Wohl nicht zufällig entdecken AMS-Chef, Wirtschaftsbund und Bundeskanzler Kurz gleichzeitig, dass man die „Arbeitsanreize“ erhöhen muss. Von Martin Halder.

Ende Juli waren 344.000 Arbeitslose gemeldet, dem stehen 113.000 offene Stellen gegenüber. 90% der ArbeitslosengeldbezieherInnen leben unter der Armutsgrenze. Aus Sicht der Bürgerlichen ist das Verhältnis 1 Job auf 3 Arbeitslose zu niedrig, um den Druck auf die Unternehmen, bessere Arbeitsbedingungen anzubieten, vollständig abzufedern. Tatsächlich beklagen in einigen Brachen (etwa Gastronomie, Hotellerie) und Regionen Unternehmer, dass sie zu den gebotenen Bedingungen nicht genügend Arbeitswillige melden. Anstatt bessere Bedingungen anzubieten, sollen nun die Bedingungen der Arbeitslosigkeit verschärft werden. So sollen Arbeitslose gezwungen werden, Arbeit anzunehmen, ohne dass der Profit der Einzelunternehmer geschmälert werden würde. Auch eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters ist wieder in Debatte.

AMS-Vorstand Johannes Kopf preschte mit dem Vorschlag vor, die Zuverdienstmöglichkeit zum Arbeitslosengeldbezug (bis zu 475€ monatlich) für Arbeitslose abschaffen oder stark einschränken zu wollen. Dies würde aktuell nahezu 43.000 Arbeitslose treffen. Weiter sieht er auch in der Erhöhung des Pensionsantrittsalters ein weiteres ungehobenes Potenzial für den Arbeitsmarkt.

Der ÖVP-Wirtschaftsbund schlägt in dieselbe Kerbe. In einem internen Papier fordert er niedrige Zumutbarkeitsgrenzen. Eine Arbeit soll angenommen werden müssen, auch wenn der Anfahrtsweg bis zu 1,5 Stunden dauert (aktuell: 1 Stunde) und Langzeitarbeitslose (über ein Jahr arbeitslos) sollen keine Jobs mehr ablehnen dürfen, egal wo der Arbeitsplatz ist (in einem andern Bundesland, auf einer Alm, …). Damit nicht genug, ist ein weiterer Vorschlag des Papiers ein degressives Modell des Arbeitslosengeldes, welches mit längerer Arbeitslosigkeit auf bis zu 40% des vorigen Nettoeinkommens gesenkt werden soll. Aktuell beträgt es 55% für höchstens ein Jahr.

Arbeitsminister Kocher, der sich ja weniger als Politiker sieht, wird als evidenzbasiert entscheidender Wissenschaftler dieser geballten „Expertise“ viel abgewinnen können. Gerade bereitet er eine grundlegende Arbeitsmarktreform für den Herbst vor. Dass hier ein Gesamtplan der Bürgerlichen dahintersteckt wurde spätestens klar, als Sebastian Kurz auf dem ÖVP-Bundesparteitag seine Vision „einer Gesellschaft, in der die Menschen auch die Ärmel aufkrempeln und nicht nur die Hand aufhalten“ skizzierte. Die „Frühaufsteher“-Partei (die ihren Parteitag um 13:00 startet) kennt sich mit offen Händen auch wirklich gut aus, wie ihr Erfolg beim Parteispendenkassieren bei Konzernen und Reichen zeigt.

Daher Achtung! Der Druck auf die Ärmsten am Arbeitsmarkt trifft alle Beschäftigten, weil dadurch das allgemeine Niveau der Arbeit untergraben wird. Die „Arbeitsmarktreform“ wird böse Überraschungen für alle Lohnabhängigen beinhalten, denn diese Regierung ist den großen Unternehmen verpflichtet. Es gilt wachsam zu sein und nicht kleinkariert zu denken. Es könnte notwendig sein, nicht nur für einen hohen Lohnabschluss, sondern auch gegen Konterreformen am Arbeitsmarkt in den Betrieben und auf den Straßen zu mobilisieren.

(Funke Nr. 196/1.9.2021)


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