Krise. Die europäische Krisenbewältigungspolitik bittet die breite Masse zur Kassa und schützt die Vermögenden so gut wie möglich. Martin Zuba stellt die Frage nach den Möglichkeiten alternativer Wirtschaftspolitik.

 Vor dem Ausbruch der Krise 2008 waren die politischen Fronten in der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung relativ klar. Als ideologischer Gegner der Arbeiter/innenbewegung stand der Neoliberalismus fest. Kernelemente der neoliberalen Programmatik war die Forderung nach „mehr privat, weniger Staat“.

Dies entsprach im Wesentlichen der Vorstellung, dass die Wirtschaft viel besser funktioniere, wenn sich der Staat möglichst zurückhält und stattdessen alle relevanten Entscheidungen den Marktmechanismen überlassen werden. Der Siegeszug des Neoliberalismus begann mit den Regierungen Thatcher (GB) und Nixon (USA). Ihre Politik wurde aber auch in allen anderen Industrieländern von konservativen, aber auch von sozialdemokratischen Regierungen nachvollzogen. Wesentliche Eckpunkte der Regierungsprogramme waren die Privatisierung von Staatsbetrieben, das Zurückdrängen des Einflusses von Gewerkschaften, die Liberalisierung und Deregulierung von Kapital- und Arbeitsmärkten. All diese Reformen zielten darauf ab, den Unternehmen zu erleichtern auf internationalen Märkten Profite zu machen.

Dagegen stand das Konzept des Antineoliberalismus, das auch als sozialdemokratischer oder keynesianischer Ansatz bezeichnet werden könnte. Im Mittelpunkt stand der Widerstand gegen die Privatisierung von Unternehmen in wichtigen Bereichen der Gesellschaft (ÖBB, kommunale Dienste, Pensionsvorsorge) und der Widerstand gegen die sozialen Auswirkungen der Globalisierung. Linke Sozialdemokrat/innen betonten, dass Staatsausgaben sinnvoll sind, weil sie gesellschaftliche Gestaltung abseits der Kräfte von Angebot und Nachfrage ermöglichen, was zur Wahrung eines sozialen und ökologischen Gleichgewichts notwendig ist. Diese Vorstellungen traten oft gepaart mit der keynesianischen Idee auf, dass mehr Investitionen auch mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, sowie in weiterer Folge Steuereinnahmen generieren würden.

Die Wirtschaftstheorie in der Krise

Mit dem Ausbruch der Krise in 2008 gerieten beide Konzepte in die Krise, da sie von den realen Bedingungen überholt werden. Die Neoliberalen konnten nicht auf einen starken Staat zur Stützung der Wirtschaft verzichten. Schulden von Banken wurden von Staaten übernommen, die Staatshaushalte wurden deswegen auf Summen aufgebläht, die den Befürworter/innen der neoliberalen Politik eigentlich die Nackenhaare aufstellen lassen müsste. Zu Beginn der Krise wurde noch argumentiert, es ginge lediglich darum, eine vorübergehende „Vertrauenskrise“ oder „Kreditklemme“ zu überbrücken – ein Irrtum, wie wir heute wissen. Das Territorium des Neoliberalismus hat die Wirtschaftspolitik aber spätestens ab dem Zeitpunkt endgültig verlassen, als aus den vorübergehenden Maßnahmen langfristige Programme zur Belebung der Märkte durch frisches Geld von den Zentralbanken wurden.

Auch die keynesianische Theorie versagte in der politischen Praxis. Die kurz nach Krisenausbruch in den meisten Ländern gestarteten Konjunkturpakte konnten den Einbruch der Wirtschaft zwar herauszögern (und einigen Ländern wie China einen Vorteil im internationalen Wettbewerb verschaffen), an eine Fortsetzung dieser Politik war aber aufgrund der bereits sehr hohen Schuldenberge nicht zu denken. Schon nach wenigen Wochen müssen Politiker, die staatliche Investitionsprogramme versprechen, aufgrund von Druck von den Finanzmärkten zurückrudern (Hollande 2012, Tsipras 2015).

Das klassische keynesianische Programm – in der Krise die Staatsausgaben erhöhen, Defizite in Kauf nehmen, Investitionen anregen – scheitert an der zu prekären Lage der Staatsfinanzen. Das liegt an dem Grundproblem jeder Überproduktionskrise: Es sind in den meisten Sektoren der Wirtschaft schon so viel Produktionskapazitäten vorhanden, dass diese entweder nicht ausgelastet sind oder Erzeugnisse kaum mit Profit verkauft werden können. Zusätzliche Investitionen, die noch mehr Produktionskapazitäten schaffen, sind daher nicht rentabel.

Die gegenwärtige Politik kann also weder in die Theorie des Neoliberalismus noch in die des Keynesianismus eingeordnet werden. Sie wird mit gar nichts anderem als ihrer praktischen Alternativlosigkeit argumentiert. Es stimmt, so sagen die handelnden Personen, dass es schlecht ist, der Hypo über die Jahre hinweg 19 Milliarden Euro in den Rachen zu werfen, aber die Alternative sei noch schlechter. Es stimmt, geben sie zu, dass eine Schuldenbremse im Verfassungsrang den Gestaltungsspielraum bei der Bewältigung sozialer Herausforderungen einschränkt. Aber das alles sei besser als zu riskieren, das Vertrauen der Finanzmärkte zu verlieren. Denn das schränkt aufgrund der dann höheren Zinslast den Gestaltungsspielraum der Politik noch mehr ein – siehe Griechenland. Die politische Erfahrung zeigt, dass dieses Argument beliebig ausgenützt wird. Dabei wird es nicht nur von rechten Parteien vorgetragen, es wird von auch von sozialdemokratischen Parteien akzeptiert. Die Konsequenz ist der gerechtfertigte Verlust jeglicher politischer Glaubwürdigkeit in den Willen und die Fähigkeit dieser Parteien, für die Lebensinteressen der arbeitenden Klasse auch tatsächlich zu kämpfen.

Dieses Vertrauen wird auch deshalb zerstört, weil ganz offensichtlich auch in der ärgsten Budgetnot Geld aufgetrieben werden kann, wenn es etwa um den Ausbau des Polizeiapparats (290 Millionen zusätzlich) geht. Oder wenn es um die Bedienung der finanziellen Sorgen eines Netzwerks geht, das sich politischen Funktionen und der Bankenaufsicht gut vernetzt ist, und im Schutze der Anonymität Unsummen an Steuergeld für gescheiterte Spekulation und Geldwäsche bekommen haben (Hypo).

Eine bessere Welt – Ein besserer Kapitalismus?

Was also kann gemeint sein, wenn politische Akteure eine Alternative zur „neoliberalen“ Politik fordern?

Ein keynesianisches Projekt eines europa- oder weltweiten „New Deals“, wie unter anderem von Varoufakis angedacht, scheitert heutzutage daran, dass mangels Renditeerwartungen großangelegte Investitionsprogramme trotz extrem niedriger Zinsen keine Investor/innen finden. Die Staaten haben weder den budgetären Spielraum, viel Geld in die Hand zu nehmen, noch könnten sie erwarten, etwas anderes damit zu erreichen als das Aufblähen von Blasen. Weil sich die Finanzmärkte naturgemäß nicht für die sozialen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen, sehr wohl aber für die Renditeerwartung interessieren, werden die Finanzmärkte auch nicht freiwillig Geld zur Verfügung stellen. Vor allem dann nicht, wenn damit „nur“ Menschen geholfen werden soll.

Damit kommen wir auch schon zum zweiten Problem. Solange die Kapitalbesitzer/innen entscheiden, wem sie zu welchen Bedingungen Geld überlassen, sinkt gerade der Handlungsspielraum linker Regierungen immens. Als beispielsweise in Griechenland PASOK und Nea Demokratia regierten, wusste die Troika, dass die Regierung bereit war, alles zu tun, um so viel Geld wie möglich aus dem Land herauszupressen: steigende Säuglingssterblichkeit, hungernde Schulkinder, grassierende Jugendarbeitslosigkeit, hunderttausende Haushalte ohne Strom, unleistbare Medikamente – all das kein Grund, das Austeritätsprogramm abzusetzen. Sofern jemand dafür zu zahlen bereit gewesen wäre, hätte Premierminister Samaras wohl die Seelen seiner Staatsbürger/innen verkauft. Das schafft natürlich Vertrauen bei den Geldgeber/innen, was die Voraussetzung für akzeptable Bedingungen weiterer Kredite ist.

Bei SYRIZA ist das anders. Varoufakis und Tsipras können noch so sehr beteuern, dass sie jeden Cent zurückzahlen werden – die internationalen Partner/innen sind sich nicht sicher, ob die SYRIZA-Regierung in der Lage ist, der Bevölkerung den Blutzoll abzuverlangen, der nötig ist um die ausstehenden Kredite auch tatsächlich wieder zahlen zu können. Die soziale Protestbewegung könnte ihren Einfluss in der SYRIZA gelten machen, um die Austeritätspolitik zu torpedieren. Aber nicht nur die Troika, auch die privaten Investoren sind heute verunsichert. Bei der vorigen Regierung reichte ein Email der internationalen Geldgeber aus, um entsprechende Gesetze zu erwirken. Die neue Regierung könnte durchaus auf die Idee kommen, diejenigen Teile ihres Wahlprogrammes, die die soziale Misere auf Kosten des Betriebsklimas lösen wollen (Mindestlöhne!) durchzusetzen. Und tatsächlich: Die befürchtete Verschlechterung des Investitionsklimas hat bereits zu einer Kapitalflucht aus Griechenland geführt. Von dem Primärüberschuss und dem Handlungsspielraum, der mit ihm einhergeht, ist nun keine Rede mehr. Stattdessen steht die Staatspleite unmittelbar bevor. Der Kapitalismus will sich gerade von Varoufakis gar nicht retten lassen – das Kapital zeigt seinem vorgeblichen Retter den Stinkefinger.

Handlungsfähigkeit linker Politik

Damit kommen wir auch schon zur entscheidenden Frage: Was machen wir, wenn es sich als unmöglich herausstellt, das Vertrauen der Finanzmärkte und der Kapitalbesitzer/innen mit einem politischen Programm, das die unmittelbaren Lebensinteressen der breiten Masse verteidigt, zu vereinbaren? Kehren wir dann zur Tagesordnung (Austeritätspolitik) zurück oder gibt eine Möglichkeit, auch gegen den Willen der Finanzmärkte und Investor/innen tragfähige linke Politik zu machen?
Diese Zeitung hat stets die Position vertreten, die Frage der antikapitalistischen Strategie konkret zu behandeln. SYRIZA und Podemos vertreten den Anspruch, sowohl im Euro zu verbleiben, also das Vertrauen der Geldgeber/innen nicht zu verspielen, als auch den Lebensstandard der Krisenverlierer/innen zu verbessern. In den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass diese Ansätze in der Praxis nicht umsetzbar sind. Wenn das die Forderungen der sozialen Bewegung umgesetzt werden sollen, müssen Möglichkeiten gefunden werden, auf den gesellschaftlichen Reichtum im Land zurückzugreifen.

Diese Frage ist bei weitem nicht abstrakt. Die europäische Öffentlichkeit fragt sich beispielsweise, wieso es denn unmöglich ist, die griechischen Reeder zu besteuern. Wenn man allerdings bedenkt, dass auch andere europäische Länder Reeder nicht besteuern, wird klar, dass die hauptsächliche Auswirkung der Einführung der Besteuerung von Reedereien die Umflaggung der griechischen Flotte wäre. Widerstand gegen die Besteuerung reicher Griechen kommt aber auch aus den griechischen Ministerien selbst, wo ähnlich wie in Österreich die Freunde und Netzwerke der gutsituierten Familien an den Schalthebeln der Macht sitzen.

Um das Programm der SYRIZA, die Verteidigung der materiellen Interessen der breiten Masse, umzusetzen, muss die Macht der Kapitalist/innen durch Kapitalflucht, Steuerhinterziehung oder politische Einflussnahme die Umsetzung dieses Programms zu stoppen durchbrochen den Kapitalbesitzer/innen also die Verfügungsgewalt über das Kapital entzogen werden. Die Instrumente der Staaten haben sich in dieser Frage als unzureichend erwiesen: Die in Zypern im Rahmen der Haircuts etablierten Kapitalverkehrskontrollen hinderten zwar kleinere, nicht aber größere Kapitalformationen an der Kapitalflucht. Den griechischen Behörden gelingt es seit Jahrzehnten nicht, ausstehende Steuerschulden einzutreiben. Gegen Investitionsstreiks ist die staatliche Politik ohnehin machtlos.

Trägerin dieses Projekts muss daher die soziale Bewegung selbst sein. In Griechenland ist die soziale Bewegung in den Schlüsselbetrieben der Wirtschaft stark verankert und kampffähig. Die soziale Bewegung organisiert in weiten Teilen des Landes bereits die Versorgung von Arbeitslosen und Armen. Sie könnte auch dafür sorgen, dass der Reichtum im Land einem Plan zur Bewältigung der sozialen Krise zur Verfügung steht. Auf Basis demokratischer Wahlen könnte so die soziale Bewegung zum Keim einer demokratischen Planwirtschaft werden, die sich an den Bedürfnissen der Menschen richtet.


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