Wie entstand Putins Regime, was sind seine Merkmale und inwiefern unterscheidet sich die Staatlichkeit des russischen Kapitalismus von der bürgerlichen Machtausübung im Westen? Dazu eine (gekürzte) Analyse des russischen Marxisten Ivan Loh aus dem Jahr 2019.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde in den 1990ern der Kapitalismus wieder eingeführt, das Industriekapital und Bankenkapital verband sich zu Finanzkapital. Genau wie im Westen dominieren Monopole. Diese Situation existiert heute in allen entwickelten kapitalistischen Ländern. Doch trotz ihrer ähnlichen wirtschaftlichen Basis gibt es dramatische Unterschiede zwischen dem politischen System Russlands und beispielsweise dem der USA.

Genau wie im Westen ist der Staat mit tausend Fäden mit der herrschenden Klasse verbunden. Doch während sich die Bourgeoisie im Westen auf ein gut eingespieltes und über Jahrzehnte ausselektiertes Establishment aus Berufspolitikern, Offizieren und nicht zuletzt die Arbeiteraristokratie zur Wahrung ihrer Interessen verlassen konnte, existierte dies in Russland nicht. Auch die Privatisierungen schufen keine derartige Schicht, sondern verwandelten Staatsbeamte in eine neue Kapitalistenklasse. Dieser Prozess ist oft sehr gewaltsam und wird begleitet von der Enteignung einzelner Kapitalisten. Es gibt zahlreiche gierige Geschäftsleute in Russlands Gefängnissen und Straflagern. Offensichtlich hat die herrschende Klasse keine Kontrolle über die höheren Ebenen des Staates. Doch wie kam es zu dieser Situation?

Privatisierungen

In vielen osteuropäischen Ländern ermöglichte es die Kapitulation der Massen vor dem westlichen Imperialismus, staatliche Industrien im Sinne westlicher Konzerne zu privatisieren. In Russland dagegen waren die Profiteure Direktoren staatlicher Betriebe, Beamte und hohe Parteifunktionäre. Die stalinistische Bürokratie (auch als „Nomenklatura“ bezeichnet) privatisierte Unternehmen in ihrem Interesse. Ein kleiner Teil des Besitzes wurde durch Anteilscheine (Coupon-Privatisierung) an die Arbeiter und Angestellten verteilt.

Schnell wurde klar, dass diese extreme Zerstückelung von Kapital nicht mit dem hohen Grad wirtschaftlicher Entwicklung in Einklang zu bringen war. Beispielsweise war Aeroflot in hunderte regionale Firmen mit meist zwei bis drei Flugzeugen aufgeteilt. Ohne freies Kapital zur Investition und angesichts des primitiven Bankensystems verloren diese Vermögen schnell an Wert. Zukünftige Oligarchen kauften sich ihre Unternehmen zusammen – mit Geld aus dem Verkauf von Altmetall oder aus Pyramidensystemen. Dies wäre ohne ihre Verbindung zur Staats- und Parteibürokratie unmöglich gewesen. Wichtige Vermögenswerte wurden bei Pfandauktionen an Oligarchen privatisiert und mit Geld bezahlt, das vom Staat geliehen wurde.

Die Machtübergabe an Putin

In den letzten Jahren von Jelzins Herrschaft begannen die großen Kapitalisten ihre Kontrolle über das politische System durch verschiedene Methoden zu festigen. Die Banker plünderten den Staat aus, indem sie ihn zwangen, Staatsanleihen zu immer höheren Zinsen auszugeben. Dies führte im August 1998 zur Zahlungsunfähigkeit des Staates. Nachdem die Oligarchen ihre Schulden beim Staat abgeschrieben hatten, wurden sie noch reicher. Kleinere und mittlere Unternehmen hingegen wurden vom Liquiditätsverlust der Banken hart getroffen, die Währung und die Nachfrage brachen zusammen.

Damit verlor auch das Jelzin-Regime an Unterstützung, sowohl in der Arbeiterklasse, als auch unter den Kapitalisten. Unter Druck musste Präsident Jelzin die Einsetzung einer Technokraten-Regierung außerhalb seiner eigenen Kontrolle akzeptieren. Um aber den letzten Schritt von einer Gruppe Banditen mit Privatarmeen und Auftragsmördern zu respektablen Millionären zu machen, benötigten die Oligarchen aber eine liberale Regierung. Wechselseitige finanzielle Integration mit westlichen Unternehmen sollte ihre soziale Existenz endgültig absichern.

In dieser Situation entwickelten die politisch dominanten Oligarchen um Boris Beresowski den Plan, die Macht an einen scheinbar leicht manipulierbaren aber starken Mann zu übergeben. Doch ihre „Marionette“ Putin, wie auch andere Beamte des FSB (Geheimdienst, vormals KGB), sah wie fragil die Eigentumsverhältnisse in Russland waren. Er verstand, dass er eine wichtigere Rolle spielen konnte, als nur Beresowskis Handlanger zu machen. Durch den Tschetschenien-Krieg gelang es ihm, den Staat zu konsolidieren und er präsentierte sich als Garant für Stabilität.

Doch die Konsolidierung des Staates hatte komplett andere Konsequenzen als die Oligarchen beabsichtigten. Wer den neuen Regeln nicht gehorchte, also sich nicht aus der Politik zurückzog oder Putins Anweisungen nicht wortgetreu befolgte, wurde kaltgestellt und sein Vermögen beschlagnahmt. Chodorkowski und sein Ölkonzern Yukos ist das bekannteste Beispiel, aber viele erlitten das gleiche Schicksal.

Der öffentliche Sektor und „Wiederverstaatlichung“

Der Öl- und Gassektor wurde größtenteils wiederverstaatlicht. Staatliche und staatlich kontrollierte Unternehmen agieren unter Marktbedingungen. Formell operieren sie im Interesse der Aktionäre, aber in Wahrheit ziehen die staatlich ernannten Topmanager die Fäden. Dies hat aber nichts mit einer geplanten Wirtschaft zu tun.

In Russland dient das Staatseigentum nur als Instrument der effizienteren Kontrolle der Wirtschaft mittels staatlicher Durchsetzung von Marktbedingungen durch große Kapitalgruppen. Alles andere, wie die bewusste Entwicklung von regionalen Wirtschaftszonen etc., ist sekundär.

Bonapartismus

Der Staat ist ein Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse. Diese Aussage stimmt im Allgemeinen. Schauen wir jedoch in die Geschichte der Klassengesellschaften, finden wir ganze Epochen, in denen der Staat (d.h. die Bürokratie) die herrschende Klasse politisch unterdrückte und das Land ohne ihre tatsächliche Beteiligung regierte. Marx entwickelte im „18. Brumaire“ das Konzept des bürgerlichen Bonapartismus, um das politische Regime des zweiten Kaiserreichs in Frankreich zu beschreiben. Die herrschende Kapitalistenklasse behielt ihr Eigentum, war im Namen ihrer politischen Interessen gezwungen, sich voll und ganz auf den Kaiser zu verlassen.

Der Grund für die Herausbildung des bonapartistischen Regimes war die Unfähigkeit der Bürgerlichen, nach dem Sieg der 1848er Revolution und dem Zusammenbruch der Zweiten Republik das Proletariat zu kontrollieren und dadurch die Unantastbarkeit des Privateigentums zu garantieren. Die Bourgeoisie stimmte der Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit schweigend zu, weil sie darin den einzigen Weg sah, die Machtergreifung der Proletarier in Paris und Lyon zu verhindern.

Louis Bonaparte, entschlossen die bestehende Klassengesellschaft zu erhalten, kombinierte politische Repression gegen die Kommunisten mit der Legalisierung von Gewerkschaften (in der zweiten Hälfte seiner Herrschaft) und erkannte zum ersten Mal in der modernen Geschichtsschreibung das Streikrecht an. Um sich als „starker Mann“ zu beweisen, verfolgte der Kaiser eine aktive Außenpolitik, bis ein „kleiner Krieg“ mit Preußen zur Pariser Kommune führte.

Bonapartistische Regimes scheinen extrem stabil, aber dahinter liegen unvermeidbar innere Widersprüche. Einerseits gibt es die offene Korruption und das direkte Beschlagnahmen von Eigentum durch Staatsbeamte. Den Bürgerlichen bleibt nichts anderes als Bitten an „Bonaparte“ zu richten. Andererseits steht „Bonaparte“ vor den unterdrückten Klassen als der alleinige politische Verantwortliche. Das Staatsoberhaupt muss also, wenn nicht Wohlstand, dann zumindest Elemente eines Sozialstaates sicherstellen. Andernfalls bleibt ihm nur die Repression zum Erhalt seiner Herrschaft.

Nochmal zu Putin

Wir sahen, wie die Großkapitalisten sich auf Putin stützten. Sie dachten, er würde wegen der wirtschaftlichen Misere politisch komplett isoliert und bei den Massen verhasst sein. Indem die Aufmerksamkeit der Massen auf Terrorismus und den Krieg in Tschetschenien gelenkt wurde, stabilisierte Putin die Situation. Danach führte der Rückgang der Reallöhne zu neuer Investitionsbereitschaft unter den Kapitalisten. Der hohe Ölpreis stabilisierte die russische Wirtschaft zusätzlich.

Doch diese Periode des Wachstums wurde durch die Weltwirtschaftskrise 2008 unterbrochen. Dadurch verlor Putin das Vertrauen der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es zeigte sich auch, wie abhängig Russland vom Weltmarkt war. Die Konsequenzen davon waren die Massenproteste von 2011-12 und Putins Suche nach einer neuen sozialen Basis und neue außenpolitische Abenteuer.

Bonapartismus und Faschismus

Wie Trotzki erklärte, beginnt der Faschismus als Massenbewegung des Kleinbürgertums. In der Krise ist es zwischen der revolutionären Partei und dem Großkapital gefangen. Es sucht in der Schaffung faschistischer Banden nach einem radikalen Ausweg. Da sie alleine unfähig sind, an die Macht zu kommen, suchen diese einen Deal mit dem Großkapital. Für die herrschende Klasse ist dies eine verzweifelte Maßnahme. So lange wie möglich versucht sie, mit einem klassischen bonapartistischen System die Ordnung aufrecht zu erhalten. Erst angesichts einer drohenden Revolution legen sie ihr Geschick in die Hände der faschistischen Angriffstrupps. Und obwohl der Faschismus viele Gemeinsamkeiten mit dem Bonapartismus hat, lässt er sich nicht darauf reduzieren.

Putin setzt nicht auf die rechtsextreme „Nationale Befreiungsbewegung“, um potentielle Massenbewegungen der Arbeiterklasse zu unterdrücken, sondern auf die Nationalgarde, eine Eliteeinheit, die ihm direkt untersteht. Putin kann sich also nach wie vor auf die bürgerliche Staatsmaschinerie stützen. Sein Regime ist ein bonapartistisches, kein faschistisches.

Die Zukunft Putins

Was bedroht das Regime? Erstens die „Polizeikriege“ – Machtkämpfe zwischen verschiedenen Clans und Fraktionen der Sicherheitskräfte angesichts schwindender Beute. Es gibt immer weniger mittelgroße Unternehmen, was es schwerer macht, an Schmiergelder zu kommen. Doch obwohl jedes Jahr neue Strafkolonien für korrupte Beamte eröffnet werden, an Insassen mangelt es nie.

Ein wichtiges innenpolitisches Thema in Russland ist deshalb Putins Nachfolge. Eine solche Notwendigkeit könnte zufällig aufkommen: eine Niederlage im Krieg, die Folgen des Wirtschaftseinbruchs oder nachlassende Gesundheit. Deshalb fokussiert sich die „echte“ Politik nicht auf Putin, sondern auf seinen potentiellen Nachfolger. Hier gibt es einen regelrechten Krieg mit wechselnden Koalitionen und Tonnen von sich gegenseitig belastendem Material.

Die Arbeiterklasse

Die russische Wirtschaft ist seit den Krim-Sanktionen (2014) krisenhaft. Steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Lebensstandards werden mittelfristig zu neuen Massenbewegungen in Stadt und Land führen. Ohne Unterstützung von unten muss das Regime sich auf nackte Gewalt verlassen.

Dann wird jeder Offizier und jeder Soldat mit einer Entscheidung konfrontiert sein. Dann wird die fehlende Verbindung zwischen dem Offizierskorps und der herrschenden Klasse in Russland, die weiter oben erklärt wurde, offensichtlich werden. Die Vorbedingung für diese Perspektive ist eine Bewegung der arbeitenden Klasse, die den Staatsapparat spalten und die gewöhnlichen Soldaten mit Wurzeln in der Arbeiterklasse für die sozialistische Revolution gewinnen kann.

(Funke Nr. 202/22.3.2022)



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