Der Aufschwung der Arbeiterbewegung in den Jahren von 1867 bis 1870 legte die Basis für den Aufbau einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei, in welcher sich die unzähligen Arbeitervereine zusammenschließen sollten. Diese Bestrebungen wurden von den Behörden der Habsburgermonarchie natürlich mit allen Mitteln bekämpft. Das größte Hindernis auf dem Weg zur Schaffung einer eigenen Partei der jungen Arbeiterklasse war jedoch die fehlende theoretische Klarheit in der Arbeiterbewegung selbst. Die folgenden zwei Jahrzehnte sollten deshalb auch durch einen beinharten Fraktionskampf in der österreichischen Arbeiterbewegung gekennzeichnet sein.
Das Problem bestand in erster Linie in der Frage, ob sich die Arbeiterbewegung zu einer eigenständigen politischen Kraft organisieren oder ob sie sich als Teil der liberalen Bewegung sehen soll. Arbeiterpartei oder Unterordnung unter die Interessen von Teilen der Bourgeoisie, vor dieser Entscheidung stand die Sozialdemokratie in diesen Jahren. Vor allem in den Industriezentren in der Provinz, wo die ArbeiterInnen bereits in größeren Fabriken konzentriert waren und wo die Klassengegensätze viel offener ausgetragen wurden, dominierten diejenigen, welche auf eine revolutionäre Änderung der Gesellschaft setzten. In Wien kamen die meisten Funktionäre aus dem Kleingewerbe, außerdem stand man stärker unter dem Einfluß liberaler Intellektueller, wie z.B. der Großdeutsche Heinrich Oberwinder.
Diese Spaltung wurde von den Behörden als sehr positiv gesehen, weil sie die Bewegung stark schwächte. Oberwinder, dem auch nachgesagt wurde, daß er nicht nur zu namhaften Bürgerlichen sondern auch zur Polizei gute Kontakte pflegte, veranlaßte dann auch den Ausschluß der linken Opposition in Wien, die mit 300 Aktivisten den Verein "Brüderlichkeit" gründeten. Oberwinder unterstützte auch die mickrige Wahlrechtsreform der Regierung, das der Arbeiterklasse das Wahlrecht versagte. In einem Brief an Unternehmer schreibt er: "..."
Die Mehrheit der Arbeitervereine teilt jedoch die Ideen der sogenannten Radikalen, deren wichtigster Vertreter Andreas Scheu ist. Die Radikalen standen für eine klare Abgrenzung von der Bourgeoisie, die es entschieden zu bekämpfen gilt.
Die Krise von 1873
Die österreichische Wirtschaft war in diesen Jahren geprägt von einem völlig irrationalen Spekulationsboom, Überproduktion und Kreditexpansion. Der Börsenkrach im Mai 1873 brachte diese Blase zum platzen. Die Abhängigkeit der Industrie und der Eisenbahngesellschaften vom Bankkapital war ein wesentlicher Grund für die Ausdehnung der Finanzkrise auf die Realwirtschaft. Der Crash an der Börse ruinierte unzählige kleinbürgerliche Existenzen. Die ökonomische Depression sollte dann zumindest bis Ende der 1880er Jahre andauern.
Die Folgen der Wirtschaftskrise waren für die Arbeiterklasse und ihre Organisationen verheerend. Auf die fehlende Nachfrage antworteten die Unternehmen mit Entlassungen und Betriebsstillegungen. Die Durchschnittslöhne sanken um 30-50%! Das wachsende Elend zeigte sich auch in einer unbeschreiblichen Wohnungsnot oder einer sehr hohen (Kinder)Sterblichkeit in den Arbeiterbezirken. Der reaktionäre Charakter der Habsburger zeigt sich auch an der Tatsache, daß in dieser Situation die Ausgaben für das Unterrichtswesen gekürzt und dafür jene für die Armee deutlich erhöht wurden.
Die Krise bedeutete auch das Ende des Liberalismus in Österreich und läutete eine Rückkher zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft ein. Durch eine protektionistische Politik wurden die kleinbetrieblichen Strukturen verfestigt. Das Eisenbahnwesen wurde verstaatlicht, nachdem offen zu Tage trat, daß das Privateigentum in diesem Bereich unfähig war, die Bedürfnisse der Bevölkerung und der allgemeinen ökonomischen Entwicklung zu befriedige.
Vor allem die riesige Arbeitlosigkeit erschütterte die organisatorische Stärke der Arbeiterbewgeung. 1873 gab es noch 237 Arbeitervereine und Gewerkschaften mit mit mehr als 80.000 Mitgliedern. 1877 zählte etwa der Wiener Arbeiterbildungsverein nur noch 170 Mitglieder. Die Krise leitete aber einen deutlichen Linksruck ein. Der Einfluß der Ideen von Marx und Engels, die schon vor dem Crash immer wieder auf die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus hinwiesen, wurde nun auch in der österreichischen Arbeiterbewegung immer größer. Dies drückte sich nicht nur in der Arbeiterpresse aus, sondern fand seinen Widerhall auch am Einigungskongreß in Neudörfl von 1874, wo die Grundlage für den Aufbau einer selbständigen Arbeiterpartei gelegt wurde.
Gemäßigte und Radikale
Der Fraktionskampf zwischen den Gemäßigten, "welche die Verfassung anerkennen" und die "Anbahnung besserer Zustände auf dem Weg der Reform" wollen, sowie den Radikalen, "welche dem Programm der internationalen Revolution huldigen", ging aber weiter. Ab 1878 wurde in Deutschland unter Bismarck das Sozialistengesetz verabschiedet. Dies nahm sich die Habsburgermonarchie zum Vorbild und ging ebenfalls mit noch größerer Härte gegen die Arbeiterbewegung vor. Eine zentralistische Partei war unter diesen Bedingungen auf die Spitze getriebener staatlicher Repression nicht mehr zu halten.
Die Gemäßigten, welche im Sozialismus nur eine Utopie sahen und nur auf dem Boden der Verfassung agieren wollten, verloren nun deutlich an Unterstützung. Ihre Forderung nach sozialen Reformen wurde inzwischen von der Regierung Taaffe aufgenommen. In der Bourgeoisie hatten sich die Konservativen durchgesetzt. Das 1879 begonnene Programm einer Sozialgesetzgebung entsprang natürlich nicht den selbstlosen Idealen dieser Herren. Das Elend der Arbeiterklasse war mittlerweile zu einem Hindernis für die Expansion der Industrie geworden. Ein Maximalarbeitstag von 11 Stunden, Arbeiterschutzgesetze, eine Unfall- und Krankenversicherung sollten "der Industrie in Zukunft die Möglichkeit bieten, über eine wünschenswerte Arbeiterschaft zu verfügen".
Gleichzeitig unternahm die herrschende Klasse alles, um die Arbeiterbewegung zu spalten. Diese Aufgabe übernahmen vor allem katholische Arbeitervereine, die sich oft durch antisemitische Propaganda auszeichneten. Die Sozialdemokratie antwortete auf diese reaktionäre Politik mit einer klaren Sprache. So mobilisierte man z.B. 1882 massiv gegen den Antisemitismus der Deutschnationalen. Für die Arbeiterführer jener Tage gehörte es zum ABC, daß eine Beteiligung an der nationalistischen Hetze die Arbeiterbewegung wieder in die Abhängigkeit vom bürgerlichen Lager treibt. In einer Ausgabe der Zeitung "Sozialdemokrat" aus dem Jahre 1885 legte man die eigene Position fest: "Nicht dadurch, daß man dem eigenen Volk Recht, dem anderen Unrecht gibt, sondern indem man den Machthabern, deren Wahlspruch das ‘Teile und Herrsche’ ist, derb an den Leib rückt und sie als die eigentlichen Ursachen des Völkerhaders bezeichnet" kann der Nationalismus bekämpft werden.
Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kommt es auch immer wieder zu Streiks. Kautsky schrieb dazu 1882 in einem Brief an Engels: "Die österreichische Arbeiterbewegung nimmt eben jetzt einen frischen Aufschwung; aller Orten sind Streiks, und die Gewerkschaften sind ungemein stark, wie noch nie. Das wirkt auch auf die politische Bewegung, die bei uns sich stets auf die Gewerkschaften stützte, da eine politische Organisation unmöglich war." Diese Verbindung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften war immer schon eine Grundvoraussetzung für eine starke, von den Bürgerlichen unabhängige Arbeiterbewegung.
Propaganda der Tat
Die staatliche Repression und die Willkür der Unternehmer führte bei vielen ArbeiterInnen, besonders den Jüngeren, zu einer Radikalisierung. Unter den Radikalen gewannen anarchistische Ideen immer größeren Einfluß. Federführend war dabei Johann Most, Herausgeber, der "Freiheit", die von London nach Österreich geschmuggelt wurde. Die Notwendigkeit des Kampfes für soziale Reformen oder das Wahlrecht beim Aufbau der Arbeiterbewegung und zur Vorbereitung auf eine Revolution haben die Anarchisten nicht verstanden. Mit Josef Peukert hatten sie Anfang der 1880er auch eine Persönlichkeit mit großen agitatorischen Fähigkeiten. Mittels der "Propaganda der Tat", wozu auch individueller Terror gehörte, sollten die Massen wachgerüttelt werden. "Jede Reformbestrebung in der bestehenden Gesellschaftsorganisation" war für Peukert "nur eine Verlängerung der materiellen und geistigen Knechtschaft des arbeitenden Volkes". Indem die Anarchisten den Parteiaufbau auf kleine Geheimorganisationen reduzierten, lähmten sie die Arbeiterbewegung de facto. Mangels einer politischen Führung endeten nahezu alle Streikbewegungen dieser Jahre mit Niederlagen, was die Krise der Bewegung weiter verschärfte. Mit Attentaten auf Unternehmer und Polizisten gab man dem Staat außerdem noch einen Vorwand zur völligen Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Diese mußte nun mehr oder weniger in der Illegalität neu aufgebaut werden. Unter den durch die Krise erschwerten Kampfbedingungen wirkte sich die theoretische Schwäche der österreichischen Arbeiterbewegung besonders katastrophal aus.
Erst als ab 1886 mit Victor Adler und anderen eine neue Generation in den Reihen der Arbeiterbewegung aktiv wurde, die unter dem Einfluß marxistischer Ideen standen, sollte eine Einigung der Sozialdemokratie möglich werden.
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