Eine Initiative unter dem Schlagwort „Zero Covid“ hat in den letzten Tagen in der deutschsprachigen Presse für Aufsehen gesorgt. Eine Replik von Florian Keller.
Zehntausende Menschen aus dem deutschsprachigen Raum haben die Erklärung (zero-covid.org) zu Redaktionsschluss unterzeichnet, die ErstunterzeichnerInnen kommen vor allem aus der politischen Linken. Das Ziel ist in den Worten der Initiative selbst:
„kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern ihre Beendigung. […] Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein“, oder zumindest so tief sinken, dass „jede einzelne Ansteckung wieder nachvollziehbar ist“.
So oder so ist das ein gutes Ziel – aber genau das Gegenteil ist in den letzten 10 Monaten passiert. Die Pandemie hat sich über den gesamten Planeten verbreitet, die Ansteckungszahlen haben sich Welle für Welle immer weiter erhöht. Warum ist das so?
„Zero-Covid“ erklärt das damit, dass die Maßnahmen der Regierungen falsch waren: „Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert („flatten the curve“).“ Daher brauche es einen „radikalen Strategiewechsel“ mittels einen einmaligen harten „solidarischen Lockdowns“.
Eine wirkliches „Zero-Covid“-Programm würde voraussetzen, dass der Klassenwiderspruch in der Gesellschaft klar benannt wird, die ArbeiterInnen auf dieser Basis zum Kampf organisiert werden und wir so den Kapitalismus und die Regierungen, die ihn verwalten, loswerden können. Covid kann nicht über eine abstrakt „richtige Politik“, durch „vernünftiges Handeln“ im Allgemeinen, sondern nur durch den Klassenkampf, also dem „vernünftigen Handeln“ der Arbeiterklasse, besiegt werden. Kurz gesagt: Es geht nicht um das Aussprechen einer abstrakten Vernunft, sondern um die Durchsetzung von materiellen Interessen.
Klassenkampf statt Appelle
Doch „Zero Covid“ spricht das nicht an. Im Gegenteil: Das Programm appelliert an ein nicht näher definiertes „wir“, um dafür zu sorgen, dass dieses „vernünftige Programm“ Realität wird. Und indem es in der Darstellung der (Klassen-)widersprüche schwammig bleibt, läuft das Programm auf einen Appell an die Herrschenden hinaus: „Wir brauchen sofort eine gemeinsame Strategie in Europa.“ Und wenig später: „Das entschlossene Handeln etlicher Länder hat gezeigt, dass es möglich ist, die Verbreitung des Virus zu beenden.“ So werden die Verantwortlichen für das derzeitige Chaos billig vom Haken gelassen.
Das öffnet Merkel, Kurz und Co. die Türe, die Initiative selbst demagogisch zu nutzen – eine Chance, die ihnen gerade jetzt in ihrem offensichtlichen Scheitern wie gerufen kommt: Während Millionen ArbeiterInnen, Jugendliche und KleinunternehmerInnen leiden, wird „Zero Covid“ vom Kapital als Rammbock eingesetzt, um einen neuen (wie gehabt völlig unsolidarischen) Lockdown zu argumentieren. Ein „Fokus“-Artikel titelte etwa: „Zero-Covid-Expertin beriet Merkel – Strategie, die Australien aus dem Lockdown holte“. Statt sich zu beschweren, dass die sozialen Forderungen der Initiative in der Öffentlichkeit völlig unter den Teppich gekehrt werden, sollten sich ihre UnterstützerInnen lieber fragen, warum dies möglich ist: wenn man ein gesellschaftlich abstraktes Programm präsentiert wird das Kapital nichts anderes tun, als sich die für seine Interessen im Moment „vernünftigen“ Punkte herauszupicken und den Rest durch seine reale Macht über die Gesellschaft zu ignorieren.
Auch wenn „Zero Covid“ es nicht wahrhaben will: Im Rahmen eines unvernünftigen, weil rein profitorientierten, Systems vernünftige Klassenpolitik von Seiten des Kapitals zu fordern kann nur schief gehen. Was damit weiterhin fehlt, ist vernünftige Klassenpolitik von links, eine Politik der Arbeiterklasse. Und das kann heute nur die Enteignung der Konzerne und die Kontrolle der Arbeiterklasse über die Gesellschaft sein.
(Funke Nr. 190/20.1.2021)