In Deutschland wird in letzter Zeit viel gestreikt. Über die Streiks und ihre Hintergründe dieser Entwicklung berichten Tamara Belyus und Willy Hämmerle.
In Deutschland wird in letzter Zeit viel gestreikt. Nach Streiks bei der Post und einzelnen Streikaktionen im Sozial-, Gesundheits- und Erziehungsbereich riefen die beiden Gewerkschaften ver.di (Dienstleistungen) und EVG (Eisenbahn) im Transport- und Verkehrssektor zu einem gemeinsamen Warnstreik am 27. März auf. Das ist kein Wunder: Wirtschaftskrise, massive Teuerung in allen Bereichen und die Reallohneinbußen der letzten Jahre setzen der gesamten Arbeiterklasse zu und befeuern einen tief sitzenden Zorn, der sich mit der üblichen sozialpartnerschaftlichen Routine der Gewerkschaften und schlechten Abschlüssen nicht mehr befriedigen lässt.
In den laufenden Tarifverhandlungen (österr.: KV-Verhandlungen) fordert die ver.di für die 2,5 Millionen ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst daher eine Lohnerhöhung von mindestens 10,5%, zumindest aber 500 Euro im Monat. Die Eisenbahnergewerkschaft EVG verhandelt zeitgleich mit den ca. 50 Bahnunternehmen (v.a. aber mit der Deutschen Bahn, DB) und besteht auf 12% Lohnerhöhung, bzw. mind. 650 Euro mehr im Monat.
Die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeber (VKA) und die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) provozierten mit einem lächerlichen Angebot von 5% mehr Lohn, sowie 2500 Euro an Einmalzahlungen. Was sie von den Forderungen der ArbeiterInnen halten, ist deutlich. So bezeichnet Karin Welge, SPD-Bürgermeisterin und Verhandlungsführerin der VKA das Verhalten der Gewerkschaften als „fragwürdig“ und warnt sie davor, ihre „demokratischen Rechte, wie das Streikrecht, nicht übermäßig auszureizen.“
Unter dem wachsenden Druck der Belegschaften sahen sich die Gewerkschaftsspitzen gezwungen, endlich großflächige Kampfmaßnahmen zu ergreifen und beschlossen, zwei traditionell getrennte Verhandlungsrunden in eine gemeinsame Streikbewegung zu vereinen. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorne und zeigt an, worin die Stärke der ArbeiterInnen besteht: im gemeinsamen Kampf. Dieser wäre eigentlich überall angelegt.
Dem Aufruf zum „Mega-Streik“ am 27.3. folgten etwa 155.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, des Fern- und Nahverkehrs, der Autobahnen, der Häfen und Flughäfen. Das deutsche Transportsystem stand für einen Tag still. Ein Höhepunkt einer sich über Wochen ansteigenden Welle von Arbeitskämpfen! Bereits in den vorhergehenden Wochen fand eine Vielzahl von vereinzelten Warnstreiks statt: Arbeitsniederlegungen von Beschäftigen der European Airline Transport Leipzig GmbH, in den Nordseehäfen, am Uniklinikum Dresden, bei den Verkehrsbetrieben Niedersachsen oder den Sozial- und Erziehungsdiensten sind nur einige Beispiele. Die Streikenden zeigen sich jedenfalls kämpferisch. So äußert sich etwa Hartmut Meyer, Mitglied des Seniorenverbands der IG Metall, bei einer Kundgebung in Berlin: „Ich hab mir heute extra feste Schuhe angezogen. Damit möchte ich den Unternehmen richtig in den Hintern treten.“
Schlichtung
Nach dem Streik scheiterte am 30. März auch die dritte Verhandlungsrunde zwischen ver.di, Bund und VKA. Die Arbeitgeberseite rief daraufhin zu einer sogenannten Schlichtung auf – eine „unabhängige Kommission“, bestehend aus Vertretern beider Seiten, soll einen Vorschlag erarbeiten über den dann beide Seiten erneut verhandeln sollen. Dem Aufruf zur Schlichtung nachzukommen ist für ver.di obligatorisch: so sieht es die seit 2011 bestehende Schlichtungsvereinbarung vor. Der Charakter dieser Vereinbarung ist typisch sozialpartnerschaftlich und ein Sicherheitsventil, um Kämpfe von der betrieblichen Ebene zurück in die Verhandlungsräume zu holen.
Diese Kommission hat nun einen neuen Tarifvorschlag für die öffentlich Bediensteten ausgearbeitet, der nach wie vor weit unter den bisherigen Forderungen liegt. Als „Inflationsausgleich“ soll es wieder nur gestaffelte Einmalzahlungen in der Höhe von 3000 Euro geben, erst im März 2024 sollen die Gehälter dann zuerst um mindestens 200 Euro und +5.5% steigen. Lehrlinge und Praktikanten sollen nur die Hälfte erhalten. Für den Erhalt des Lebensstandards der ArbeiterInnen ist das viel zu wenig, angesichts der weiterhin grassierenden Inflation bedeutet dieses „Angebot“ einen deutlichen Reallohnverlust. Weiters sieht der Vorschlag eine zweijährige Laufzeit vor, was den KollegInnen die Möglichkeit erschwert, im nächsten Jahr für reale Verbesserungen zu kämpfen. Das Management der Deutsche Bahn schloss sich diesem Vermittlungsvorschlag unmittelbar an.
Verkehrsbeschäftigte machen weiter
Die Verkehrsgewerkschaft EVG lehnt diesen „Kompromiss“ sofort klar ab. „Wir haben der DB AG schon mehrfach erklärt, dass wir nicht für den Öffentlichen Dienst verhandeln, sondern in erster Linie für die Beschäftigten bei Bus und Bahn. Insofern ist die jetzt vorliegende Schlichtungsempfehlung für uns völlig irrelevant und keine Grundlage für unsere Verhandlungen“, so EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch – er wolle weiterhin für die 12% Lohnerhöhung kämpfen. Zwischen 3 und 11 Uhr stand der Fern- und Regionalverkehr wieder still, außerdem waren Flughäfen betroffen. Ver.di hingegen verzichtete auf weitere Kampfmaßnahmen und schloss am 23. April einen neuen Tarif auf Basis der Schlichtungsvereinbarung ab.
Die EVG geht in die richtige Richtung: denn die Unternehmerseite machte – nach dem Mega-Streik! – unmissverständlich klar, dass die Forderungen der Gewerkschaften für sie inakzeptabel sind. Die EVG organisierte also einen neuen Kampftag am 21. April. Der Streik war grundsolide, aber im Vergleich zum Streik vom 27.3. war er auch ein Schritt zurück: er war kürzer angelegt und umfasst nur noch eine der beiden kämpfenden Branchen.
Der Mega-Streik sprengte die Vorurteile der fortwährenden Trägheit der deutschen Arbeiter und spülte die angestaute Wut der letzten Jahre an die Oberfläche. Dieser Streik sollte nicht das Ende, sondern der Anfang weiterer Kämpfe sein: Es braucht keine Vereinzelung, sondern eine Ausweitung der Bewegung!
Die deutsche Bourgeoisie ist bereit, die Arbeiter im Namen des Profits und ihrer imperialistischen Interessen ausbluten zu lassen. Während für die Beschäftigten scheinbar kein Geld da ist, ist es kein Problem, Abermilliarden für Aufrüstung und den Ukrainekrieg zu finden. Scholz nennt es eine Zeitenwende. Die Arbeiterklasse braucht ihre eigene Zeitenwende, um ihre Interessen durchzusetzen: Schluss mit der sozialpartnerschaftlichen Stellvertreterlogik, und der Unterordnung unter die Bürgerlichen! Der Mega-Streik hat bewiesen, dass sich ohne die Arbeiterklasse kein Rad dreht, aber er ist nur das Vorspiel für viel heftigere Klassenkämpfe – für eine Vollmobilisierung der kämpfenden Branchen und einen gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen!
(Funke Nr. 213/24.4.2023)