Die KommentatorInnen in den Medien sind empört – die Menschen würden weder der Politik, noch den „echten“ Medien, sondern lieber den „Fake News“ in Sozialen Medien glauben.Von Sandro Tsipouras und Yola Kipcak.

Das vergangene Jahr hatte für die herrschende Klasse einen Haufen böser Überraschungen parat. Plötzlich scheint sich die Welt im Würgegriff eigenartiger, noch nie dagewesener Ereignisse zu befinden, die sich von niemandem auf zufriedenstellende Weise erklären lassen. Am 23. Juni 2016 stimmte die Bevölkerung Großbritanniens dafür, die Europäische Union zu verlassen. Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet, doch dann wurde es vom Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA noch in den Schatten gestellt. Mit diesem hatte man noch weniger gerechnet. Auch im kleinen Österreich kann sich die FPÖ trotz offensichtlicher Lügen auf dem ersten Platz der Wahlumfragen verankern. Die Welt, so scheint es, ist verrückt geworden.

Der Lüge überführt zu werden, ist heutzutage offensichtlich kein Hindernis mehr für politischen Erfolg. Dieser Zustand wird seit vergangenem Jahr allgemein als „postfaktische Politik“ bezeichnet. In der Brexit-Kampagne behauptete die rechtspopulistische UKIP, ein Austritt aus der EU würde 350 Millionen Pfund wöchentlich zur Finanzierung des Gesundheitssystems freisetzen. Obwohl diese Behauptung schnell widerlegt wurde, verhalf sie der Kampagne dennoch zum Sieg. Auch die Trump-Kampagne stütze sich auf offenkundige Lügen: Der Klimawandel sei eine Verschwörung, es lebten 30 Millionen illegale ImmigrantInnen in den USA, seine Konkurrentin Hillary Clinton werde 650 Millionen Menschen in einer Woche in die USA (324 Mio. EinwohnerInnen) einreisen lassen, oder auch, sein Vorgänger Barack Obama sei nicht in den USA geboren worden. Nebenbei bemerkt zeigen zahlreiche (Korruptions-)skandale, von Wiki-Leaks über Panama-Papers bishin zu den dubiosen Geldflüssen in die Josef Pröll-Stiftung, dass auch die „vernünftigen“ PolitikerInnen Lügen zu ihrem Tagesgeschäft machen. Die Schamlosigkeit mit der dies betrieben wird erreicht jedoch mit den „postfaktischen“-KandidatInnen wie Trump oder der rechtspopulistischen AfD in Deutschland eine neue Qualität.

Aufklärung reversed

Deren Erfolge finden wohlgemerkt in einer Gesellschaft statt, die sich seit der Aufklärung auf Rationalität und Wissenschaft beruft und stolz darauf war, mit absolutistischem Plunder, der Übermacht der Kirche in allen Lebensbereichen, mit Unwissenheit und Aberglauben aufgeräumt zu haben. Kopernikus, Kepler und Galilei wiesen nach, dass der Mensch und sein Planet nicht im Mittelpunkt des Universums stehen. Isaac Newton erkannte die grundlegenden Bewegungsgesetze der Materie. Immanuel Kant, der als „Philosoph der Aufklärung“ in die Geschichte einging, fasste den Zeitgeist zusammen, indem er den verunsicherten Menschen zurief: sapere aude! – „Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ – und sie aufforderte, aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ auszubrechen.

Hinter dem Siegeszug dieser Ideen stand die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Das aufstrebende Bürgertum, das die Erkenntnisse der Wissenschaft zur Entwicklung von Produktion und Handel einsetzte, hat die Rationalität mit Selbstbewusstsein in die Welt getragen. Indem die Bourgeoisie den Adel von der Macht verdrängte, verdrängte die Wissenschaft die Religion aus Bildung und Politik.

Freilich wurde dieser Übergang nie vollständig abgeschlossen. Die bürgerliche Gesellschaft verspricht Freiheit und Gleichheit für alle, während wir mit eigenen Augen sehen, dass sie permanent das Gegenteil produziert. Ausbeutung und Unterdrückung gehören zum Tagesgeschäft der KapitalistInnen, auch wenn sie nicht mehr religiös, sondern mit Sachzwängen begründet werden.

Weil der Kapitalismus auf Ungleichheit und Unfreiheit beruht, stehen die Errungenschaften der Aufklärung stets der Möglichkeit des Rückfalls in Irrationalität und Barbarei gegenüber, wie sich historisch beispielsweise am Faschismus betrachten lässt. Solange die Bourgeoisie fähig ist, die Gesellschaft weiterzuentwickeln, lassen sich diese Widersprüche in den Hintergrund drängen. Je mehr aber die kapitalistische Entwicklung an ihre Grenzen stößt, desto offensichtlicher treten sie zu Tage. Wenn die Menschen spüren, dass es ihnen jedes Jahr ein bisschen besser geht und sich das Wachstum der Wirtschaft auch zu ihrem Vorteil gestaltet, gibt es keinen unmittelbaren Grund, an den Ideen und Motiven der Herrschenden zu zweifeln.

Doch seit 2008 die momentane Krise des Kapitalismus eingesetzt hat, trifft nichts davon mehr zu. Die Bourgeoisie kann nicht mehr mit Selbstbewusstsein von der Richtigkeit oder gar Alternativlosigkeit ihres Systems sprechen. Dessen Unfähigkeit, die Gesellschaft weiterzuentwickeln, ist für zu viele Menschen zu unmittelbar spürbar geworden. Diese Situation ermöglicht es einem Donald Trump, seine „alternativen Fakten“ zu präsentieren. Der Postmodernismus mit seinen vielen, relativen Wahrheiten, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen sollen, ist in den Mainstream eingezogen. War seit den 1980ern die Ansicht der Postmoderne, dass man die Welt nicht mehr ganzheitlich betrachten kann, dass es keine objektive Wahrheit gibt, und dass große Erzählungen ein Ding der Vergangenheit sind, ein Rückzugsort der in die Defensive geratenen Linken, macht nun der Vertreter der größten Wirtschaftsmacht der Welt davon Gebrauch, um sich zu rechtfertigen.

Die internationalen Beziehungen zwischen den imperialistischen Mächten sind erschüttert, die politischen Eliten sind zunehmend gesellschaftlich isoliert. Die StrategInnen des Kapitals erkennen diese Gefahr, ohne ein Gegenmittel zu haben. Auf der Oktobertagung des Internationalen Währungsfonds erklärte der deutsche Finanzminister Schäuble: „Es gibt einen gemeinsamen Nenner von den US-Präsidentschaftswahlen bis hin zum Brexit, und das ist, dass mehr und mehr Menschen den Eliten nicht trauen, weder ihren wirtschaftlichen noch ihren politischen Führungsfiguren. Wir müssen bedenken, dass wir den Spalt zwischen den Eliten und den Leuten nicht noch vergrößern, weil wir sonst den Populismus erhöhen. Zudem vertrauen die Menschen nicht mal mehr den Journalisten, was für die Demokratie ein äußerst schlechtes Zeugnis ist.“

Neo-Biedermeier

Aber wem sollen sie sonst vertrauen? Es gibt keine sichtbaren Alternativen zur Perspektive des allgemeinen Verfalls, den die Krise heraufbeschwört. Der wirtschaftliche Verfall reflektiert sich in einer bunten Vielfalt absurder Ideen, die an Beliebtheit gewinnen. Jeder Mensch ist entweder selbst zunehmend mit einer unsicheren Lebenssituation konfrontiert oder beobachtet, wie die Welt aus den Fugen gerät. Folglich sucht man sich an den kuriosesten Orten Halt und Sicherheit. Die Rückkehr unter das Dach der Familie ist ein Ausdruck davon. Im Jahr 2015 verzeichnete Österreich zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg der Eheschließungen um 9% auf 44.502. Seit mehreren Jahren sprechen Trendforscher und Wirtschaftskammer von der Rückkehr des Handwerks und der Gartenarbeit: Die „Neo-Biedermeier“ basteln gerne, genießen „Slow Food“, „Slow Fashion“, Craftbeer und wollen im Privaten aufblühen. Das ist die schicke Variante der Selbstoptimierung, die auch unter Jugendlichen immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Die Jungen, so der Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier im „Kurier“ am 31.07.2016, hätten den Glauben an die Gesellschaft verloren. „Sie glauben nicht, dass sie etwas bewirken können, Politik interessiert sie nicht. Das Einzige, was sie selber beeinflussen können, ist das individuelle, private Leben – sei es die Familie, Freunde oder der Körper.“ Ein anschauliches Beispiel dafür liefert der Vergleich der Amazon-Bücherbestsellerlisten. Waren im Jahr 1999 die meistverkauften Bücher noch „Der Weg zur finanziellen Freiheit“ und „Gewinnen mit Aktien“ (heute beides undenkbare Titel), führen in diesem Jahr „Einfach schlank und fit: Mit 120 Rezepten zur Traumfigur“ und „Du kannst schlank sein, wenn du willst: Mit Selbsthypnose zum Wunschgewicht“ die Liste an.

Während herrschenden Institutionen wie Kirche, Staat und Medien mit immer mehr Misstrauen und Verachtung begegnet wird, drückt sich Spiritualität in einem Esoterik-Boom aus, der durchaus auch ein attraktives Berufsfeld ist. Die Wirtschaftskammer Österreich definiert etwa den Beruf des Energetikers folgendermaßen: „Die Ausübung des Berufes als Energetiker umfasst alle Tätigkeiten, die sich auf das wissenschaftlich derzeit noch nicht erfassbare Energiefeld, das alles umgibt und durchdringt, beziehen und schließt jede Form von Lebensenergie, Energielenkung und Energiefluss mit ein.“ In Österreich gibt es über 17.000 gewerbliche EnergetikerInnen, das sind ca. 2000 mehr als noch 2013, und im letzten Jahr fand erstmals eine eigene Energetikermesse statt, in der 3.000 BesucherInnen alles über ihre Energie im „feinstofflichen“ (immateriellen) Bereich erfahren konnten. In den letzten Jahren wuchs auch der Esoterikmarkt in Deutschland, der einschlägige Messen, Wahrsagerei, Astrologie sowie fragwürdige, im weitesten Sinne „therapeutische“ Angebote umfasst, von 10 Mrd. Euro Jahresumsatz im Jahr 2004 (Welt online, 23.05.04) auf 25 Mrd. Euro im Jahr 2011 (Die Welt 16.04.11). Es liegt nahe, für Österreich eine vergleichbare Entwicklung anzunehmen.

Über die kulturellen Folgen der Großen Depression schrieb Trotzki 1933: „Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei.“

Der Rückfall in Irrationalität und Aberglauben ist aber kein Alleinstellungsmerkmal des Faschismus, sondern einer jeden Gesellschaft, die in eine Sackgasse geraten ist. „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“, schrieb Marx 1844 in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Letztendlich ist die Irrationalität im Denken der Menschen der Ausdruck der Irrationalität der Verhältnisse, in denen sie leben. Die Wissenschaft und die Technologie bieten uns alles, was wir für ein schönes Leben brauchen. Die Unsicherheit und Angst beruhen auf der Tatsache, dass die Menschheit unkontrolliert privaten Profitinteressen untergeordnet ist. Wenn wir stattdessen gemeinsam und demokratisch entscheiden, wofür und wie wir arbeiten wollen, dann verschwinden die meisten Probleme, zu deren Bewältigung sich die Menschen in spirituelle Nebelwelten flüchten.


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