Die starke Teuerung wird immer spürbarer. Die herkömmliche Lohnpolitik der Gewerkschaften erweist sich angesichts der hohen Inflation als ungenügendes Mittel zur Sicherung des Lebensstandards.
In der Frühjahrslohnrunde geht es traditionell um die Kollektivvertragsabschlüsse einiger wichtiger Industriesektoren (Elektro, Chemie, Papier), wo über 120.000 Beschäftigte arbeiten. Die Ausgangslage war heuer alles andere als einfach, schnellte die Inflationsrate seit Jahresbeginn doch auf Rekordwerte, wie sie die heutige Generation von ArbeiterInnen noch nicht gesehen hat. Alle Prognosen gehen davon aus, dass diese Teuerung nicht nur lange anhalten wird, sondern ein Ausmaß annehmen kann, das unsere kühnsten Vorstellungen übersteigt.
Die Gewerkschaften gingen mit der Forderung nach 6% Lohnerhöhung in die Verhandlungen, die sich als äußerst schwierig erwiesen. Erst durch Betriebsversammlungen und die Androhung von Warnstreiks kam Bewegung in die Sache. Den ersten Abschluss brachte kurz vor dem 1. Mai dann mit 4,9 Prozent (IST-Löhne +4,75 bzw. einem Mindestbetrag von 120 € plus) gerade die schwächste der drei Branchen, die Papierindustrie. Wenig überraschend folgten bald darauf Abschlüsse für den Chemie-KV und die Elektro- und Elektronikindustrie mit ähnlichen Ergebnissen.
Die Gewerkschaft feierte sich mit den Worten: „Außerordentlich gute Erhöhungen stärken die Kaufkraft“. Angesichts der tatsächlichen Teuerungsrate, die von der offiziellen Inflationsrate ohnedies nur unzureichend abgebildet wird, ist das aber fast schon ein Hohn. In letzter Zeit gab es mehrere Berichte, die den stärksten Reallohnverlust seit 1955 vorhersagen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) geht von einem Minus von 2,3 Prozent aus für dieses Jahr. Die Realität ist aber angesichts der Preisentwicklung beim Wocheneinkauf und bei den Energiepreisen noch viel schlimmer. Steuerreform und sonstige staatliche Maßnahmen zum Teuerungsausgleich federn diesen Verlust nur unzureichend ab. Dabei brachte schon letztes Jahr die Lohnrunde einen Reallohnverlust. Vertröstet werden wir auf eine leichte Besserung im kommenden Jahr.
Mit einer Lohnpolitik, die die kapitalistische Standortlogik zur heiligen Kuh ernennt, werden wir unter den heutigen Bedingungen unseren Lebensstandard nicht sichern können. Das Problem ist aber, dass diese Lohnpolitik in den Gewerkschaften unhinterfragt ist. „Der Abschluss ist eine Katastrophe“, hat uns ein junger Chemiearbeiter aus Wien geschrieben. „Und die meisten Kollegen sehen das auch so.“ Es zeigt die unterschiedliche Realität der Gewerkschaftsbürokratie und der ArbeiterInnen in den Betrieben, die schön langsam nicht mehr wissen, wo sie zuerst sparen sollen. Aber dieser Unmut findet in den Gewerkschaften noch kaum einen Ausdruck, die traditionell sehr zentralistische Gewerkschaftsstruktur schirmt die Bürokratie gut von der Basis in den Betrieben ab. Betonung auf „noch“.
Die alte Routine führt unter diesen neuen Bedingungen zu nichts. Im Frühjahr haben wir gesehen, wie mehrere Sektoren gleichzeitig für bessere Bedingungen gekämpft haben. Die Gewerkschaft hat aber nichts unternommen, um diese Kämpfe zusammenzuführen und ihnen so eine größere Schlagkraft zu geben. Dass es nun erste Pläne gibt, branchenübergreifend Betriebsräte zu einer Konferenz zu bringen, um die Herbstlohnrunde und den Kampf gegen die Teuerung zu diskutieren, ist positiv. Es zeigt, dass die Einsicht reift und die Stimmen in der Gewerkschaftsbewegung lauter werden, dass man nicht so weitermachen kann wie bisher.
Ändern wird sich nur etwas, wenn aus den Betrieben organisierter Druck entsteht, der sich auf Betriebsratskonferenzen lautstark und mit einem klaren Gegenkonzept zur Strategie der Führung artikuliert und einen Kurswechsel in der gewerkschaftlichen Lohnpolitik durchzusetzen vermag. Die Unterschriftenaktion für eine 10%-Lohnerhöhung in einer Vorarlberger Metallfabrik zeigt, wie sich dieser Druck in den kommenden Monaten entfalten kann.
Angesichts der hohen Teuerung braucht es eigentlich den Kampf für einen Generalkollektivvertrag, der die Sicherung des Lebensstandards zum Ziel haben muss. Abschlüsse unter der aktuellen Inflationsrate sind nicht akzeptabel. Vielmehr braucht es angesichts der drohenden Entwicklung eine automatische Anpassung der Löhne an die Inflationsrate auf monatlicher Basis. Eine derartige „gleitende Lohnskala“ konnte die Arbeiterbewegung einst in mehreren Ländern erkämpfen. Sie ist das beste Instrument gegen Reallohnverluste.
Die ÖGB-Spitze scheut vor den dafür nötigen Kämpfen zurück. Sie hofft, durch eine Neuauflage der „Sozialpartnerschaft“ auf politischer Ebene eine Lösung für das Problem der Teuerung durchsetzen zu können. Dabei denkt sie aber nur an befristete Streichungen bei der Mehrwertsteuer, einen vom Staat bezahlten Teuerungsausgleich usw. Das Ausmaß der Krise macht in der Tat politische Lösungen notwendig. Das Programm der Gewerkschaften ist aber auch auf dieser Ebene völlig unzureichend. Zentrale Bedeutung muss die Wiedereinführung von gesetzlichen Preisobergrenzen für Grundnahrungsmittel, Mieten und Energie und die Überführung von Schlüsselsektoren wie der Energiewirtschaft in öffentliches Eigentum unter Kontrolle der Gewerkschaften und der Beschäftigten sein.
(Funke Nr. 204/31.5.2022)