Gianis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister, präsentiert sich selbst als „unberechenbaren Marxisten“, was auch von den bürgerlichen Medien aufgegriffen wird. Wir argumentieren dafür, dass es sich bei ihm um einen klassischen Reformisten handelt, der glaubt, dass die Lösung der gegenwärtigen Krise im kapitalistischen System selbst gefunden werden könne. Dafür stand Karl Marx niemals. Von Fred Weston. 

Zu Teil 1

Marx` „Fehler”


Nachdem er erklärt hat, dass er Marx alles, was er von unserer sozialen Welt zu verstehen glaube, verdanke, führt er aus, warum er „furchtbar zornig auf ihn“ und folglich ein „erratischer Marxist“ sei. Varoufakis behauptet dabei, dass Marx „zwei große Irrtümer“ begangen habe: „Einen, indem er etwas ausließ, und einen, den er aktiv betrieb.“

Die erste Kritik an Marx ist seine vermeintlich autoritäre Methode. Dabei wird seine Antwort an John Weston [siehe „Lohn, Preis, Profit“] in der Polemik über Lohnerhöhungen zitiert: Varoufakis sagt, dass „Marx einen unwiderstehlichen Drang hatte, Leute wie Bürger Weston zu zerschmettern, die es wagten, sich zu sorgen, dass eine Lohnerhöhung (durch Streik erzielt) sich als Pyrrhussieg herausstellen könnte, wenn die KapitalistInnen die Preise darauf folgend erhöhen. Anstatt einfach Leute wie Weston nieder zu argumentieren, war Marx entschlossen, mit mathematischer Präzision nachzuweisen, dass sie falsch lagen; unwissenschaftlich, vulgär, echter Aufmerksamkeit unwürdig.”

Varoufakis operiert hier oberflächlich und unehrlich. John Weston war ein Mitglied des Generalrats der Ersten Internationale. Er warf zwei Fragen auf: Können Lohnerhöhungen die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen verbessern? Haben die Kämpfe der Gewerkschaften für Lohnerhöhungen einen schadhaften Effekt auf den Rest der Industrie? Weston verneinte erste und bejahte die zweite Frage.

Anstatt in die Essenz der Polemik zwischen Weston und Marx einzudringen, attackiert Varoufakis Marx für seine vermeintlich autoritäre Methode. Er spart ein kleines Detail aus, und zwar, dass Westons Theorie als ideologische Waffe im Kampf gegen die organisierte Arbeiterbewegung verwendet wurde. Westons Verkennen der Wichtigkeit der Kämpfe um Lohnerhöhungen führen geradewegs zur Ablehnung sämtlichen Kampfes der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. In ihrem Kern spiegelt diese Herangehensweise den Druck der bürgerlichen Denkweise auf die Arbeiterbewegung selbst wider.

Marx widerlegte Weston mit Zahlen und Fakten sowie durch das Aufzeigen historischer Erfahrungen, die belegen, dass es sehr wohl Wachstumsperioden gab, in denen ein Lohnanstieg nicht im geringsten zu einer Preiserhöhung führte. Weston jedoch behauptete fälschlicherweise das Gegenteil. Die Tatsache, dass Varoufakis diese Essenz der Polemik ignoriert und plump auf der „falschen Methode“ von Marx herumreitet, verrät vieles über seine eigene Methode!

Er beschwert sich darüber, dass Marx darin gescheitert sei, „uns eine hinreichende Denkweise zu geben und sich in beharrliches Schweigen hüllte gegenüber den Auswirkungen seines eigenen Theoretisierens über die Welt, über die er theoretisierte […] Er hat schlichtweg nicht die Möglichkeit bedacht, dass die Erschaffung eines Arbeiterstaates den Kapitalismus dazu zwingen würde, zivilisierter zu werden, während der Arbeiterstaat mit dem Virus des Totalitarismus infiziert werden würde, während die Feindseligkeit der restlichen (kapitalistischen) Welt immer weiter wachsen würde.“

Weiter attestiert er, „dass diese Entschlossenheit von Marx die ‚komplette‘, ‚abgeschlossene‘ Geschichte bzw. deren Modell, das ‚letzte Wort‘ gefunden zu haben, etwas ist, dass ich Marx nicht vergeben kann. Das hat sich nach allem als verantwortlich für einen großen Teil des Fehlers gezeigt und, noch viel erheblicher, für den Autoritarismus. Fehler und Autoritarismus, die weitestgehend verantwortlich sind für die momentane Impotenz der Linken als eine Kraft des Guten und als eine Absicherung gegen den Missbrauch von Vernunft und Freiheit, die die neoliberale Bande heutzutage übersieht.“

Obwohl er es nicht so sagt, ist es klar, dass Vaoufakis sich hier auf das Phänomen des Stalinismus und die Degeneration der Sowjetunion bezieht. Nicht ein Wort über die Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, nicht ein Wort über die konkreten Bedingungen, denen sich die Sowjetunion in den 1920er Jahren gegenüber sah, die Rückständigkeit der Wirtschaft und die Isolation der Revolution, die von den Niederlagen der Arbeiterklasse in anderen Ländern herrührt. Nicht ein Wort über die reformistischen Führer der Arbeiterbewegung, die zur Niederlage der ArbeiterInnen Deutschlands, Ungarns, Italiens, Spaniens, Chinas, Großbritanniens usw. in der Zwischenkriegszeit beigetragen haben.

Was hier impliziert wird, ist, dass Marx auf irgendeine Art und Weise für Stalin verantwortlich sei. In dieser Sache geht Varoufakis einen Schritt über die übliche bürgerliche Propaganda hinaus. Bekannt sind Versuche, Lenin für Stalin verantwortlich zu machen, zu erklären, dass Lenins sogenannter „Autoritarismus“ die Entstehung des Stalinismus gefördert habe. Diese Argumentation ergibt eine Kontinuität von Lenin und Stalin. Varoufakis schafft es, diese Logik noch einen Schritt weiterzutreiben, indem die Wurzel des Stalinismus bis zu Marx und seine wissenschaftliche Methode zurückgeführt wird.

Und wo findet Varoufakis Beweise für Marx‘ „Autoritarismus“? Er findet sie in der „Annahme, dass die Wahrheit über den Kapitalismus in der Mathematik seiner Modelle (den sogenannten ‚Reproduktionsschemata‘) gefunden werden könne. Das war der schlimmste Bärendienst, den Marx seinem eigenen theoretischen System hätte erweisen können.“

Das ist ein Versuch, die Marx’sche Methode auf einen rigiden materialistischen Determinismus zu reduzieren, wohingegen Marx eine viel breiter gefächerte Sicht auf das kapitalistische System hatte und es in allen seinen Widersprüchen und Entwicklungsphasen erfasste. Er analysierte dabei verschiedene Arten von Krisen und sah nie einen isolierten Faktor allein als Ursprung aller Krisen an.

Er hob jedoch hervor, dass die fundamentale Ursache für die Krise des Kapitalismus, in letzter Konsequenz, in der Tendenz zur Überproduktion gefunden werden kann. Das ist auch ziemlich genau das, was wir heutzutage in einem globalen Maßstab erleben. Aber warum auf die Essenz von Marx konzentrieren, wenn es für den eigenen Zweck viel nützlicher ist, Marx eine autoritäre Methode nachzusagen, die dann verwendet werden kann, um sich wieder von Marx zu distanzieren?

Nachdem er also Marx‘ „Fehler“ aufgezeigt hat, wendet sich Varoufakis hilfesuchend an Keynes: „Keynes‘ Juwel einer ‚Entdeckung‘ über den Kapitalismus hatte zwei Seiten: (A) Es war ein inhärent unbestimmtes System, gekennzeichnet durch das, was Ökonomen heutzutage als eine Unendlichkeit von multiplen Gleichgewichten bezeichnen würden, von denen einige mit permanenter Massenarbeitslosigkeit beständig waren. (B) Es in Nullkommanichts in eines dieser furchtbaren Gleichgewichte kippen könnte, unvorhersehbar, ohne erkennbaren Grund, nur weil ein signifikanter Teil der KapitalistInnen fürchtet, es könnte so geschehen.

Es ist unfassbar, dass Varoufakis behauptet, dass dieses Konzept das „Juwel“ von Keynes sei. Er reduziert unser Verständnis der ökonomischen Krise auf die subjektiven Launen einzelner Marktakteure. Wenn man sich in dieser Denkweise bewegt, müsste man vermuten, dass eine Krise schlichtweg durch „Mangel an Vertrauen“ provoziert werde. Damit könnte man auch gleich auf alle ökonomischen Theorien verzichten und es stattdessen mit Psychologie allein versuchen!

Varoufakis argumentiert, dass Marx‘ Theorien über den Kapitalismus nur reguläre zyklische Rezessionen beschreiben und daher wertlos seien, wenn man eine Depression wie jene der 1930er Jahre verstehen wolle. Das ist gänzlich falsch, da Marx sein ganzes Werk dem Zweck gewidmet hat, zu zeigen, wie der Kapitalismus zu schwerwiegenden Krisen führt, die ein unvermeidbares Produkt der Akkumulation kleinerer Krisen und des Auftürmens von Widersprüchen sind.

Er stellt also Marx‘ angeblich wertloser Theorie über den Kapitalismus Keynes‘ Konzept der sogenannten „Lebensgeister“ gegenüber, ein Konzept, das die Zuversicht bzw. den Mangel an Zuversicht der einzelnen KapitalistInnen einbezieht. Das soll als besseres Werkzeug dienen, als eine „zutiefst radikale Idee“, die besser funktioniert als Marx‘ Versuch, „seine Theoreme als mathematische, unanfechtbare Beweise zu etablieren.“

Um Marx‘ „Fehler“ ausmachen zu können, muss man also ein bisschen Keynesianismus hinzufügen. Wie Varoufakis feststellt: „Von all den Passagen in Keynes‘ Allgemeiner Theorie ist die von der selbstzerstörerischen Willkür des Kapitalismus die eine, die wir wiederaufgreifen und verwenden müssen, um Marx zu re-radikalisieren.“

Ein „Bescheidener Vorschlag”

Wie lautet nun Varoufakis‘ Vorschlag, Marx zu „re-radikalisieren“? Im Wesentlichen durch ein Fortsetzen von Ausgaben der öffentlichen Hand und Krediten, also keynesianische Politik! In seinem „Bescheidenen Vorschlag“ entwickelt er die Idee von einem „europäischen New Deal“, der laut ihm Fortschritt innerhalb weniger Monate bringen würde.

Sein Kern ist, dass ein wesentlicher Teil der nationalen Schulden der Mitgliedsstaaten der Eurozone von der Europäischen Zentralbank übernommen werden soll. In diesem Szenario würde ihr bei der Etablierung eines „beschränkten Schulden-Umwidmungsprogrammes“ eine große Rolle zuteilwerden. Der „Bescheidene Vorschlag“ sagt dazu Folgendes:

„Der Vertrag von Maastricht begrenzt die Staatsverschuldung eines jeden Mitgliedsstaats auf 60% des Bruttoinlandsprodukts. Seit der Krise von 2008 haben die meisten Länder der Eurozone diese Marke gerissen. Wir schlagen vor, dass die EZB den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer Umschuldung ihrer ‚Maastricht konformen Schulden‘ (MKS) anbietet, wobei die nationalen Anteile der umgewandelten Schulden weiterhin von dem jeweiligen Mitgliedsstaat bedient werden würden.“

In der Praxis würde das für ein Land wie Italien, das Staatsschulden in Höhe von 130% des BIP angesammelt hat, Folgendes bedeuten: 60% der italienischen Staatschuld werden von der EZB gehalten, 70% werden am Markt gehandelt und vom italienischen Staat garantiert. Die EZB aber hat hier einen limitierten Handlungsspielraum, da sie vertraglich gebunden ist, keine nationalen Schulden von souveränen Staaten zu übernehmen. Um diese Problematik zu umgehen, schlägt Varoufakis vor, dass die EZB „zwischen Investoren und Mitgliedsstaaten vermittelt“.

Dadurch kaufe die EZB nicht direkt Schulden auf, bürge jedoch gegenüber den Käufern mittels einer Garantie auf „Kreditanleihenumwandlung“. Und wie genau soll das funktionieren? Er erklärt dazu: „Die Rückfinanzierung des MKS-Anteils der Schulden, jetzt in EZB-Bonds, wäre Sache des einzelnen Mitgliedstaats, aber zu dem von der EZB erhobenen Zinssatz. Für die Anteile der nationalen Schulden, die in EZB-Bonds umgeschuldet wurden, wird die EZB ein Debitkonto eröffnen. Diese können nicht als Sicherheit für Kredite oder Derivate eingesetzt werden. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, Schuldverschreibungen in voller Länge auf Fälligkeit zu tilgen, falls sie sich nicht dafür entscheiden, diese zu niedrigen, sicheren, von der EZB angebotenen Kursen zu erweitern.“

Der ganze Vorschlag ist ein oberflächlich getarnter Versuch, zuzugeben, dass die EZB zwar theoretisch keine Staatsschulden aufkauft, es in der Realität aber doch tun würde. Wir finden dazu folgende Erklärung: „Nehmen wir an, ein Mirgliedstaat hat Schulden in Höhe von 90% des BIP, der Anteil an Schulden der als MKS gilt, beträgt demnach zwei Drittel. Wenn eine Anleihe mit einem Wert von, sagen wir, 1 Milliarde Euro fällig wird, wären zwei Drittel davon (667 Millionen Euro) von der EZB bezahlt (getilgt) mit Geld, das sie (die EZB selbst) sich durch die Ausgabe von EZB-Anleihen auf dem Finanzmärkten beschafft hat.“

Das würde bedeuten, dass die EZB Anleihen ausgeben müsste, um die Schulden der EU-Mitgliedsstaaten zu decken. Egal, wie wir es betrachten, was Varoufakis hier vorschlägt ist, dass die EZB einen großen Teil der nationalen Schulden in der EU übernehmen solle.

Im Jahr 1993 war einer der Co-Autoren von „Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise” Berater des damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors. Er schlug damals vor, einen europäischen Investmentfonds einzurichten. Diese Idee wurde vom Wirtschafts- und Finanzdirektorat der Europäischen Kommission verworfen und, wie der Autor des Dokuments offen gesteht, vom „Widerstand Deutschlands, damals wie heute, gegen EU-Bonds“.

Das ist genau der Knackpunkt. Die EZB gehört den Nationalbanken der Euro-Teilnehmerstaaten. Alle Schulden, die sie aufnimmt, müssen letztendlich mit barem Geld finanziert werden. Das bedeutet, dass es vor allem das deutsche Kapital wäre, das im Fall von Zahlungsschwierigkeiten zur Kassa gebeten würde. Daran kommt man nicht vorbei, obwohl Varoufakis und Co behaupten, dass „Banken, Schulden und Investment-Flows europäisiert werden, ohne, dass die Notwendigkeit von nationalen Sicherheiten oder Finanztransaktionen besteht“. Wie auch immer eine Europäisierung der Staatsschulden in der Eurozone technisch ausgeschmückt wäre, letztlich heißt das, dass Deutschland für die Schulden anderer Länder garantiert und potenziell zahlt.

Das erklärt, warum die deutschen KapitalistInnen nicht so brennend heiß auf Varoufakis‘ Vorschläge sind. Er versucht, sie zu beschwichtigen, indem er klarstellt: „Für den Fall, dass ein Mitgliedsland bankrottgeht, bevor es seine Schulden zurückzahlen kann, sollen die EZB-Bonds durch den ESM abgesichert werden.“ Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) besteht auch aus Geld und Garantien der Mitgliedsstaaten. Angesichts mehrerer drohender Staatsbankrotte wird sich auch hier Deutschland nicht gnädig zeigen.

In ihrem „Bescheidenen Vorschlag“ beziehen sich die Autoren u. a. auch auf das Problem der „Peripheren Ökonomien”, die eine Finanzierung brauchen, um „neue Sektoren aufzubauen, um Annäherung und Zusammenhalt zu unterstützen und um die wachsende Ungleichheit der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone anzugehen“. Die EZB wird hier als eine neutrale Körperschaft portraitiert, die über allen Mitgliedsstaaten der Eurozone steht. Es wird vollkommen ignoriert, dass, sollte die EZB jemals in Zahlungsschwierigkeiten geraten, sie von den wirtschaftlich starken Mitgliedsstaaten in der Eurozone gestützt werden müsste. Das bedeutet im Wesentlichen: Deutschland muss zahlen. Dies erklärt u. a., warum die deutsche Regierung so vehement in Opposition zu allen diesen Vorschlägen steht, mit denen die Tsipras-Regierung bisher aufgewartet hat.

Obwohl Varoufakis für sich beansprucht, ein, wenn auch unberechenbarer, so aber doch ein Marxist zu sein, blendet er die wirkmächtigen Gesetze des kapitalistischen Systems völlig aus.

Marktwettbewerb zwischen privaten ProduzentInnen und das Streben nach maximalen Profiten sind die Triebkräfte des Kapitalismus. In diesem Prozess kommen unvermeidbar einige Kapitalgruppen, und zwar die effizientesten und produktivsten, an die Spitze. Investitionen, um die Produktivität zu erhöhen, um in der Folge besser am Markt konkurrieren zu können, sind dabei eine zentrale Triebfeder.

Die deutsche Industrie ist konkurrenzfähiger, da sie einen höheren technologischen Input hat. Das bedeutet, dass sie andere Industriemächte vom Markt verdrängt. In diesem Prozess häuft Deutschland immer mehr Kapital an und setzt sich an der Spitze ab. Das ist bisher auf Kosten der meisten anderen europäischen Länder geschehen.

Dies erklärt, warum wir im Rahmen der EU ein Deutschland und ein Griechenland haben. Die wettbewerbsfähige deutsche Industrie hat die Industrie Griechenlands und vieler anderer EU-Mitgliedsstaaten ruiniert. Das ist eine unvermeidbare Folge des Wettbewerbs am freien Markt und Ausdruck davon, dass die Produktivkräfte, global gesehen, dem Weltmarkt bereits entwachsen sind. Eine Gruppe von KapitalistInnen kann ihren Markt nur mehr erweitern, indem sie jenen ihrer MitbewerberInnen beschneidet. Wenn Deutschland produktiver und wettbewerbsfähiger ist, wird es höhere Marktanteile erzielen als Länder wie Griechenland, Italien, Portugal oder Spanien.

Zum Ausgleich des großen Ungleichgewichtes schlägt Varoufakis Kapitalumschichtungen von „erfolgreichen” zu „nicht erfolgreichen” Ländern vor. Er entwirft eine „wohlbalancierte Eurozone“, in der „das Handelsbilanzdefizit des einen Mitgliedsstaates von einem Kapitalabfluss zu demselben Mitgliedsstaat finanziert wird“.

Varoufakis sieht das kapitalistische System als eine Art Charity-Organisation, wo es doch nichts anderes als ein anarchisches System des Profitstrebens ist. Seine ökonomischen Theorien sind daher gänzlich utopisch und stimmen nicht damit überein, wie das kapitalistische System tatsächlich funktioniert. Daher hat er keine Lösung für die Krise anzubieten.

Die Nazi-Bedrohung

Varoufakis sieht die Möglichkeit des Auseinanderbrechens der EU und eines Kollapses des Euro, was tatsächlich eine mögliche Variante der weiteren Entwicklung ist. Die einzige Alternative zu seiner Utopie sieht er in der Barbarei, im Aufstieg der Nazis und anderer reaktionärer Kräfte. Die Möglichkeit für die Arbeiterklasse, als ein eigener Machtfaktor aufzutreten, sieht er, wie bereits erwähnt, überhaupt nicht. Als Beispiel dafür dient ihm die Situation in Griechenland.

Die Goldene Morgenröte ist zwar eine faschistische Partei, aber ist ihre Wählerbasis auf ewig verloren? Der Grund, warum sich eine Partei wie die Goldene Morgenröte als parlamentarische Kraft etablieren konnte, ist die tiefe ökonomische und soziale Krise, die Griechenland quält. Ihre UnterstützerInnen glauben fälschlicherweise, dass die FaschistInnen eine Alternative bieten könnten. Aber ein wichtiges Detail ist in der letzten Zeit aufgetaucht. Als es den Anschein gab, dass Tsipras sich gegen die Troika erhebe, offenbarte eine Meinungsumfrage klar, dass 91% der WählerInnen der Goldenen Morgenröte Syrizas Standpunkt unterstützten. Das zeigt, dass es möglich wäre, der Goldenen Morgenröte einen großen Teil ihrer Wählerschaft abspenstig zu machen, aber nur unter der Voraussetzung, dass Syriza standhaft bleibt.

Ohne Zweifel lehnt Varoufakis Gewalt ab, ist für eine friedliche Veränderung und arbeitet daran, einen Kollaps in die Barbarei zu verhindern. Darunter versteht er insbesondere den Verzicht auf revolutionäre Methoden, um den Dialog mit der herrschenden Klasse nicht zu belasten, um ihr die Notwendigkeit der Klassenkollaboration aufzuzeigen. Wann auch immer jedoch diese Methode in der Geschichte angewandt wurde, beschwor sie ausnahmslos immer eine Situation der Enttäuschung der Arbeiterklasse und der Diskreditierung der Linken herauf. Genau das sind die Bedingungen für ein Erstarken der Rechten.

Varoufakis stellt sich gegenüber der historischen Erfahrung taub. Er baut seine Perspektive auf utopischen Luftschlössern. Dabei droht die Geschichte, sich als eine Farce zu wiederholen. Die SYRIZA-Führung ist daher aufgefordert, mit ihrer Denkweise zu brechen und eine ausgeprägte sozialistische Alternative aufzeigen. Sonst wird sie scheitern.

Sind wir bereit?

Varoufakis ignoriert die Tatsache, dass die Alternative existiert. Was in Griechenland getan werden muss, ist Folgendes: Die Schulden einseitig streichen, die Banken verstaatlichen und große Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle und -Verwaltung stellen sowie eine demokratische Planwirtschaft einführen. Der Reichtum, alle nötigen Reformen durchzuführen, existiert bereits; er ist jedoch in den Händen der kapitalistischen Oligarchie!

Was Varoufakis prinzipiell sagt, ist, dass er gerne eine radikale Alternative anbieten würde, aber die ArbeiterInnen für so ein Programm nicht bereit seien. Die Erfahrungen der letzten Zeit beweisen jedoch das exakte Gegenteil. Als die Tsipras-Regierung eine herausfordernde Haltung gegenüber der Troika einzunehmen schien, schossen ihre Umfragewerte durch die Decke. Die angekündigte Umsetzung des Programmes von Thessaloniki schürte Hoffnung in den Massen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren versammelten sich tausende Menschen vor dem Parlament, um die Regierung bei ihrem Vorgehen zu unterstützen. Das starke OXI (NEIN) gegen die Austerität bei der Volksabstimmung vom 5. Juli 2015 widerspricht Varoufakis‘ These ebenfalls.
Genau dann, wenn alle objektiven Bedingungen für einen radikalen Wandel existieren, sagt Varoufakis, dass der Moment nicht der richtige sei. Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Eine kapitalistische Krise bietet die Gelegenheit, eine Alternative aufzuzeigen. Denn dann, wenn der Kapitalismus nicht mehr dazu in der Lage ist, die Bedingungen für eine Verbesserung des Lebensstandards zu schaffen, tendieren die ArbeiterInnen viel eher dazu, einer Partei zuzuhören, die eine sozialistische Alternative anbietet.

Varoufakis‘ „unstete” Art und Weise, ein Marxist zu sein, bedeutet, sich einzelne Aspekte von Marx‘ Werken herauszupicken, jedoch essenzielle Elemente seines Denkens zu ignorieren und in der Praxis völlig unmarxistisch zu agieren. Man hat den Eindruck, er versteckt sich hinter Marx, um von sich selbst das Bild des „Radikalen” zu erschaffen, während er in der Praxis dem Kapital gänzlich zu Füßen liegt.

Marx erklärte im Vorwort zu seiner Schrift „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“

Diese Worte beschreiben genau das, was wir heute erleben. Die in Europa akkumulierten Produktionsmittel rebellieren gegen das Zwangskorsett des Kapitalismus und müssen für eine weitere Entwicklung von diesem befreit werden. Die Möglichkeiten, mit denen diese befreit werden, heißen Klassenkampf und soziale Revolution. In Griechenland haben wir bereits eine „Ära der sozialen Revolution“ erreicht. Was dabei benötigt wird, ist eine politische Führung, die diese Situation erfasst und auch dementsprechend handelt.


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