Arbeitszeit. Heuer noch soll es der geregelten Arbeitszeit an den Kragen gehen. Das Scheitern der sozialpartnerschaftlichen Gespräche ist so gut wie sicher. Zeit für den ÖGB, mobil zu machen, meint Mario Wassilikos.
Der Kampf um die Arbeitszeit ist so alt wie der Kapitalismus selbst, es galt und gilt die Zeit und den Preis der Arbeitskraft festzulegen. Der 1. Mai stand einst im Zeichen für den Kampf um den 8-Stunden-Tag, selbst im Hainfelder Programm von 1889 wurde die Forderung nach ihm erhoben. Gesetzlich verankert wurde er 1918 unter der Ägide des Gewerkschafters und Staatssekretärs für soziale Fürsorge Ferdinand Hanusch. Der Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte es dem Kapital, den Forderungen der Arbeiterbewegung nach weiteren Arbeitszeitverkürzungen entgegenzukommen. So wurde in Österreich die Wochenarbeitszeit schrittweise von 48 auf 45 (1959), dann auf 40 (1975) und ab 1985 in einzelnen Branchen (z. B. Metall) auf 38,5 Stunden reduziert. Nun sollen die Uhren wieder zurückgedreht werden.
Mit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs setzte die Arbeitszeit betreffend eine gegenteilige Entwicklung (nicht nur) in Österreich ein. Ab den 1990er Jahren und spätestens mit der Novelle zum Arbeitszeitgesetz 1997 fanden erste umfassende Flexibilisierungen zulasten der ArbeitnehmerInnen statt. Der Ausweitung des Arbeitstages auf 9 bzw. 10 Stunden und der Vermeidung der Auszahlung von Überstundenzuschlägen wurden damit Tür und Tor geöffnet. Doch das ist dem Kapital mittlerweile zu wenig. Mitte vergangenen Jahres nahm eine Debatte an Fahrt auf, die bis heute andauert: jene um die Einführung des 12-Stunden-Arbeitstags. Radikale Kapital-VertreterInnen wie die Industriellenvereinigung und eine unter dem Raiffeisenkonzern lancierte sogenannte „Aktionsplattform für Leistung und Eigentum“ verlangen das Ende jeder gesetzlichen Arbeitszeitregelung. Nur noch eine Ruhephase von acht Stunden zwischen Arbeitsende und Neubeginn soll festgelegt werden.
Es ist kein Zufall, dass das Kapital gerade jetzt dem 8-Stunden-Tag den Kampf angesagt hat. Die schwerste Krise des Kapitalismus seit 1929 will die österreichische Bourgeoisie vor allem durch „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ lösen. Dabei will sie den Arbeitstag verlängern, ohne den Lohn zu erhöhen. Überstunden sollen auf Zeitkonten kommen, statt mit Zuschlägen ausgezahlt zu werden. Die Steigerung des Auspressens der ArbeiterInnen soll somit offensichtlich eher durch eine Verlängerung der Arbeitszeit und nicht so sehr durch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität erfolgen. Das Sinken der Bruttoanlageinvestitionen in % des BIP von 25,7 im Jahr 2000 auf 22,9 im Vorjahr und der Arbeitsproduktivität von 122,1 auf 115,6 (BIP je Erwerbstätigen in Kaufkraftstandards: EU 28 = 100) im selben Zeitraum in Österreich deuten darauf hin. Die österreichischen KapitalistInnen vermeiden also tendenziell das finanzielle Risiko produktivitätssteigernder Investitionen (z. B. in bessere Maschinen) und versuchen durch Arbeitszeitverlängerungen die Systemkrise des Kapitalismus zu ihren Gunsten und zulasten der Lohnabhängigen zu lösen. Wieder einmal zeigt sich, wer die tatsächlichen RisikoträgerInnen im Kapitalismus sind.
Hackeln bis zum Umfallen
Schon jetzt dürfen laut Arbeitsrecht in Österreich Überstunden bis zu einer Arbeitszeit von zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche geleistet werden, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen – und das für bis zu 24 Wochen pro Jahr! Die KapitalistInnen nützen diese Möglichkeit äußerst intensiv aus. So wurden z. B. 2015 mehr als 250 Millionen Überstunden geleistet, von denen ca. ein Fünftel sogar unbezahlt war – und das bei fast einer halben Million Arbeitslosen. Diese intensive Ausbeutung unserer Arbeitskraft hat verheerende physische und psychische Folgen, schreibt der Blog „Arbeit & Wirtschaft“: „Gesundheitliche Beschwerden – sowohl muskuloskelettale (Rückenschmerzen, Nacken- und Schulterschmerzen, Gliederschmerzen etc.) als auch psychovegetative (Kopfschmerzen, Stress, allgemeine Erschöpfungszustände etc.) – nehmen, laut Diplom-Psychologin Veronika Kretschmer, mit der Dauer der Wochenarbeitszeit zu. Je höher diese ist, desto häufiger tritt auch das Gefühl auf, aufgrund von Arbeitsstress ausgebrannt zu sein. Ein in diesem Zusammenhang noch wenig beleuchtetes Phänomen ist das sogenannte „Hirndoping“, in der Fachsprache als pharmakologisches Neuroenhancement bezeichnet. Das ist der missbräuchliche Konsum von verschreibungspflichtigen Medikamenten, den gesunde Menschen betreiben, um die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns und ihr psychisches Wohlbefinden zu verbessern. Forschungsergebnisse zeigen, dass Personen mit hoher Wochenarbeitszeit (mehr als 40 Stunden) deutlich öfter dazu neigen, leistungssteigernde Substanzen einzunehmen, als Personen, die zwischen 20 und 40 Wochenstunden arbeiten. Gute Arbeitsbedingungen, ausreichende Ressourcen bei der Erfüllung der Arbeit – wie Handlungsautonomie, Unterstützung durch Vorgesetzte und KollegInnen usw. – können die negativen Auswirkungen von überlangen Arbeitszeiten zwar teilweise abschwächen, aber nie die langfristigen Spätfolgen von überlangen und atypischen Arbeitszeiten (z. B. Nacht- und Schichtarbeit) ausgleichen. Zudem bedeutet diese schon jetzt viel zu oft praktizierte Reduktion der Freizeit durch Arbeit starke Konflikte zwischen Berufs- und Privatleben, häufigere Krankschreibungen wegen psychischer Beschwerden, emotionale Erschöpfungszustände, Burnout- oder Depressionssymptome usw. Beinahe 40 Prozent der Beschäftigten denken auch in der Freizeit an die Schwierigkeiten bei der Arbeit. Geistiges Abschalten, ein Loslösen von der Arbeit während der arbeitsfreien Zeit, fällt immer mehr ArbeitnehmerInnen schwerer.“ (http://blog.arbeit-wirtschaft.at/unsere-arbeit-unsere-zeit/) Lange Arbeitszeiten, viele Überstunden und chronischer Zeitdruck fordern ihren Tribut.
Im März dieses Jahres brachte sich dann das „Zentrum für Public Health“ an der Medizinischen Universität Wien in die Diskussion ein. Eine von den ForscherInnen angefertigte Studie zeigt, dass 12-Stundendienste ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellen. Demnach müsste man sich nach zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit je zwölf Stunden Arbeitszeit drei Tage freinehmen, um sich wieder vollständig zu erholen. Ab zehn Stunden Arbeit gebe es praktisch bei jedem Menschen einen deutlichen Leistungsknick – inklusive erhöhter Unfallgefahr im Beruf oder im Straßenverkehr. Deshalb sollte die Tagesarbeitszeit in der Regel acht Stunden nicht überschreiten, so eine Schlussfolgerung aus der Studie. Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung und damit einer der zentralen Interessensvertreter des österreichischen Kapitals, meinte in diesem Zusammenhang, eine Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden am Tag tue niemandem weh. Man muss dabei ergänzen, dass dies vor allem ihm nicht wehtun würde. Als millionenschweres Mitglied der Kapsch-Familie (Familienvermögen: ca. 755 Millionen Euro) sowie als CEO und einer der Haupteigentümer des Telekommunikations- und Verkehrstelematikkonzerns Kapsch AG, der Kapsch Group Beteiligungs GmbH und der Kapsch TrafficCom AG könnte dieser „Leistungsträger“ damit noch mehr Mehrwert von den für ihn arbeitenden Menschen absaugen.
Verschärfend zu diesen Entwicklungen kommen die Pensionsreformen der letzten Jahre hinzu. So kam es in der Zeit von 2010 bis 2016 zu einem deutlichen Anstieg des Pensionsantrittsalters für Männer von 58,1 auf 60,2 und für Frauen von 57,1 auf 59,1 mit allen negativen Folgen für die Lohnabhängigen – höhere Konkurrenz um freie Stellen aufgrund der Steigerung des Arbeitskräftepotenzials, Erhöhung der Arbeitslosenrate (Arbeitslosigkeit statt Pension), Stärkung der Verhandlungsposition des Kapitals, höhere gesundheitliche Belastungen aufgrund längerer Lebensarbeitszeit.
Widerstand ist notwendig
Es ist offensichtlich: Während immer mehr Menschen in das Elend der Arbeitslosigkeit gedrängt werden, müssen diejenigen, die noch einen Job haben, immer mehr hackeln, oft bis zum Umfallen. Der ÖGB als Interessensvertretung der Lohnabhängigen ist gefordert, gegen diese Entwicklung Widerstand zu leisten. Tatsächlich ist eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein wirksames Instrument, die Arbeits- und Lebenssituation der lohnabhängigen Massen zu verbessern:
1.) Die Aufteilung des Sozialproduktes zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen ändert sich zugunsten der Lohnabhängigen. Die Arbeiterklasse hat mehr von dem, das sie erwirtschaftet hat.
2.) Lohnabhängige haben mehr Zeit, die sie selbstbestimmt gestalten können, Zeit für sich selbst, für FreundInnen, Verwandte, politisches/ehrenamtliches Engagement, Bildung, Hobbies usw.
3.) Frauen, die besonders oft von Teilzeit-Jobs und damit verbundener geringer Pension betroffen sind, haben mehr Geld zum Leben und sind zugleich nicht mehr so häufig von Altersarmut betroffen.
4.) Es wird eine gute Basis geschaffen, die Aufteilung der unbezahlten Versorgungs- und Hausarbeit, die derzeit zum Großteil von Frauen erledigt wird, zwischen den Geschlechtern neu zu regeln.
5.) Es kommt zu einer Verbesserung der Gesundheit. Denn lange Arbeitszeiten haben schädigende psychische und körperliche Folgen (progressiver Anstieg der Ermüdung, geringere Leistungsfähigkeit, höheres Arbeitsunfall- und Krankheitsrisiko, Probleme hinsichtlich Aufnahme und Abbau von gesundheitsschädigenden Arbeitsstoffen), wie aus medizinischer Sicht mittlerweile klar ist.
6.) Es werden Überstunden reduziert und neue Arbeitsplätze geschaffen.
Der Kampf für Arbeitszeitverkürzung kann ein erster wichtiger Schritt sein, die Unmenschlichkeiten des Kapitalismus und gleichzeitig eine Perspektive für ein selbstbestimmteres Leben in anderen Produktionsverhältnissen aufzuzeigen. Denn schlussendlich verliert erst im Sozialismus – einer Gesellschaft, in der nicht mehr für die Profite, sondern für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gearbeitet wird – Arbeit ihren ausbeuterischen und unterdrückerischen Charakter: „Es versteht sich von selbst, dass die Arbeitszeit selbst, dadurch, dass sie auf normales Maß beschränkt, ferner nicht mehr für einen andren, sondern für mich selbst geschieht, zusammen mit der Aufhebung der sozialen Gegensätze zwischen Vorgesetzten und Untergebenen etc., als wirklich soziale (gesellschaftliche, Anm.) Arbeit, endlich als Basis der frei verfügbaren Zeit einen ganz andren, freiern Charakter erhält, und dass die Arbeitszeit eines wirklichen Menschen, der zugleich Mensch mit verfügbarer Zeit ist, viel höhere Qualität besitzen muß als die des Arbeitstieres“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, S. 253). Dann heißt es endlich: „Wir arbeiten, um zu leben“, und nicht mehr: „Wir leben, um zu arbeiten.“