken. In Wien hielt er vor dem Arbeiterverein zwei wichtige Vorträge über die europäische Arbeiterbewegung und den Klassenwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. In informellen Gesprächen nahm er offensichtlich ebenfalls Einfluss auf die Linie des Vereins, der im Zuge von Marxens Bemühungen ein neues Programm annahm: Arbeitszeitverkürzung, Einführung einer Krankenversicherung, volle politische Rechte, freies Niederlassungsrecht. Erstmals wurden somit die Grundzüge späterer sozialdemokratischer Programme formuliert. Anstatt rein als Bildungsverein zu agieren, forderte der Verein nun die Einberufung eines Arbeiterkongresses, zu dem alle Branchen Delegierte entsenden sollten, und die Bewaffnung des Proletariats.


Damit lieferte Marx ein Paradebeispiel, wie eine der grundlegendsten Passagen des Kommunistischen Manifests in der Praxis angewendet werden soll:

„Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. […] Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“

Die Klassenspaltung zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwächte die revolutionäre Bewegung in Wien und erlaubte der Konterrevolution letztlich den Triumph. Aus dieser Erfahrung zog Marx den Schluss, dass man nicht einmal auf die radikalsten Teile der Bourgeoisie Hoffnung setzen konnte. Denn diese war unfähig, demokratische Bedingungen herzustellen. Das erklärt, warum Marx und Engels ab dem Herbst 1848 ihre Taktik änderten und verstärkt in der Arbeiterbewegung wirkten. Marx wurde sogar zum Vorsitzenden des Kölner Arbeitervereins gewählt. Doch mit dem Sieg der Konterrevolution musste er erneut ins Ausland flüchten.

Lehren der Revolution

Nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 versuchte Marx, den Bund der Kommunisten zu reorganisieren. Eine zentrale Aufgabe bestand darin, die Lehren der Revolution zu studieren und sich so politisch für die kommende Epoche vorzubereiten. Dadurch entstanden wichtige Schriften (Klassenkämpfe in Frankreich, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte), mit denen die marxistische Geschichtsauffassung weiter Form annahm. Ein klares Verständnis der Rolle des demokratischen Bürgertums und Kleinbürgertums war dabei von oberster Priorität, um nicht falsche Illusionen in ein Bündnis mit diesen Kräften aufkommen zu lassen.


So entwickelte Marx die Revolutionstheorie entscheidend weiter: Die Kommunisten müssen nun eine klare Orientierung auf die Arbeiterklasse entwickeln. Das Proletariat muss ab sofort die vorwärtstreibende und führende Kraft in der Revolution sein. In diesem Zusammenhang formulierte Marx in einer Ansprache an seine Genossen im März 1850 die Aufgaben der revolutionären Arbeiter:

„Aber sie selbst müssen das meiste zu ihrem endlichen Siege dadurch tun, daß sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muß sein: Die Revolution in Permanenz.“

(Funke Nr. 166/August 2018)


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