Genau 25 Jahre nach Tschernobyl erleben wir nun den Super-GAU von Fukushima (Japan). Weltweit hat diese Katastrophe eine Diskussion um Sinn und Nutzen der Kernkraft ausgelöst. Von Emanuel Tomaselli.

In der Bevölkerung herrscht eine breite Skepsis gegenüber dem Einsatz von Kernkraft zur Gewinnung von Energie, da viele Menschen Atomkraftwerke zu Recht für tickende Zeitbomben halten. Dem stehen jedoch die Interessen der mächtigen Atomindustrie entgegen. Doch in dieser Debatte werden auch viel grundsätzlichere Probleme der Energiepolitik aufgeworfen.

Die Grundlage einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft ist die Möglichkeit Energie zu gewinnen und für den Menschen nutzbar zu machen. Ein Mensch in einer industriellen Gesellschaft verbraucht etwa 80 Mal mehr Energie als seine Vorfahren in einer Jäger- und Sammlergesellschaft. Doch der Weltenergieverbrauch ist heute sehr ungleich verteilt. Heute konsumieren 20 Prozent der Weltbevölkerung 70 Prozent der fossilen Brennstoffe, während annähernd 3 Milliarden Menschen vorwiegend nur eigene Körperkraft (also umgesetzte Nahrung), Haustiere, Holz, Holzkohle, Dung oder pflanzliche Reste als Energiebasis zur Verfügung haben. Dementsprechend niedrig ist ihr Lebensstandard. Während EuropäerInnen im Durchschnitt pro Kopf 127 kw/h pro Tag an technisch erzeugter Energie verbrauchen, kommen InderInnen durchschnittlich auf nur 12 kW/h.

Der exponential steigende Weltenergiebedarf wird seit Beginn der industriellen Revolution hauptsächlich aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Die wichtigste Energiequelle ist heute das Erdöl (über 40 Prozent aller verfügbaren Energie wird daraus gewonnen), gefolgt von Kohle und Erdgas. Abgeschlagen sind Wasserkraft, Atomkraft (weniger als 5 % der Weltenergiegewinnung), Brennholz und jene Formen von Energie, die als „alternativ“ bezeichnet werden. Somit basiert über 90 Prozent der Energiegewinnung heute auf dem Verbrauch von fossiler Energie. Noch ein interessantes Detail: Nur 20 Prozent der technischen Energie (also wenn wir Nahrungsmittel nicht in die Weltenergiebilanz miteinberechnen) werden in Form von Strom verbraucht, die meiste Energie wird durch Verbrennung in Motoren, Verhüttung in Hochöfen etc. direkt konsumiert. Von der Weltstromerzeugung wiederum werden ca. 20 Prozent aus erneuerbaren Quellen (Wasser, Biomasse, Wind, Solar) gewonnen – im gesamten Energiemix der Welt macht dies nur 5-10 Prozent aus.

Energie ohne Risiko?

Durch Klimakatastrophe und Unglücke dämmert es der öffentlichen Meinung, dass dieser Ressourcenverbrauch ernsthafte Konsequenzen hat – und tatsächlich müssen wir festhalten: Es gibt keine Energiegewinnung ohne Verbrauch von Ressourcen und immanenten Risiken. Im Bereich der atomaren Stromgewinnung ist dies offensichtlich. Neben Störfällen, bei denen radioaktive Strahlung austritt, haben wir es dabei vor allem mit dem Problem der Lagerung von Atommüll zu tun. Doch bis vor kurzem konzentrierte sich die öffentliche Diskussion noch auf die Auswirkungen der Klimaerwärmung durch den gigantischen CO2-Ausstoß. Es droht ein Ansteigen der Meeresspiegel, die Verschiebung von Klimazonen und die Verwüstung ganzer Regionen. Die Explosion einer einzigen Ölbohrplattform hat den gesamten Golf von Mexico und angrenzende Küsten verseucht, und jährlich sterben Tausende Bergleute in veralteten und schlecht gesicherten Kohleschächten.

Selbst „alternative“ Formen der Energiegewinnung haben ihren Preis: Durch Megakraftwerke werden ganze Regionen geflutet, die Veränderung des Geschiebehaushaltes eines Gewässers hat Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel. Wasser und noch mehr alle anderen alternativen Energieressourcen haben auch den Nachteil, dass sie viel Grundfläche verbrauchen. Der Biokraftstoff-Boom hat die Nahrungsmittelpreise nachhaltig in die Höhe schnellen lassen, weil hier die Herstellung von technischer Energie direkt in Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion getreten ist.

Eine effizientere Form der alternativen Energiegewinnung ist die Gewinnung von Strom aus Sonnenkraft, doch auch hier ist der Ressourceneinsatz groß. Um den Energiebedarf eines Europäers, der bewusst sparsam mit Energie umgeht und so 40 Prozent weniger Energie verbraucht als es der Durchschnitt heute tut, in Form von Solarstrom zu decken, müsste dafür eine Fläche von 150 Quadratmetern verbaut werden – und zwar in der Sahara. Unter den klimatischen Bedingungen Mitteleuropas müsste in etwa die doppelte Fläche unter einem Kraftwerk verschwinden. Auch wenn man davon ausgeht, dass dieser Wert durch technologische Innovation (etwa dem Einsatz von Hybridkollektoren, die Brennwärme und Fotovoltaik miteinander verbinden) noch gesenkt werden kann, sieht man doch, dass auch diese Umsetzung von Energie mit einem gewaltigen Ressourcenverbrauch an Landschaft, Glas, Stahl, Kupfer etc. verbunden ist.

Zusammenfassend müssen wir feststellen: Es gibt heute und in absehbarer Zeit keine technische Energiegewinnung ohne Risiken für Mensch und Umwelt. Es liegt jedoch sehr wohl im Bereich des Machbaren, die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Risiken potenzieren, zu verändern. Konkret heißt dies, dass die ArbeiterInnenbewegung die Logik der privaten Profitmaximierung durchbrechen und einer an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete, von freier wissenschaftlicher Erkenntnis geleitete, auf demokratische Entscheidungen sich basierende Energiegewinnung den Weg ebnen muss.

Der Fall Tepco

Besonders deutlich wurde die verheerende Wirkung der Profitlogik im Fall des japanischen Energieriesen Tepco, der das AKW Fukushima betreibt. Die Liste der Verbrechen dieses Konzerns ist lange:

- das AKW wurde direkt an einer geologischen Bruchstelle gebaut;
- die Erbeben- und Tsunamisicherheit wurde aus Kostengründen zu niedrig dimensioniert;
- es wurde auf die technische Möglichkeit der zweiten und dritten Notfallskühlsysteme aus Kostengründen sowie auf eine ausreichend dimensionierte alternative Stromversorgung der Notfallsanlagen verzichtet;
- aus Kostengründen wurde die Anlage nicht eingehend gewartet;
- anstatt alle Kräfte auf die Verhinderung eines Super-GAUs zu konzentrieren, wurde über Tage versucht das Kraftwerk zu retten;
- es wurde aus Angst vor Industriespionage die Hilfe der Liquidatoren aus Tschernobyl abgelehnt;
- es gab in Japan keinen einzigen Roboter, der zur Unglückstelle vordringen konnte. Ein solcher musste erst aus Frankreich eingeflogen worden. Offensichtlich hat Tepco auch zu normalen Zeiten genügend sogenannte „Wegwerfarbeiter“ (!) zur Verfügung, die die gefährlichsten Jobs machen.
- die Rettungsteams waren nicht mal ausreichend mit Geigerzählern ausgestattet und mussten Tag und Nacht im havarierten AKW zubringen anstatt nach ihrem Einsatz sofort in Sicherheit gebracht zu werden.

Und zu guter Letzt ist es verbrecherisch, Anlagen, die nicht auf dem neuesten Stand der Technik sind, aus Profitinteresse weiter betreiben zu dürfen!

Ein Atomkraftwerk, das seine anfänglichen Investitionskosten hereingespielt hat, ist eine Gelddruckmaschine. Tepco verdiente in Fukushima 1 Mio. € pro Tag. Daher werden ohne Rücksicht auf Risiken weltweit veraltete AKWs weitgeführt, die Wartungszeiten enorm verkürzt etc. In der japanischen Atomindustrie ging dieses Verhalten soweit, dass sogar die sehr atomindustriefreundliche IAEO bei der japanischen Regierung vergeblich intervenierte, um einen den wissenschaftlichen und technischen Kriterien ihrer Organisation entsprechenden Umgang mit den AKWs einzufordern.

Gekaufte Wissenschaft

Die Energieindustrie gilt als die am besten organisierte Lobby der Welt, und die Atomlobby dürfte hier noch einmal die Nase vorne haben. Dies wurde sogar im ORF deutlich, als Wissenschaftler der TU Wien die Öffentlichkeit permanent über die wahre Situation in Fukushima hinters Licht führten und die Katastrophe kleinredeten („teilweise Kernschmelze“ etc.). Dieses Lügen und Vertuschen hat Tradition und ist institutionalisiert: Die WHO etwa befindet sich in einem Assoziierungsabkommen mit der IAEO und darf keine selbstständigen Gutachten über die gesundheitlichen Folgen der Atomkraft veröffentlichen. Der Super-GAU 1986 in Tschernobyl fiel in die Zeit der Öffnung der Sowjetunion. Dies ermöglicht es uns einen kleinen Einblick in das tatsächliche Gefahrenpotential eines atomaren Störfalls dieser Tragweite zu bekommen. Sowjetische Wissenschaftler hatten den politischen Auftrag alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gesundheitsschäden in Folge einer Reaktorkatastrophe offen zu legen. Die Wiener Tschernobyl-Konferenz mit 800 TeilnehmerInnen schob diese Resultate jedoch zur Seite und veröffentlichte in ihrem Schlussbericht, dass die Katastrophe nur 32 Menschenleben und 237 Verletzte gefordert hätte. Die ukrainische Ärztin Natalja Preobraschenskaja ging 1996 von folgenden Zahlen aus: Zur Bekämpfung der Katastrophe seien rund 600.000 „Liquidatoren“ eingesetzt worden, davon sind bis 1996 60.000 gestorben und weitere 49.000 schwer behindert gewesen.

Nach der Schönung der Opferbilanz kam die Konferenz zu dem Schluss, dass Reaktoren ähnlichen Typus nachgerüstet werden müssen, anstatt aufgrund der bewiesenermaßen schweren technologischen Sicherheitsmängel die sofortige Schließung der bereits vor 25 Jahren veralteten Anlagen zu fordern. „Nirgends wird soviel geheuchelt wie auf internationalen Konferenzen“, kommentierte die Süddeutsche Zeitung (26.4.). Weiters lautete der Kommentar, dass der Westen es fälschlicherweise der Nuklearindustrie überlassen habe, über die notwendigen Konsequenzen der Katastrophe nachzudenken. Diese sei nämlich hauptsächlich am Export ihrer Sicherheitstechnik und dem Bau neuer Kernkraftwerke interessiert.

Ausblick

Eine sozialistische Gesellschaft wird alle Ressourcen dafür einsetzen, dass ein Umstieg auf erneuerbare und Ressourcen schonende Energiegewinnung so schnell wie möglich erreicht werden kann. Die Ausgangssituation dafür ist erschreckend dünn, und der Aufwand wird daher gewaltig sein. Ein wichtiger Ansatz wird das Energiesparen sein müssen, denn nur Energie, die nicht verbraucht wird, greift nicht in die Umwelt ein. Energiesparen heißt nicht unbedingt privaten Konsumverzicht sondern in erster Linie die Umstellung der Produktion auf dauerhafte Konsumgüter. Individualverkehr wird zugunsten öffentlichen Verkehrs zurücktreten müssen. Diese Maßnahmen müssen im Weltmaßstab gedacht und errungen werden.


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