Der Kommunismus und die Politik Lenins werden seit jeher von den Bürgerlichen verteufelt und mit der Diktatur Stalins gleichgesetzt. Die Verteidigung der Russischen Revolution gegen die Verfälschungen der Bürgerlichen und der Stalinisten ist eine der wichtigsten Aufgaben von Kommunisten. Von Jay Paar und Christoph Pechtl.

Die Oktoberrevolution 1917 war der größte Meilenstein in der jüngeren Geschichte der Menschheit. Mitten im Ersten Weltkrieg brach der Kapitalismus an seinem schwächsten Glied. Die Arbeiterklasse ergriff die Macht, beendete die Herrschaft des Bürgertums und hob das Privateigentum an den Produktionsmitteln auf. Die neue Gesellschaft war die demokratischste Gesellschaft, die die Welt je gesehen hat. Die Verwaltung und Unterdrückung des Menschen durch den Staat wurde durch die Selbsttätigkeit der überall entstehenden Sowjets (Räte) ersetzt. Kunst, Kultur, Wissenschaft und das Interesse am wahrhaft menschlichen Zusammenleben blühten auf. In Politik und Wirtschaft konnten nun die Posten für die Planung und Organisation der Gesellschaft gewählt und abgewählt werden und kein Funktionär erhielt mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn. Nicht mehr „Experten“, Monarchen, Diplomaten oder Bürokraten sollten die Entscheidungen treffen, sondern die Arbeiterklasse selbst.

Isolation der Revolution

Doch ein einzelnes Land, geschweige denn ein ökonomisch rückständiges Agrarland wie das damalige Russland, besitzt nicht die materiellen Voraussetzungen, um jede Ungleichheit zu beenden und die Überbleibsel der Klassengesellschaft wie Staat, Familie oder Geld abzuschaffen. Die Sowjetunion schaffte den Kapitalismus ab, doch sie war noch kein Sozialismus, sondern eine Übergangsgesellschaft. Lenin und Trotzki, die unbestrittenen Führer der Oktoberrevolution, verstanden, dass die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus von der internationalen Revolution abhängig ist. Sie investierten viel Zeit in den Aufbau der Kommunistischen Internationale (KI), um die Weltrevolution voranzutreiben.

„Wenn man den Welthistorischen Maßstab anlegt, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie alleine bliebe, wenn es in anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe. [...] Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten ist, wie gesagt, die Revolution in ganz Europa.“ (Lenin Werke, Bd. 27, S. 81.)

Diese Perspektive war keine leere Utopie. Die Russische Revolution inspirierte weltweit revolutionäre Bewegungen und Aufstände. Doch die jungen und unerfahrenen kommunistischen Parteien (KP), die sich erst nach der Russischen Revolution gründeten, waren der Aufgabe nicht gewachsen und konnten die vielen Möglichkeiten zur Machtergreifung der Arbeiterklasse nicht nutzen. So konnte sich der Kapitalismus besonders in Westeuropa kurzzeitig wieder stabilisieren. Der Russische Bürgerkrieg (1917–22) – ein Krieg der westlichen und russischen Kapitalisten gegen den jungen Arbeiterstaat – verschlimmerte die Lage weiter. Es waren die Isolation und Armut, die der Degeneration der Russischen Revolution und dem Stalinismus den Weg bereiteten.

Wie der Stalinismus entstand

Wenn Mangel herrscht, muss er auch „verwaltet“ werden: Der Staatsapparat kann nicht absterben, sondern wird wieder stärker. Der Bürgerkrieg, die Krise der Industrie, lange Arbeitstage, Hunger und Erschöpfung verunmöglichten die Kontrolle der Arbeiter über die Staatsgeschäfte immer mehr. Bürgerliche „Experten“, Offiziere und Beamte des alten zaristischen Apparats wurden wieder aufgenommen, um Wirtschaft und Staatsgeschäfte zu leiten. 1920 zählte die Staatsbürokratie beinahe 6 Mio. Menschen, und war damit fünfmal so groß wie das gesamte Industrieproletariat. Lenin sprach diese Probleme immer offen an. Bereits er begann den Kampf gegen diesen „alten zaristischen Staatsapparat, der mit einer dünnen Schicht sowjetischem Öl überzogen“ war.

Die vorherrschende Armut und der Mangel ermöglichten der Bürokratie, sich wieder über die Gesellschaft zu erheben. Sie agiert als Richter, der entscheidet, wer was bekommen soll, ohne dabei selbst zu kurz zu kommen. Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Regierung wurden so wieder zur alleinigen Domäne einer privilegierten Schicht und der Kontrolle der Massen entzogen. Die politische Macht ging von der Arbeiterklasse zurück in die Hände eines parasitären Staatsapparats.

Der Aufstieg Stalins zum Kopf dieser Schicht war ein Prozess, der sich seinem eigenen Verständnis entzog. Nicht nur seine Position als Generalsekretär der KP in Russland, sondern gerade seine politischen Beschränkungen prädestinierten ihn dazu, die Bürokratie zu verkörpern. Er war ein ehrgeiziger Organisator, der stets die marxistische Theorie gegenüber den „praktischen“ Aufgaben geringschätzte und dazu neigte, Konflikte nicht durch Argumente, sondern mit dem Gewicht der Autorität und des Apparats zu „lösen“. In seiner Person fanden die Karrieristen und Bürokraten einen Hebel, ihre Interessen politisch abzusichern und auszubauen.

Die konsolidierte sowjetische Bürokratie war eine historisch neue gesellschaftliche Schicht. Sie verteidigte die verstaatlichte Wirtschaft solange sie ihre Privilegien zu sichern vermochte. Politisch übernahm die Bürokratie nur die Symbolik, brach allerdings mit allen Errungenschaften der Oktoberrevolution außer der Planwirtschaft, und errichtete stattdessen eine totalitäre Diktatur. Trotzki analysiert bereits 1936 in „Verratene Revolution“, dass das Fehlen von Arbeiterdemokratie eine Barriere zur Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft darstellt. Entweder wird die Bürokratie politisch von der Arbeiterklasse gestürzt und die Planwirtschaft demokratisch gestaltet, oder es kommt unweigerlich zur Restauration des Kapitalismus, so Trotzkis weitreichende Analyse.

Ungeachtet der politischen Verfolgung durch die Stalinisten verteidigen die Trotzkisten die Sowjetunion und die anderen bürokratischen Arbeiterstaaten, die nach 1945 entstanden, sowohl gegenüber dem Kapitalismus als auch gegenüber der Bürokratie.

„Sozialismus in einem Land“

Unmittelbar nach Lenins Tod im Jahr 1924 nahm der schleichende Prozess der Bürokratisierung einen politischen Charakter an. Stalin verkündete mit der Theorie des „Sozialismus in einem Land“, eine theoretische Rechtfertigung der Interessen der Bürokratie. An die Stelle der Weltrevolution und des proletarischen Internationalismus setzt die privilegierte Schicht ihre eigenen nationalen Interessen. Stalin und die Sowjetbürokratie behaupteten nun, der Aufbau des Sozialismus sei eine rein nationale und administrative Aufgabe. Sie misstrauten der russischen Arbeiterklasse, geschweige denn der britischen oder chinesischen. Immerhin, ihre privilegierte Position erwuchs gerade aus der Schwäche der Arbeiter. Um in Ruhe ihre Privilegien zu genießen, wollten sie daher die Sturm-und-Drang-Periode der Revolution endgültig beenden. Wenn die Bürokratie daher vom Aufbau und dem „Sieg des Sozialismus in einem Land“ sprach, meinte sie damit ihren eigenen politischen Sieg über die Arbeiterklasse.

Stalin und die politische Konterrevolution

Der Prozess der Konsolidierung der stalinistischen Bürokratie war eine politische Konterrevolution. Nationalismus trat an die Stelle des Internationalismus, Ungleichheit und Differenzierung an die Stelle von Gleichheit, die Mutterschaftsmedaille und die „sozialistische Familie“ an die Stelle der proletarischen Frauenbewegung. Eine privilegierte Bürokratie in Armee, Industrie, Landwirtschaft und dem Staat im Allgemeinen trat an die Stelle von Arbeiterkontrolle und Demokratie.

Die linke Opposition unter Trotzkis Führung führte Lenins Kampf für Internationalismus und Arbeiterdemokratie weiter. Die Bürokratie beantwortete dies mit Verfolgung, Verhaftungen und einer Hetzkampagne gegen den „Trotzkismus“. Um die haarsträubenden Widersprüche zwischen der Oktoberrevolution, dem Marxismus und der Realität in der Sowjetunion zu beantworten, griffen die Stalinisten zu Terror und Fälschung. (Vermeintliche) Feinde der Bürokratie wurden ab 1936 in Schauprozessen liquidiert, hunderttausende Kommunisten umgebracht, mehr noch ins Exil geschickt. Das gesamte Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei von 1917 war 20 Jahre später tot (meistens ermordet) oder im Exil, außer natürlich Stalin selbst. Die Grenze zwischen der Oktoberrevolution und dem Stalinismus ist mit dem Blut von Revolutionären gezogen worden. Die Wahrheit war nur noch, was den Tagesinteressen der Bürokratie half. Sofern sich diese änderten, musste die Geschichte erneut umgeschrieben werden. Die Arbeiterklasse Russlands war niedergeworfen, nur die internationale Revolution konnte das Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiter gegen die Bürokratie verschieben.

Die Niederlage der spanischen Revolution

Die Kommunistische Internationale (Komintern) wurde von Lenin seit 1914 vorbereitet und 1919 „offiziell“ aus der Taufe gehoben. Sie war das Instrument der Weltrevolution. Mit dem enormen Prestige der Revolution und ihrem mächtigen Apparat, ordnete sich die Stalin-Clique jedoch auch die Komintern zunehmend unter und diktierte deren Politik. Die Politik wurde von nun an durch die nationalen Interessen der sowjetischen Bürokratie bestimmt anstelle der Interessen des internationalen Proletariats. Die Komintern verkam zu einem Grenzschutz und diplomatischen Werkzeug des Stalinismus. Kommunisten, die sich dem widersetzten, wurden, wie in der Sowjetunion, auch in den anderen Ländersektionen „gesäubert“.

In der Spanischen Revolution (1931-37) erreichte dies eine neue Qualität. Während frühere Niederlagen der kommunistischen Weltbewegung politischen Fehlern zuzuschreiben sind, spielte die KP hier unter Anleitung Stalins zum ersten Mal eine bewusste konterrevolutionäre Rolle. Erstmals seit der Niederlage der deutschen Revolution von 1923 herrschte in der Arbeiterklasse der Sowjetunion wieder Enthusiasmus gegenüber der internationalen Revolution. Ein Sieg des spanischen Proletariats hätte den Sturz der parasitären Bürokratie Russlands bedeuten können. Um dies zu verhindern, schloss sich die KP Spaniens unter dem Diktat des Stalin-Regimes einer Volksfront-Regierung mit der „liberalen“ Bourgeoisie gegen den Franco-Faschismus an.

Die Volksfront bezeichnet einen Zusammenschluss von Arbeiterparteien mit bürgerlichen Kräften. Obwohl die Arbeiter in Spanien mehrmals spontan und massenhaft versuchten, die Macht zu übernehmen, wurden sie von der KP aktiv daran gehindert. Die Stalinisten waren so der Stoßtrupp der republikanischen Konterrevolution. Sie lösten Arbeitermilizen auf, machten Enteignungen rückgängig und zerstörten Arbeiterkomitees, während die stalinistische Geheimpolizei die Führer anderer Arbeiterorganisationen verfolgte und liquidierte. Dies ebnete schließlich dem Sieg des Faschismus in Spanien den Weg.

Um sich selbst zu retten und der „demokratischen“ Weltbourgeoisie ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, erwürgten die Stalinisten die Spanische Revolution. Der zeitliche Zusammenhang der Organisierung der Niederlage in Spanien und dem Großen Terror in Russland ist dabei nicht zufällig. Die weltweite Arbeiterbewegung war von nun an nichts weiter als Kleingeld, mit dem die Stalinisten zu ihrem eigenen Vorteil Schacher betrieben. So wurde auch die Komintern als Zugeständnis an den anglo-amerikanischen Imperialismus 1943 schließlich ganz aufgelöst.

Entstalinisierung?

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 versuchte die herrschende Bürokratie, alle Fehler und Verbrechen auf ihn abzuschieben. Doch die neue Clique im Kreml war nicht nur an allen „Säuberungen“ und Verbrechen Stalins beteiligt, sondern war vor allem Teil derselben privilegierten Schicht. Abrupte politische Wechsel sind der Bürokratie keineswegs fremd, sondern im Gegenteil notwendiger Bestandteil ihrer erratischen (weil undemokratischen) bürokratischen Machtausübung. Nach dem Tod Stalins blieb der Stalinismus daher unangetastet weiter bestehen, obwohl seine Statuen still und heimlich verschwanden und einige seiner Opfer rehabilitiert wurden.

Zusammenbruch der Sowjetunion

Die enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte, die die Planwirtschaft trotz Bürokratie erreichen konnte, sind ein schlagender Beweis für ihre Überlegenheit gegenüber der kapitalistischen Barbarei. Doch je komplexer die Wirtschaft wurde, desto mehr zehrten Korruption, Misswirtschaft und Verschwendung an ihr. Die Bürokratie wurde immer mehr von einer relativen zu einer absoluten Bremse der Entwicklung der Gesellschaft. Ohne Kontrolle durch die Arbeiterklasse und durch nationale Borniertheit (selbst innerhalb der stalinistischen Staatengemeinschaft) wurde das Wirtschaftswachstum immer weiter erstickt. Unter der Oberfläche der ineffizienten bürokratischen Planwirtschaft breitete sich eine (Schwarz-)Marktökonomie aus.

Dieser Prozess fand seinen politischen Ausdruck im sogenannten „Reformer-Flügel“ der KP, dessen bekanntester Vertreter Michail Gorbatschow ist, der Totengräber der Sowjetunion. Wie Trotzki es 1936 analysierte, bereitet der Stalinismus letztendlich die Restauration des Kapitalismus vor. Ein Teil der Bürokraten wurde zu den heute herrschenden kapitalistische Oligarchen und die Arbeiterklasse zahlte den Preis mit einem furchtbaren wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang.

Stalinismus heute

Der Stalinismus hat die Tradition der Oktoberrevolution und die Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki unter einem riesigen Haufen an Lügen begraben. Mit wenigen Ausnahmen unterscheiden sich die kommunistischen Parteien in Europa in ihrer Politik kaum mehr von der Sozialdemokratie. Die alten stalinistischen Konzepte, wie die Volksfront, der Nationalismus und der Anti-Trotzkismus, einst Mittel der russischen Bürokratie, um ihre sozialen Interessen zu verteidigen, werden dabei als historische Rechtfertigung für reformistische Politik gebraucht.

Die Wiederentdeckung des Marxismus unter dem ideologischen Müllhaufen des Stalinismus ist eine der wichtigsten Aufgaben für jeden Kommunisten. Die wichtigste Lehre lautet: Der Sozialismus kann nur international bestehen und mit echter Arbeiterdemokratie – und darum müssen wir schon jetzt eine internationale revolutionäre Führung aufbauen. Daran arbeitet die IMT und wir sind offen für alle ehrlichen Kommunisten!

(Funke Nr. 217/26.9.2023)


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