Der Fachkräftemangel ist in aller Munde. Was steckt dahinter? Mario Wassilikos deckt auf.
Seit dem Jahr 2016 gibt es eine leichte Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, die ausgebildeten Arbeitssuchenden zugutekommt. Vor allem Fachkräfte aus technischen Branchen werden von Unternehmen heiß begehrt, aber auch aus Handel und Daseinsfürsorge (Gesundheit, Pflege). So sind in den meisten Regionen für sie etwa Betriebswechsel relativ leicht möglich, wenn die Situation in einem Betrieb untragbar wird. Diese Situation bedroht die Profite der UnternehmerInnen. Daher forcieren sie in der öffentlichen Diskussion den Mythos des Fachkräftemangels.
„Fachkräftemangel wird zur massiven Wirtschaftsbelastung“, titelt das Wirtschaftsmagazin trend. „Es gibt innerhalb Österreichs keine Branche und keinen Ort mehr, der vom Fachkräftemangel verschont bleibt“, behauptet Erich Lehner, sogenannter „Managing Partner Markets“ im Prüfungs- und Beratungsunternehmen Ernst & Young Österreich. „Was ich unterschätzt habe, ist das Ausmaß des Fachkräftemangels, der den Betrieben unter den Nägeln brennt“, gesteht WKO-Präsident Harald Mahrer. Laut einer aktuellen Studie des WKO-nahen Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw), für die rund 4500 Unternehmen befragt wurden, fehlen in den österreichischen Firmen 162.000 Fachkräfte. Fast 82 Prozent von ihnen gehen davon aus, dass sich der Fachkräftemangel in den nächsten drei Jahren verstärken wird. 60 Prozent geben an, bereits jetzt Umsatzeinbußen zu haben.
Die Lösung für das Kapital ist klar – Druck auf die (potenziellen) ArbeiterInnen. Die Erhöhung der Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche würde Unternehmen helfen, trotz Fachkräftemangels Aufträge annehmen und gute Services bieten zu können. Zudem schreien WKO und Industriellenvereinigung in diesem Zusammenhang immer wieder nach der Einführung des Teilkrankenstandes und härteren Sanktionen gegen Arbeitslose bei „fehlender Motivation“. Die Abschaffung der Notstandshilfe und die Kürzung der Mindestsicherung werden massiv gefordert, da diese Maßnahmen den Druck auf Arbeitslose erhöhen, jeden noch so mies bezahlten Job anzunehmen. Und das alles wegen des angeblichen Fachkräftemangels!
Welcher Mangel?
Der Begriff „Fachkräftemangel“ soll den Mangel an passenden Arbeitssuchenden zum Ausdruck bringen. Jedoch ist dieses Schlagwort äußerst schwammig – es gibt weder eine exakte noch eine zumindest allgemein verbindliche Definition dafür, nicht einmal für den Begriff „Fachkraft“ selbst. So wurde bei der oben erwähnten ibw-Studie den UnternehmerInnen selbst überlassen, zu definieren, was sie darunter verstehen. „Ich würde jeden, der keine Hilfskraft ist, als Fachkraft bezeichnen“, betont Soziologe Helmut Dornmayer, der diese Studie durchführte.
Tatsächlich ist die Arbeitslosenquote im Vergleich zum August des Vorjahres um ca. 8 Prozent gesunken. Gewachsen sind auch die sofort verfügbaren offenen Stellen – fast 80.000 im August, um ca. 28 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Ihr Gesamtbestand stieg 2017 im Vergleich zu 2016 um fast 15 Prozent.
Die Arbeitslosenquote geht seit ihrem Höhepunkt 2016 (9,1 Prozent) kontinuierlich zurück und Unternehmen fragen immer stärker nach qualifizierten Arbeitskräften nach. Das trifft vor allem auf FräserInnen, SchweißerInnen, InstallateurInnen, DreherInnen, MaschinenbautechnikerInnen, MaschinenschlosserInnen, LokführerInnen, ChemiearbeiterInnen, Diplomierte Gesundheits- und KrankenpflegerInnen zu.
Diese Entwicklung ist nicht nur dem zarten Aufschwung geschuldet. Sie hat vor allem auch Gründe, die die UnternehmerInnen am liebsten verschweigen. So hat sich die Zahl der Lehrlinge seit dem Ausbruch der Krise im Jahr 2008 massiv verringert: von 131.880 (2008) auf 106.613 (2017) – ein Verlust von fast 20 Prozent! Auch die Zahl der Ausbildungsbetriebe ist stark gesunken – seit 2006 um ca. ein Viertel oder um fast 10.000. „Sich jetzt über den Mangel an Fachkräften zu beschweren, ist, wie nicht einkaufen zu gehen und dann über einen leeren Kühlschrank zu staunen. Wer nicht ausbildet, hat keine Fachkräfte“, fasst Stefan Bartl, Bundesjugendsekretär der Österreichischen Gewerkschaftsjugend, zusammen. Massiv gewachsen ist hingegen die Anzahl der Lehrlinge in der überbetrieblichen Ausbildung: von 3.647 (2008) auf 9.101 (2017) – beinahe eine Verdreifachung!
Es ist offensichtlich: Mit der schweren Systemkrise des Kapitalismus und dem daher immer schärfer werdenden Wettbewerb vernachlässigen die Betriebe immer mehr die Ausbildung ihrer eigenen Fachkräfte bzw. schieben diese auf die öffentliche Hand ab. Kein Wunder, ist doch ein Lehrling nicht so produktiv wie eine Fachkraft.
Sie ist im Gegensatz zu ihm, der noch ausgebildet werden muss, voll einsatzfähig und kann daher intensiver als er ausgebeutet werden – was vor allem in Krisenzeiten für das Kapital zur Stabilisierung der Profite notwendig ist. So suchen heute UnternehmerInnen in Stellenanzeigen lieber nach der eierlegenden Wollmilchsau, als in die Ausbildung zukünftiger Arbeitskräfte zu investieren. Gesucht wird jemand, der am besten schon alles kann, aber sich mit einem Hungerlohn als Lehrling zufriedengibt.
Propaganda des Kapitals
Es bleibt festzuhalten, dass die Arbeitslosigkeit in Österreich noch immer sehr hoch ist. Selbst dann, wenn im August alle beim AMS registrierten sofort verfügbaren Stellen vergeben worden wären, hätten in diesem Monat 265.297 gemeldete Arbeitslose und SchulungsteilnehmerInnen leer ausgehen müssen.
Zudem hatten 2017 188.736 Arbeitslose mindestens eine Facharbeiterausbildung, während 2008 ihre Anzahl 113.056 betrug – eine Steigerung von fast 67 Prozent! Der Fachkräftemangel ist also vor allem eines – ein Mythos. Ökonom Karl Brenke bestätigt: „Das Geschrei der Unternehmen ist viel heiße Luft. Hätten wir einen Mangel, müssten die Löhne sehr viel stärker steigen.“
Tatsächlich sind laut OECD in Österreich die realen Stundenlöhne im vierten Quartal 2017 im Vergleich zum Vorjahresquartal durchschnittlich um 0,6 Prozent gesunken. Kurz gesagt: Es gibt keinen Fachkräftemangel.
Dieser ist in Wirklichkeit ein Vorwand, den Konkurrenzdruck unter den LohnarbeiterInnen zu erhöhen, die Löhne (noch weiter) zu drücken, Arbeitsrecht und Sozialstaat anzugreifen, anstatt in die Ausbildung von Lehrlingen bzw. Arbeitslosen zu investieren oder mit höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen arbeitslose Fachkräfte anzuwerben.
Die Arbeiterbewegung muss daher selbst in die Offensive gehen – gegen die Lügen des Kapitals und für Verbesserungen für die Lohnabhängigen, etwa Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür! Denn gerade dann, wenn die Auftragsbücher voll sind, die Maschinen auf Hochtouren laufen und der Euro im Handel rollt, tut ein Streik den UnternehmerInnen besonders weh.
(Funke Nr. 168 / November 2018)