Im letzten Teil wurden Grundlagen der Warenproduktion im Kapitalismus erklärt. Jetzt wollen wir zeigen, wie die Produktion dieser Waren durch die ArbeiterInnen die Ausbeutung in unserer Gesellschaft schafft. Von Sandro Tsipouras.
Unter einer bestimmten Bedingung verwandeln sich Geld und Ware in Kapital. Diese Bedingung ist die Spaltung der Gesellschaft in „einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit.“(1)
Das Kapital ist also historisch geknüpft an die Entstehung einer ganzen gesellschaftlichen Klasse. Diese Klasse ist das Proletariat, die ArbeiterInnen. Sie besitzen kein eigenes Kapital, keine Banken und Fabriken und auch keine Aktien, von deren Erlös sie leben könnten und müssen daher ihre eigene Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben. Verkaufen können sie diese an die Bourgeoisie, die Klasse der KapitalbesitzerInnen, der sogenannten „ArbeitgeberInnen“ (ein Ausdruck, der das reale Verhältnis mit unerhörter Dreistigkeit auf den Kopf stellt).
„Der Arbeiter gehört weder einem Eigentümer noch dem Grund und Boden an, aber 8, 10, 12, 15 Stunden seines täglichen Lebens gehören dem, der sie kauft. Der Arbeiter verläßt den Kapitalisten sooft er will ... aber der Arbeiter, dessen einzige Erwerbsquelle der Verkauf der Arbeitskraft ist, kann nicht die ganze Klasse der Käufer, d.h. die Kapitalistenklasse verlassen, ohne auf seine Existenz zu verzichten.“(2)
Die Produktion des Mehrwerts
Das Kapital besteht also aus ebenjenem Geld, jenen „Produktions- und Lebensmitteln“, die es der Bourgeoisie ermöglichen, die Arbeitskraft des Proletariats zu kaufen und so einzusetzen, dass sie ihnen einen Mehrwert bringt. Dabei ist es völlig egal, ob die ArbeiterInnen für die KapitalistInnen Häuser bauen, Stahl kochen, Versicherungen abschließen oder Lebensmittel verkaufen.
Die Bourgeoisie profitiert davon, dass sie Arbeitskraft der ArbeiterInnenklasse kauft und einsetzt, weil die Arbeitskraft als Ware eine besondere Eigenschaft besitzt: Sie schafft mehr Wert, als sie selbst kostet. Der Lohn („das Gehalt“) ist der Preis der Ware Arbeitskraft.
Das ist möglich, indem der Arbeitstag sich im Kapitalismus strenggenommen in zwei Teile teilt. Während des ersten Teils verrichten die ArbeiterInnen notwendige Arbeit – sie schaffen mit ihrer Arbeit so viel Wert, wie es ihrem Lohn entspricht. Sie produzieren Waren, die denselben Wert haben wie ihre Arbeitskraft. Doch während des weiteren Arbeitstags verrichten sie unbezahlte Mehrarbeit. Dabei schaffen sie ein Mehrprodukt.
Das Produkt der notwendigen Arbeit wird vom Kapitalisten auf dem Markt verkauft und mit dem Erlös der Lohn der ArbeiterInnen bezahlt. Das Mehrprodukt wird ebenso auf dem Markt verkauft, doch sein Wert, der Mehrwert, verbleibt beim Kapitalisten: Der Erlös ist sein Profit. Lohnarbeit ist also ein Ausbeutungsverhältnis: Der Mehrwert wird von den KapitalistInnen unentgeltlich angeeignet.
Der Arbeitslohn und die Arbeitslosigkeit
Die Arbeitskraft ist so viel Wert, wie der Wert der zu ihrer Produktion notwendigen Waren – also der Waren, die die ArbeiterInnen zum Leben brauchen – und der Arbeit, die dazu aufgewandt wird, die Arbeitskraft der Menschen Tag für Tag wiederherzustellen und auch dafür zu sorgen, zukünftige ArbeiterInnen aufzuziehen (also Kochen, Putzen, Kindererziehung...). Man bezeichnet diese Arbeit als Reproduktionsarbeit.
Das bedeutet, dass der Arbeitslohn der meisten Menschen gerade dazu ausreicht, ein durchschnittliches Leben zu führen, ohne am Ende des Monats allzuviel übrig zu haben. Durch ihre Organisation und den Klassenkampf kann die ArbeiterInnenklasse den Wert ihrer Arbeitskraft in bestimmten Perioden steigern, indem sie entweder Lohnsteigerungen oder Arbeitszeitverkürzungungen bei vollem Lohnausgleich erkämpft. Die Bedingungen sind dafür vor allem dann günstig, wenn wie etwa in der Nachkriegsperiode die Wirtschaft boomt. In solchen Perioden, wo annähernde Vollbeschäftigung herrscht, hat die ArbeiterInnenklasse starke wirtschaftliche Druckmittel in den Händen, da die Ware Arbeitskraft im Vergleich zur Nachfrage relativ knapp ist.
Die Bourgeoisie braucht also eine Situation, in der der Preis der Arbeitskraft fällt. Das wird dann möglich, wenn es hohe Arbeitslosigkeit gibt. Je mehr Arbeitswillige es gibt, die keinen Job finden, desto größer die Konkurrenz um die bestehenden Arbeitsplätze. Das senkt den Lohn und steigert den Profit. Durch die Konkurrenz um die Arbeitsplätze wird außerdem die wirtschaftliche Kampfkraft der ArbeiterInnenklasse geschwächt. Die Konkurrenz kann so stark werden, dass der Preis der Arbeitskraft unter ihren Wert fällt, das heißt der Lohn nicht mehr zum Leben reicht. Die Folgen sind Massenelend, wie wir gerade in Südeuropa sehen.
Die Arbeitslosigkeit ist deshalb ein untrennbarer Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise. Die Existenz eines Arbeitsmarktes, auf dem sich KäuferInnen und VerkäuferInnen von Arbeitskraft begegnen, bedeutet zwangsweise, dass ein Teil der Gesellschaft arbeitslos bleiben muss.
Kapitalismus und Unterdrückung der Frau
Die Reproduktionsarbeit ist ein entscheidender Faktor im Wertbildungsprozess der Ware Arbeitskraft. Sie wird überduchschnittlich von Frauen verrichtet und ist deswegen untrennbar mit der Unterdrückung der Frau im Kapitalismus verbunden, und zwar in der Weise, dass Hausfrauen und Mütter sehr viel Arbeitskraft in die Reproduktion der Arbeitskraft ihrer Ehegatten und die Produktion neuer Arbeitskräfte (Erziehung von Kindern) stecken. Diese Arbeit ist unbezahlt – dadurch wird die Hausfrau wirtschaftlich abhängig vom Ehemann, der den Lohn heimbringt. Niedrigere Löhne für Frauen erhalten diese Abhängigkeiten selbst dann, wenn die Frauen arbeiten gehen.
In der Vergangenheit wurde durch die Erkämpfung des Sozialstaates in Boomzeiten diese spezielle Form der Ausbeutung abgemildert. Beispiele sind Einrichtungen zur öffentlichen Kindererziehung und zur Pflege der Kranken und Alten. Doch wie die alltägliche Erfahrung zeigt, sind solche Errungenschaften im Kapitalismus auf Sand gebaut und werden von der Bourgeoisie in der Krise als erstes zerschlagen. Die Kürzungen im österreichischen Bildungssystem sind ein Beispiel dafür, die Zerschlagung des Sozialstaates in Griechenland ein sehr eindringliches.
Der Abbau des Sozialstaates durch die bürgerliche Krisenpolitik trifft damit insbesondere arbeitende Mütter besonders hart und macht die vielgepriesene „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ immer schwerer. Die Kindererziehung, Altenpflege usw. muss aber trotzdem geschehen. Frauen werden deswegen tendenziell wieder an den Herd und in die Teilzeitarbeit gedrängt, weil die Männer meist mehr verdienen und ein Auskommen mit einem Gehalt (oder eineinhalb) so oder so extrem schwer ist. Der Kapitalismus (besonders in der Krise) ist also unfähig, die Frauenfrage zu lösen.
Doch der Kapitalismus steht der Befreiung der Frau nicht nur im Weg, er nutzt die Frauenunterdrückung auch direkt für höhere Profite und eigene Märkte aus und verfestigt sie dadurch noch weiter: Ein Paradebeispiel dafür ist die Einführung des Frauenrasierers durch Gilette in den 20er Jahren, aber auch die Produktion von „Mädchen-“ und „Jungenspielzeug“ oder „Frauenzeitschriften“ gehört dazu. Von BIC gibt es sogar ganz gewöhnliche Stifte „for ladies“. All diese Marketingentscheidungen haben natürlich einen nachhaltigen Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen, beispielsweise auf Schönheitsideale.
Das Kapital verfestigt also auf diese Weise Geschlechterrollen und –klischees. Die Tendenz des Kapitals, Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu produzieren, sie gegeneinander auszuspielen und sie so umso besser zu beherrschen, geht bis zur völligen Kommerzialisierung des weiblichen Körpers. Das drückt sich in einer Reihe von Phänomenen aus, die von sexistischer Werbung bis hin zu Flatratebordellen reichen.
Die Legende von der Lohn-Preis-Spirale
Ein weiteres Beispiel dafür, wie jede Errungenschaft der ArbeiterInnenklasse im Kapitalismus nur vorübergehend sein kann, solang dieses System bestehen bleibt, ist die Legende der sogenannten Lohn-Preis-Spirale. Jede Lohnerhöhung, die sich die ArbeiterInnenklasse in der Vergangenheit erkämpft hat, wurde von der Bourgeoisie mit Steuererhöhungen und Preissteigerungen beantwortet.
Die bürgerlichen ÖkonomInnen machen aus dieser Oberflächenerscheinung eine Art Gesetzmäßigkeit. Sie behaupten, Lohnkämpfe seien von Natur aus hoffnungslos, weil notwendigerweise die Errungenschaften der ArbeiterInnen durch steigende Ausgaben wieder aufgehoben würden. Steigende Löhne würden steigende Kosten für die Bourgeoisie bedeuten, der so nichts anderes übrig bleibe, als die Preise zu steigern.
Doch wenn man sich bewusst macht, dass der von den ArbeiterInnen geschaffene Neuwert sich aus zwei Bestandteilen zusammensetzt – dem Wert des Produkts der notwendigen Arbeit (diesen Wert bekommt die ArbeiterIn als Lohn ausgezahlt) und dem Mehrwert (diesen Wert steckt der Kapitalist als Profit ein) – löst sich diese Legende auf. Lohnerhöhungen bedeuten eine Änderung im Verhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit (also unbezahlter Arbeit für den Profit des Kapitalisten). Höhere Löhne bedeuten nicht, dass die Waren mehr Wert erhalten, sondern dass ein geringerer Teil der geleisteten Arbeit dafür verschwendet wird, die Taschen der Kapitalisten zu füllen.
Deswegen sind Preissteigerungen infolge von Lohnerhöhungen abstrakt gesehen ökonomisch unbegründet. Die Kapitalisten erhöhen einfach die Preise der Waren über ihren Wert, um trotz der Lohnerhöhung gleich viel Profit einstecken zu können. Doch dies tun sie nicht etwa aus individueller Profitgier, sondern aufgrund der Konkurrenz im Kapitalismus und der anarchischen Produktion. Eine Senkung des Profits in einem Bereich bedeutet, dass Kapital abgezogen und in anderen Bereichen oder Ländern investiert werden würde, wo mehr Profit abzugreifen ist. Wie dies genau funktioniert, werden wir in einem der nächsten Teile dieser Reihe genau behandeln.
Der Grund dafür, dass den ArbeiterInnen mit der einen Hand weggenommen wird, was mit der anderen gegeben wird, ist also nicht eine „Naturnotwendigkeit“, wie die Bürgerlichen behaupten. Es ist aber auch nicht die Gier der individuellen KapitalistInnen, die diese Gier nur ablegen müssten, damit ein besseres Leben für uns alle möglich wäre.
Der Grund liegt viel mehr in der Funktionsweise des kapitalistischen Systems selbst, das eine Jagd nach maximalen Profiten erzwingt. Der einzige Weg diesen Teufelskreis dauerhaft zu durchbrechen ist also die Enteignung der KapitalbesitzerInnen und die gemeinschaftliche Produktion zum Zweck der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse.
(1) Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 23, S. 742
(2) Friedrich, Engels / Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 6, S. 401
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